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Das folgende – im Rahmen der BGR-Veranstaltungsreihe "Arbeiten lassen" (siehe CEE IEH #84) – in kurzen Auszügen dokumentierte Pamphlet ist vor allem als eines zu begreifen: als Polemik gegen die Arbeit. Sehr großzügig muß man über all die rassistischen, patriachalen und romatizistischen Vorstellungen hinweglesen, die es zu keinem sehr reflektierten Werk – nicht einmal seiner Zeit – machen. Die Arbeitskritik bleibt an der Oberfläche, es findet sich keine Analyse des Selbstzweckcharakters der kapitalistischen Ökonomie, keine des Zwanges dieser Verhältnisse. Ja, die Arbeit soll nicht einmal abgeschafft, sondern lediglich minimiert werden. Trotz dieser Mängel hat die Polemik einen Vorzug, die sie auch heute noch beachtenswert erscheinen lässt. Sie stellt sich gegen ihre eigene Tradition. Es gibt wohl keinen anderen Text der kommunistischen Bewegung, der mit solcher Schärfe mit der Arbeit und vor allem mit der Identifizierung des Proletariats mit ihr abrechnet.

Das Recht auf Faulheit (1883)
Widerlegung des ‘Rechts auf Arbeit’ (1848)

von Paul Lafargue

I. Ein verderbliches Dogma
    Laßt um faul in allen Sachen,
    Nur nicht faul zu Lieb’ und Wein,
    Nur nicht faul zur Faulheit sein.

    (Lessing)
Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht. Diese Sucht, die Einzel- und Massenelend zur Folge hat, quält die traurige Menschheit seit zwei Jahrhunderten. Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen. Blinde und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe, haben sie das, Arbeiten lassen, 17.6k was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht. Ich, der ich weder Christ noch Ökonom, noch Moralist zu sein behaupte, ich appelliere von ihrem Spruch an den ihres Gottes, von den Vorschriften ihrer religiösen, ökonomischen oder freidenkerischen Moral an die schauerlichen Konsequenzen der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft.
In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung. Man vergleiche die von einer ganzen Schar zweihändiger Knechte bedienten Vollblutpferde in den Ställen eines Rothschild mit den schwerfälligen normannischen Gäulen, welche das Land beackern, den Mistwagen ziehen und die Ernte einfahren müssen. Man betrachte den stolzen Wilden, wenn ihn die Missionare des Handels und die Handlungsreisenden in Glaubensartikeln noch nicht durch Christentum, Syphilis und das Dogma von der Arbeit korrumpiert haben, und dann vergleiche man mit ihnen unsere abgerackerten Maschinensklaven.
Will man in unserem zivilisierten Europa noch eine Spur der ursprünglichen Schönheit des Menschen finden, so muß man zu den Nationen gehen, bei denen das ökonomische Vorurteil den Haß wider die Arbeit noch nicht ausgerottet hat. Spanien, das jetzt allerdings auch aus der Art schlägt, darf sich noch rühmen, weniger Fabriken zu besitzen als wir Gefängnisse und Kasernen; aber des Künstlers Auge weilt bewundernd auf dem kühnen, kastanienbraunen, gleich Stahl elastischen Andalusier; und unser Herz schlägt höher, wenn wir den in seiner durchlöcherten Capa majestätisch drapierten Bettler einen Herzog von Ossuna mit amigo traktieren hören. Für den Spanier, in dem das ursprüngliche Tier noch nicht ertötet ist, ist die Arbeit die schlimmste Sklaverei. Auch die Griechen hatten in der Zeit ihrer höchsten Blüte nur Verachtung für die Arbeit; den Sklaven allein war es gestattet zu arbeiten, der freie Mann kannte nur körperliche Übungen und Spiele des Geistes. Das war die Zeit eines Aristoteles, eines Phidias, eines Aristophanes, die Zeit, da eine Handvoll Tapferer bei Marathon die Horden Asiens vernichtete, welches Alexander bald darauf eroberte. Die Philosophen des Altertums lehrten die Verachtung der Arbeit, diese Herabwürdigung des freien Mannes; die Dichter besangen die Faulheit, dieses Geschenk der Götter. ...
Christus lehrt in der Bergpredigt die Faulheit: „Sehet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht, und doch sage ich Euch, daß Salomo in all seiner Pracht nicht herrlicher gekleidet war.“
Jehovah, der bärtige und sauertöpfische Gott, gibt seinen Verehrern das erhabenste Beispiel idealer Faulheit: nach sechs Tagen Arbeit ruht er auf alle Ewigkeit aus.
Welches sind dagegen die Rassen, denen die Arbeit ein organisches Bedürfnis ist? Die Auvergnaten; die Schotten, diese Auvergnaten der Britischen Inseln; die Galizier, diese Auvergnaten Spaniens; die Pommern, diese Auvergnaten Deutschlands; die Chinesen, diese Auvergnaten Asiens. Welches sind in unserer Gesellschaft die Klassen, welche die Arbeit um der Arbeit willen lieben? Die Kleinbauern und Kleinbürger, welche, die einen auf ihren Acker gebückt, die andern in ihren Butiken vergraben, dem Maulwurf gleichen, der in seiner Höhle herumwühlt, und sich nie aufrichten, um mit Muße die Natur zu betrachten.
Und auch das Proletariat, die große Klasse der Produzenten aller zivilisierten Nationen, die Klasse, die durch ihre Emanzipation die Menschheit von der knechtischen Arbeit erlösen und aus dem menschlichen Tier ein freies Wesen machen wird, auch das Proletariat hat sich, seine Instinkte verleugnend und seinen historischen Beruf verkennend, von dem Dogma der Arbeit verführen lassen. Hart und schrecklich war seine Züchtigung. Alles individuelle und soziale Elend entstammt seiner Leidenschaft für die Arbeit.

II Der Segen der Arbeit

Im Jahre 1770 erschien in London eine anonyme Schrift, betitelt: An essay on trade and commerce, die zu ihrer Zeit ein gewisses Aufsehen machte. Ihr Verfasser, ein großer Philanthrop, erboste sich darüber, daß „der englische Manufakturpöbel es sich in den Kopf gesetzt, daß ihm als Engländer durch das Recht der Geburt das Privileg zukomme, freier und unabhängiger zu sein als das Arbeitervolk in irgendeinem andren Lande von Europa. Nun, diese Idee, soweit sie auf die Tapferkeit unserer Soldaten einwirkt, mag von einigem Nutzen sein; aber je weniger die Manufakturarbeiter davon haben, desto besser für sie selbst und für den Staat. Arbeiter sollten sich nie für unabhängig von ihren Vorgesetzten halten... Es ist außerordentlich gefährlich, Mobs in einem kommerziellen Staat, wie dem unsrigen, zu ermutigen, wo vielleicht sieben Teile von den acht der Gesamtbevölkerung Leute mit wenig oder keinem Eigentum sind... Die Kur wird nicht vollständig sein, bis unsre industriellen Armen sich bescheiden, sechs Tage für dieselbe Summe zu arbeiten, die sie nun in vier Tagen verdienen.“
So predigte man bereits hundert Jahre vor Guizot die Arbeit als einen Zügel für die edlen menschlichen Leidenschaften.
„Je mehr meine Völker arbeiten, um so weniger Laster wird es geben“, schrieb Napoleon am 5. Mai 1807 aus Osterode. „Ich bin die Autorität,... und ich wäre geneigt zu verfügen, daß sonntags nach vollzogenem Gottesdienst die Geschäfte wieder geöffnet werden und die Arbeiter wieder ihrer Beschäftigung nachgehen sollen.“
Um die Faulheit auszurotten und um den Stolz und Unabhängigkeitssinn zu beugen, schlug der Verfasser des Essay on trade vor, die Armen in ideale Arbeitshäuser (ideal workhouses) einzusperren, die „Häuser des Schreckens sein müßten, in denen man 14 Stunden pro Tag in der Weise arbeiten sollte, daß nach Abzug der Mahlzeiten volle 12 Arbeitsstunden übrigbleiben“.
12 Arbeitsstunden pro Tag, das Ideal der Philanthropen und Moralisten des 18. Jahrhunderts. Wie weit sind wir über dieses Nonplusultra hinaus! Die modernen Werkstätten sind ideale Zuchthäuser geworden, in welche man die Arbeitermassen einsperrt, und in denen man nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen und Kinder zu zwölf- und vierzehnstündiger Zwangsarbeit verdammt! Und die Nachkommen der Schreckenshelden haben sich durch die Religion der Arbeit so weit degradieren lassen, daß sie 1848 das Gesetz, welches die Arbeit in den Fabriken auf 12 Stunden täglich beschränkte, als eine revolutionäre Errungenschaft entgegennahmen; sie proklamierten das Recht auf Arbeit als ein revolutionäres Prinzip. Schande über das französische Proletariat! Sklaven nur sind einer solchen Erniedrigung fähig. 20 Jahre kapitalistischer Zivilisation müßte man aufwenden, um einem Griechen der heroischen Zeit eine solche Entwürdigung begreiflich zu machen!
Und wenn die Leiden der Zwangsarbeit über das Proletariat hereingebrochen sind, zahlreicher als die Heuschrecken der Bibel, so ist es dieses selbst gewesen, das sie heraufbeschworen.
Dieselbe Arbeit, welche die Proletarier im Juni 1848 mit den Waffen in der Hand forderten, haben sie ihrer Familie auferlegt; sie haben ihre Frauen, ihre Kinder den Fabrikbaronen ausgeliefert. Mit eigener Hand haben sie ihre häuslichen Herde zerstört, mit eigener Hand die Brüste ihrer Frauen trocken gelegt. Schwangere und stillende Frauen ließen sie in die Fabriken, in die Bergwerke gehen, wo dieselben ihre Nerven zerrütteten, ihr Rückgrat marterten; mit eigener Hand haben sie das Leben und die Kraft ihrer Kinder untergraben. - Schande über Euch, Proletarier! Wo sind jene Gevatterinnen hin mit keckem Mundwerk, frischem Humor und der Liebe zum göttlichen Wein, von denen unsere alten Märchen und Erzählungen berichten? Wo sind die Übermütigen hin, die stets herumtrippelnd, stets anbändelnd, stets singend, Leben säend, wenn sie sich dem Genusse hingaben, ohne Schmerzen gesunde und kräftige Junge zur Welt brachten? Heute haben wir Frauen und Mädchen aus der Fabrik, verkümmerte Blumen mit blassen Teint, mit Blut ohne Röte, mit krankem Magen und erschöpften Gliedmaßen! Ein gesundes Vergnügen haben sie nie kennengelernt und sie werden nicht lustig zu erzählen wissen, wie man sie eroberte. Und die Kinder? 12 Stunden Arbeit für die Kinder. O Elend! Alle Jules Simon von der Akademie der moralischen Wissenschaften, alle jesuitischen Germinys hätten kein den Geist der Kinder mehr verdummendes, ihr Gemüt mehr verderbendes, ihren Organismus mehr zerrüttendes Laster ersinnen können als die Arbeit in der verpesteten Atmosphäre der kapitalistischen Werkstätten.
Unser Jahrhundert wird das Jahrhundert der Arbeit genannt; tatsächlich ist es das Jahrhundert der Schmerzen, des Elends und der Verderbnis.
Und doch haben die bürgerlichen Ökonomen und Philosophen, von dem peinlich konfusen Auguste Comte bis zum lächerlich klaren Leroy-Beaulieu, die bürgerlichen Schriftsteller, von dem scharlatanhaft romantischen Victor Hugo bis zum naiv albernen Paul de Kock, samt und sonders ekelerregende Loblieder auf den Gott Fortschritt, den ältesten Sohn der Arbeit, angestimmt. Hört man sie, so meint man, das Glück müsse auf Erden herrschen, so sehr fühlt man schon seine Nähe. Sie durchwanderten die Jahrhunderte der früheren Zeiten, um den Staub und das Elend des Feudalismus zu durchwühlen und die Sonne der Gegenwart desto heller erstrahlen zu lassen. ... Nun, wir wollen ihnen das glänzende Bild der proletarischen Genüsse im kapitalistischen Fortschrittsjahre 1840 zeigen, wie es von einem der ihrigen geschildert wird, dem Dr. Villermé, Mitglied des Instituts, der 1848 zu jenem Kreis von Gelehrten gehörte, die den Massen die Plattheiten der Ökonomie und der bürgerlichen Moral beizubringen suchten.
Es ist das gewerblich entwickelte Elsaß, von dem der Dr. Villermé spricht, das Elsaß der Kastrier und Dollfus, dieser Blüten der Philanthropie und des industriellen Republikanismus. Aber bevor der Doktor das Bild des proletarischen Elends vor uns ausbreitet, wollen wir erst hören, wie ein elsässischer Manufakturist, Herr Th. Mieg vom Hause Dollfus, Mieg und Cie., die Lage des Handwerkers unter dem alten Gewerbesystem beschreibt:
„Vor 50 Jahren (1813, als die moderne Maschinenindustrie im Entstehen begriffen war), waren in Mülhausen alle Arbeiter Kinder des Landes, sie bewohnten die Stadt und die umliegenden Dörfer und hatten fast jeder ein Häuschen und oft ein Stückchen Land.“
Das war das goldene Zeitalter des Arbeiters. Indes damals hatte die elsässische Industrie noch nicht die Weit mit ihren Kattunen überschwemmt und ihre Dollfus und Köchlin noch nicht zu Millionären gemacht. Aber 25 Jahre später, als Villermé das Elsaß besuchte, hatte der moderne Minotauros, die kapitalistische Fabrik, bereits das Land erobert; in seiner Gier nach menschlicher Arbeit hatte er die Arbeiter aus ihrem Heim gerissen, um sie besser zu schinden, ihnen besser die Arbeit, die sie enthielten, auspressen zu können. Zu Tausenden liefen die Arbeiter dem Pfeifen der Maschine nach.
„Eine große Zahl“, sagt Villermé, „fünftausend von siebzehntausend, waren infolge der teueren Mieten gezwungen, in den Nachbardörfern Wohnung zu nehmen. Einige wohnten 2 1/4 Wegstunden von der Fabrik entfernt, wo sie arbeiteten.“
„In Mülhausen, in Dornach, begann die Arbeit um fünf Uhr morgens und endete um acht Uhr abends, Sommer wie Winter... Man muß sie jeden Morgen in die Stadt kommen und jeden Abend abmarschieren sehen. Es gibt unter ihnen eine Menge bleicher, magerer Frauen, die barfüßig durch den Schmutz laufen und, wenn es regnet oder schneit, mangels eines Regenschirms ihre Schürzen oder Unterröcke über den Kopf ziehen, um Hals und Gesicht zu schützen; und eine noch erheblichere Zahl nicht minder schmutziger und abgezehrter junger Kinder, in Lumpen gehüllt, die ganz fettig sind von dem Öl, das aus den Maschinen auf sie herabtropft, wenn sie arbeiten. Diese Kinder, welche die Undurchdringlichkeit ihrer Bekleidung besser vor dem Regen schützt, haben nicht einmal wie die Frauen einen Korb mit Lebensmitteln für den Tag im Arm, sondern sie tragen in der Hand oder verstecken unter ihrem Kittel oder wo sie sonst können, das Stück Brot, das sie ernähren muß, bis sie wieder nach Hause zurückkehren.“ ...
Und mit Bezug auf die Arbeitsdauer bemerkt Villermé, daß die Sträflinge in den Bagnos nur 10 Stunden, die Sklaven auf den Antillen nur 9 Stunden durchschnittlich arbeiteten, während in Frankreich, das die Revolution von 1789 gemacht, das die pomphaften Menschenrechte proklamiert hat, es Manufakturen gibt, wo der Arbeitstag 16 Stunden dauert, von denen den Arbeitern 1 1/2 Stunden Eßpausen bewilligt werden.
O über diese jämmerliche Fehlgeburt der revolutionären Prinzipien der Bourgeoisie, über die kläglichen Geschenke ihres Götzen Fortschritt! Die Philanthropen nennen diejenigen, die, um sich auf leichte Art zu bereichern, den Armen Arbeit geben, Wohltäter der Menschheit - es wäre besser, man säte die Pest, man vergiftete die Brunnen, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung eine Fabrik zu errichten. Führe die Fabrikarbeit ein, und adieu Freude, Gesundheit, Freiheit – adieu alles, was das Leben schön, was es wert macht, gelebt zu werden.
Die Nationalökonomen werden nicht müde, den Arbeitern zuzurufen: Arbeitet, damit der Nationalreichtum wachse! Und doch war es einer der ihrigen, Destutt de Tracy, der da sagte: „Die armen Nationen sind es, wo das Volk sich wohlbefindet; bei den reichen Nationen ist es gewöhnlich arm:“
Und sein Schüler Cherbulliez setzt hinzu: „Indem die Arbeiter zur Anhäufung produktiver Kapitalien mitwirken, fördern sie selbst den Faktor, der sie früher oder später eines Teils ihres Lohnes berauben wird.“
Aber von ihrem eigenen Gekrächz betäubt und idiotisiert, erwidern die Ökonomen: Arbeitet, arbeitet, um eurer Wohlfahrt willen! Und im Namen der christlichen Milde predigt ein Pfaffe der anglikanischen Kirche, der Reverend Townsend: Arbeitet, arbeitet Tag und Nacht; indem ihr arbeitet, vermehrt ihr eure Leiden, und euer Elend enthebt uns der Aufgabe, euch gesetzlich zur Arbeit zu zwingen. Der gesetzliche Arbeitszwang macht „zu viel Mühe, fordert zu viel Gewalt und erregt zu viel Aufregung; der Hunger ist dagegen nicht nur ein friedlicher, geräuschloser, unermüdlicher Antreiber, er bewirkt auch, als die natürlichste Veranlassung zu Arbeit und Fleiß, die gewaltigste Anstrengung.“
Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den Nationalreichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, arbeitet, um, immer ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion.
Dadurch, daß die Arbeiter den trügerischen Redensarten der Ökonomen Glauben schenken und Leib und Seele dem Laster Arbeit ausliefern, stürzen sie die ganze Gesellschaft in jene industriellen Krisen der Überproduktion, die den gesellschaftlichen Organismus in krankhafte Zuckungen versetzen. Dann werden wegen Überfluß an Waren und Mangel an Abnehmern die Werke geschlossen, und mit tausendsträhniger Geißel peitscht der Hunger die arbeitende Bevölkerung. Betört von dem Dogma der Arbeit sehen die Proletarier nicht ein, daß die Mehrarbeit, der sie sich in der angeblich guten Geschäftszeit unterzogen haben, die Ursache ihres jetzigen Elends ist, und anstatt vor die Getreidespeicher zu marschieren und zu schreien: „Wir haben Hunger, wir wollen essen!” ...
Bis hierher war meine Aufgabe leicht; ich hatte nur wirkliche, uns allen leider nur zu gut bekannte Übel zu schildern. Aber das Proletariat zu überzeugen, daß die Parole, die man ihm eingeimpft hat, pervers ist, daß die zügellose Arbeit, der es sich seit Beginn des Jahrhunderts ergeben hat, die schrecklichste Geißel ist, welche je die Menschheit getroffen, daß die Arbeit erst dann eine Würze der Vergnügungen der Faulheit, eine dem menschlichen Organismus nützliche Übung, eine dem gesellschaftlichen Organismus nützliche Leidenschaft sein wird, wenn sie weise reglementiert und auf ein Maximum von drei Stunden täglich beschränkt wird - das ist eine schwierige Aufgabe, die meine Kräfte übersteigt. Nur Physiologen, Hygieniker und kommunistische Ökonomen können sie unternehmen. In den nachfolgenden Zeilen werde ich mich auf den Nachweis beschränken, daß angesichts der modernen Produktionsmittel und ihrer unbegrenzten Vervielfältigungsmöglichkeit die übertriebene Leidenschaft der Arbeiter für die Arbeit matt gesetzt und es ihnen zur Pflicht gemacht werden muß, die Waren, die sie produzieren, auch zu verbrauchen.

III Was aus der Überproduktion folgt

Ein griechischer Dichter aus der Zeit Ciceros, Antipatros, besang die Erfindung der Wassermühle (zum Mahlen des Getreides) als Befreierin der Sklavinnen und Errichterin des goldenen Zeitalters:
„Schonet der mahlenden Hand, o Müllerinnen, und schlafet sanft! Es verkündet der Hahn euch den Morgen umsonst! Däo hat die Arbeit der Mädchen den Nymphen befohlen, und itzt hüpfen sie leicht über die Räder dahin, daß die erschütterten Achsen mit ihren Speichen sich wälzen, und im Kreise die Last drehen des wälzenden Steins. Laßt uns leben das Leben der Väter, und laßt uns der Gaben arbeitslos uns freun, welche die Göttin uns schenkt.“
Ach die Zeit der Muße, die der heidnische Dichter verkündete, ist nicht gekommen; die blinde, wahnsinnige und menschenmörderische Arbeitssucht hat die Maschine aus einem Befreiungsinstrument in ein Instrument zur Knechtung freier Menschen umgewandelt: die Produktionskraft der Maschine verarmt die Menschen.
Eine gute Arbeiterin verfertigt auf dem Handklöppel gerade fünf Maschen in der Minute; gewisse Klöppelmaschinen fertigen in derselben Zeit dreißigtausend. Jede Minute der Maschine ist somit gleich hundert Arbeitsstunden der Arbeiterin, oder vielmehr, jede Minute Maschinenarbeit ermöglicht der Arbeiterin zehn Tage Ruhe. Was für die Spitzenindustrie gilt, trifft mehr oder minder für alle durch die moderne Mechanik umgestalteten Industrien zu. Was sehen wir aber? Je mehr sich die Maschine vervollkommnet und mit beständig verbesserter Schnelligkeit und Präzision die menschliche Arbeit verdrängt, verdoppelt der Arbeiter, anstatt seine Ruhe entsprechend zu vermehren, noch seine Anstrengungen, als wollte er mit den Maschinen wetteifern. O törichte und mörderische Konkurrenz! ...
Und doch, trotz aller Überproduktion, trotz Warenfälschung überfluten die Arbeiter in immer wachsender Menge den Markt und rufen flehentlich: Arbeit! Arbeit! Ihre übergroße Zahl sollte sie veranlassen, ihre Leidenschaft zu zügeln — statt dessen treibt sie sie zur Raserei. Wo sich nur Aussicht auf Arbeit bietet, darauf stürzen sie sich. Sie arbeiten 12,14 Stunden, um sich nur so recht abschinden zu können; und tags darauf liegen sie wieder auf dem Pflaster und wissen nicht, wie ihre Arbeitssucht befriedigen. Jahr für Jahr treten in allen Industrien mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten Stockungen ein; auf die für den Organismus mörderische Überarbeit folgt für zwei bis vier Monate absolute Ruhe, und - keine Arbeit, kein Bissen. Wenn denn nun das Arbeitslaster im Herzen der Arbeiter teuflisch eingewurzelt ist, wenn es denn alle anderen natürlichen Instinkte erstickt, und wenn andererseits die von der Gesellschaft erforderte Arbeitsmenge notwendigerweise durch den Konsum und die Menge des Rohmaterials begrenzt ist, warum in sechs Monaten die Arbeit des ganzen Jahres verschlingen? Warum sie nicht lieber gleichmäßig auf die zwölf Monate verteilen, und jeden Arbeiter zwingen, sich das Jahr über täglich mit sechs oder fünf Stunden zu begnügen, anstatt sich während sechs Monaten mit täglich 12 Stunden den Magen zu verderben? Wenn ihnen ihr täglicher Arbeitsanteil gesichert ist, werden die Arbeiter nicht mehr miteinander eifersüchteln, sich nicht mehr die Arbeit aus der Hand und das Brot vom Mund wegreißen; dann werden sie, nicht mehr an Leib und Seele erschöpft, anfangen, die Tugenden der Faulheit zu üben. ...
Was das durch die Moralisten versimpelte Volk nicht gewagt hat, hat eine aristokratische Regierung gewagt. Unbekümmert um die hochmoralischen und wirtschaftlichen Einwände der Ökonomen, die gleich Unglücksraben krächzten, daß die Fabrikarbeit um eine Stunde herabsetzen den Ruin der englischen Industrie dekretieren hieße, hat die englische Regierung die zehnstündige Arbeitszeit gesetzlich eingeführt; und nach wie vor ist England das erste Industrieland der Welt.
Die große Erfahrung Englands liegt vor, die Erfahrung einiger intelligenter Kapitalisten liegt vor: sie beweisen unwiderleglich, daß, um die menschliche Produktion zu steigern, man die Arbeitszeit herabsetzen und die Zahl der bezahlten Feiertage vermehren muß, und das französische Volk sieht es immer noch nicht ein. Aber wenn eine jämmerliche Verkürzung um zwei Stunden die englische Produktion um ein Drittel in zehn Jahren erhöht hat, welchen schwindelnden Vormarsch würde eine gesetzliche Verringerung des Arbeitstages auf drei Stunden für die französische Produktion bedeuten? Können die Arbeiter denn nicht begreifen, daß dadurch, daß sie sich mit Arbeit überbürden, sie ihre und ihrer Nachkommenschaft Kräfte erschöpfen, daß sie, abgenutzt, vorzeitig arbeitsunfähig werden, daß sie, aufgesogen und abgestumpft von einem einzigen Laster, nicht mehr Menschen sind, sondern menschliche Wracks, daß sie alle schönen Anlagen in sich ertöten, nur um der rasenden Arbeitssucht willen?
Ach, wie arkadische Papageien plappern sie die Lektionen der Ökonomen nach: „Arbeiten wir, arbeiten wir, um den Nationalreichtum zu vermehren!“ O ihr Idioten! Weil ihr zuviel arbeitet, entwickelt sich die industrielle Technik zu langsam. Laßt euer Geschrei und hört einen Ökonomen – es ist kein großes Licht, es ist nur Herr L. Reybaud, den wir glücklicherweise vor einigen Monaten verloren haben:
„Im allgemeinen richtet sich die Revolution in den Arbeitsmethoden nach den Bedingungen der Arbeitskräfte. Solange die Arbeitskräfte ihre Dienste billig anbieten, wendet man sie im Übermaße an; werden sie teurer, so sucht man sie zu sparen.“
Um die Kapitalisten zu zwingen, ihre Maschinen von Holz und Eisen zu vervollkommnen, muß man die Löhne der Maschinen von Fleisch und Bein erhöhen und die Arbeitszeit derselben verringern. Beweise dafür? Man kann sie zu hunderten erbringen. In der Spinnerei wurde die automatische Spinnmaschine (selfacting mule) in Manchester erfunden und angewendet, weil die Spinner sich weigerten, solange zu arbeiten wie früher.
In Amerika bemächtigt sich die Maschine aller Zweige der Agrarproduktion, von der Butterfabrikation bis zum Getreidejäten. Warum? Weil die Amerikaner, frei und faul, lieber tausend Tode sterben möchten, als das Viehleben eines französischen Bauern zu führen. Die im glorreichen Frankreich so mühsame, mit so vielem Bücken verbundene Landarbeit ist im Westen Amerikas ein angenehmer Zeitvertreib in freier Luft, den man sitzend genießt und dabei gemächlich seine Pfeife raucht.

IV Ein neues Lied, ein besseres Lied

Wenn die Herabsetzung der Arbeitszeit der gesellschaftlichen Produktion neue mechanische Kräfte zuführt, so wird die Verpflichtung der Arbeiter, ihre Produkte auch zu verzehren, eine enorme Vermehrung der Arbeitskräfte zur Folge haben. Die von ihrer Mission, Allerweltskonsument zu sein, erlöste Bourgeoisie wird nämlich schleunigst die Menge von Soldaten, Beamten, Dienern, Kupplern usw., die sie der nützlichen Arbeit entzogen hatte, damit sie ihr Konsumieren und Vergeuden helfen, freigeben – das heißt dem Arbeitsmarkt. Dieser wird, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte ihm zugeführt werden, so überfüllt sein, daß man ein ehernes Gesetz haben muß, das die Arbeit verbietet; es wird unmöglich sein, für diesen Schwarm bisher unproduktiver Menschen Verwendung zu finden, denn sie sind zahlreicher als die Heuschrecken. ...
Noch mehr. Um für alle unproduktiven Kräfte der heutigen Gesellschaft Arbeit zu finden, und die immer weitere Vervollkommnung der Arbeitsmittel zu fördern, wird die Arbeiterklasse ihrem Hang zur Enthaltsamkeit, gleich der Bourgeoisie, Gewalt antun und ihre Konsumfähigkeiten unbegrenzt steigern müssen. Anstatt täglich ein oder zwei Unzen zähes Fleisch zu essen, wenn sie überhaupt welches ißt, wird sie saftige Beefsteaks von ein oder zwei Pfund essen; statt bescheiden einen schlechten Wein zu trinken, katholischer als der Papst, wird sie aus großen, bis an den Rand gefüllten Gläsern Bordeaux und Burgunder trinken, der keiner industriellen Taufe unterzogen ist, und das Wasser dem Vieh überlassen.
Die Proletarier haben sich in den Kopf gesetzt, den Kapitalisten zehn Stunden Schmiede oder Raffinerie aufzuerlegen – das ist der große Fehler, die Ursache der sozialen Gegensätze und der Bürgerkriege. Nicht auferlegen, verbieten muß man die Arbeit. Den Rothschilds, den Says wird erlaubt werden, den Beweis zu liefern, daß sie ihr ganzes Leben lang vollkommene Nichtstuer gewesen sind; und wenn sie versprechen, trotz des allgemeinen Zuges zur Arbeit, als vollkommene Nichtstuer fortzufahren, werden sie auf die Rechnung gesetzt und jeden Morgen ein 20-Francstück für ihre kleinen Vergnügungen erhalten. Die gesellschaftliche Zwietracht verschwindet. Einmal überzeugt, daß man ihnen durchaus nichts Übles antun, sondern sie nur von der Arbeit, Überkonsumenten und Verschleuderer sein zu müssen, befreien will, werden die Kapitalisten und Rentiers die ersten sein, die sich zur Partei des Volkes schlagen. ...
Wenn die Arbeiterklasse sich das Laster, welches sie beherrscht und ihre Natur herabwürdigt, gründlich aus dem Kopf schlagen und sich in ihrer furchtbaren Kraft erheben wird, nicht um die famosen Menschenrechte zu verlangen, die nur die Rechte der kapitalistischen Ausbeutung sind, nicht um das Recht auf Arbeit zu fordern, das nur das Recht auf Elend ist, sondern um ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jederman verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, so wird die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Inneren eine neue Welt sich regen fühlen... aber wie soll man von einem durch die kapitalistische Moral korrumpierten Proletariat einen männlichen Entschluß verlangen!
Wie Christus, die leidende Verkörperung der Sklaverei des Altertums, erklimmt unser Proletariat, Männer, Frauen und Kinder, seit einem Jahrhundert den rauhen Kalvarienberg der Leiden; seit einem Jahrhundert bricht Zwangsarbeit ihre Knochen, martert ihr Fleisch, zerrütet ihre Nerven; seit einem Jahrhundert quält Hunger ihren Magen und verdummt ihr Gehirn....
O Faulheit, erbarme Du Dich des unendlichen Elends!
O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!

Anhang

... Der Traum des Aristoteles ist heute Wirklichkeit geworden. Unsere Maschinen verrichten feurigen Atems, mit stählernen, unermüdlichen Gliedern, mit wunderbarer, unerschöpflicher Zeugungskraft, gelehrig und von selbst ihre heilige Arbeit; und doch bleibt der Geist der großen Philosophen des Kapitalismus nach wie vor beherrscht vom Vorurteil des Lohnsystems, der schlimmsten aller Sklavereien. Sie begreifen noch nicht, daß die Maschine der Erlöser der Menschheit ist, der Gott, der den Menschen von den sordidae artes und der Lohnarbeit loskaufen, der Gott, der ihnen Muße und Freiheit bringen wird.

Anmerkungen

Der vollständige Text (mit den Anmerkungen) findet sich u.A. auf folgenden Webseiten:
http://www.sopos.org/aufsaetze/3b0bf233eb8e3/1.phtml
http://www.wildcat-www.de/material/m003lafa.htm

Weitere Informationen zur Veranstaltungsreihe:

www.left-action.de/arbeit
 



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last modified: 28.3.2007