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Befreiendes Abdanken.

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Die „Sterbehilfe“ kommt voran. Zwei jüngere Erfolge gilt es zu resümieren.

Bedürfnisse fallen nicht vom Himmel, sondern sind Ausdruck einer entsprechenden Diskursabhängigkeit. Diese Abhängigkeit ist keine Frage des Bewußtseins. In ihr spiegelt sich jedoch die Fähigkeit zur individuellen Reflexion wider. Wenn der Mensch als „Ensemble der sozialen Verhältnisse“ (Karl Marx) gedenkt, seiner eigenen gesellschaftlichen Nützlichkeit auf die Schliche zu kommen, so hat das unter der Bedingung, daß die Totalität der Warengesellschaft nicht zum Hauptgegenstand der Kritik wird, die verinnerlichte Anpassungsfähigkeit zur Folge. Im Einklang mit Administration und Politik fügt sich das Individuum bedenkenlos ein. Kritik erfolgt so nur noch auf der Basis eines gleichgeschalteten Bedürfnisses, die den Automatismus des Nützlichkeitsdenkens nur noch weiter vorantreibt.

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„Herren über Leben und Tod“

Als wohl derzeit ekelhaftestes Ergebnis dieses gesellschaftlichen Mechanismus kann wohl die irrationale Hysterie wegen mutmaßlichem oder tatsächlichem pädophilen Verhaltens gelten.
Das ausgeprägte individuelle Verlangen, den Tod anderer zu fordern, wenn sich die Einzelmeinung in angenommen moralisch abgesicherter Weise äußert, hat sich über die Jahre des Fortschreitens des sogenannten wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf die eigenen Haut und Knochen erweitert. Die ethischen Vorstellungen haben sich mit der Zeit dahinghend verändert, daß der Mensch das zunehmende Verlangen
(1) Diese Pflicht zum Leben ist in der konnotierten Formulierung des Autors nicht in eins zu setzen mit dem Lebensschutz gegen Abtreibung.
verspürt, im voraus über Maßnahmen zu bestimmen, die sein eigenes Lebensende betreffen. Dabei kippt langsam die Vorstellung von der Pflicht zum ausschließlichen Recht auf Leben.(1) Die sich dabei automatisch offenbarende Differenz zwischen der Verpflichtung, am Leben zu bleiben und dem Verständnis eines Selbstbestimmungsrechtes über das Leben, wird dahingehend kanalisiert, daß Mitleid als Zeichen für moralisches Denken und Handeln nicht mehr den Erhalt des Lebens voraussetzt, sondern vielmehr das schnelle „befreiende“ Abdanken. Die ethische Kategorie dabei ist ausschließlich utilitär – also auf den Nutzen bezogen – geprägt. Diese Grundlage nahm auch das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt/Main im Juli diesen Jahres in Anspruch, als es im Falle einer 85jährgen Koma-Patientin entschied, daß die Frau verhungern dürfe, insofern sie damit „mutmaßlich“ einverstanden sei. In der Begründung des Urteils erkannte das OLG, daß es sich nicht um Sterbehilfe handele, sondern vielmehr es um eine Güterabwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Patientin und der Verpflichtung zum Lebensschutz ginge.
Seit diesem Urteil gibt es eine Inflation sogenannter Patientenverfügungen, die von potentiellen oder tatsächlichen Patienten erlassen worden sind. In diesen Verfügungen ist von den Menschen selbst festgelgt, was mit ihnen im Falle einer schweren Krankheit, eines Unfalles oder ähnliches zu passieren hat.
Nur ein paar Wochen später präsentierte die Bundesärztekammer (BÄK) ihre „Richtlinien zur Sterbehilfe“. Formal haben diese den Charakter einer Empfehlung für die rund 350.000 deutschen Ärzte. Verbindlich wird die Direktive, sobald ihr Inhalt in die Berufsordnung der Landesärztekammern übernommen wird. Das Papier geriet unmittelbar nach seiner Veröffentlichung in die Kritik. Einige wenige Bundestagabgeordnete und Hospizverbände forderten die Bundesärztekammer auf, das Papier nicht wie geplant zu beschließen, da es „die ärztliche Herbeiführung des Todes bei Patienten rechtfertigt, die gar nicht im Sterben liegen“. Die Hospizinitiative Bocholt äußerte sich wie folgt: „Unsere Sorge ist, daß fremddefinierte ‘qualvolle Zustände’, ‘allgemeingültig’, übertragbar, normiert werden, so daß bald Gesellschaft, Ethik, Religion und vor allem Finanzen über Leben und Sterben bestimmen. (...) Es bleibt das Dilemma zwischen Anspruch auf Selbstbestimmung und Fremdbestimmung.“ Durch die Richtlinie der BÄK, kommentierte die Zeitschrift BioSkop, würden andere „zu Herren über Leben und Tod“. Das Sterben aber, so die Zeitschrift weiter, „wie auch das gesellschaftliche Sein, sind eine Frage des ‘tätigen Lebens’ – individuell, sozial, politisch“.
Der Vorsitzende der BÄK, der Jenaer Medizinprofessor Eggert Beleites, rechfertigt die BÄK-Richtlinie mit der „Änderung der Rechtsprechung in der Bundesrepublik“ und beruft sich dabei auf das „Kemptener Urteil“ des Bundesgerichtshofes von 1994 und den „Sterbehilfe“-Beschluß des OLG Frankfurt vom Juli diesen Jahres.
Tatsache ist: Politiker und Richter nehmen die Papiere der Ärzteschaft sehr ernst. Nicht vergessen werden darf, daß der überwiegende Teil der „Sterbehilfe“-Befürworter in der Medizin zu den Befürwortern gentechnisch- und reproduktionsmedizinischer Verfahren gehört. Daher gilt es immer wieder zu betonen, was Oliver Tolmein feststellte: „Tatsächlich geht es also nicht um die Selbstbestimmung im Sterben, sondern um die Verschiebung der Behandlungs-Standarts“. Das Ganze geht Hand in Hand mit der Verschiebung der ethischen Werte der Gesellschaft, wobei letztendlich die Frage im Mittelpunkt steht, wann und in welcher Situation der Mensch aus dem Leben zu verschwinden habe. Die völlige Durchrationalisierung des Nützlichkeitswahns soll dabei auf die Spitze getrieben werden, um die „Wettbewerbsfähigkeit“ des Individuums mittels medizinisch gepushter und kosmetisch geschönter Leistungskraft ins Unermeßliche steigern zu können – zum Wohle des Profits, ohne den der Kapitalismus zu Grunde gehen würde. Der ärztliche Direktor der Schmieder-Kliniken in Allensbach am Bodensee brachte es gegenüber der Zeit affirmativ auf den Punkt: „Mit Komapatienten verhalte es sich wie mit einem Auto – ‘wenn es nicht gepflegt wird, fährt es nicht mehr’“. Ralf

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last modified: 28.3.2007