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Henryk Swiebocki (Hg.)

»London wurde informiert...«

Berichte von Auschwitz-Flüchtlingen.

Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Oswiecim, 1997.

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Berichte über Aschwitz

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Mit ihren Aufzeichnungen enthüllten Auschwitzflüchtlinge zum ersten Mal die Wahrheit über das größte Vernichtungslager.

Die Flucht aus dem Vernichtungslager Auschwitz war mit ungeheuren Schwierigkeiten verbunden. Die vier Meter hohen Stacheldrahtzäune um das Lager standen unter Hochspannung, wagten es dennoch Häftlinge auch nur annähernd in ihre Richtung zu gehen, wurde von den Wachtürmen der SS das Feuer eröffnet. Das Lager wurde von einem riesigen Isolationsstreifen umschlossen. Auf einer Fläche von vierzig Quadratkilometern, dem sogenannten „Interessengebiet des Konzentrationslagers Auschwitz“, lebten nur noch wenige Menschen, da die ansässige polnische Bevölkerung vertrieben wurde. Auch dieser Bereich stand unter der ständigen Kontrolle der SS. In unmittelbarer Nähe des Lagers gab es nur die Siedlungen der deutschen Bewacher und ihrer Familien, von denen mit Sicherheit bei einer Flucht keine Hilfe zu erwarten war. Die Höfe, die an das Interessengebiet grenzten, wurden mit Volksdeutschen aus der Ukraine, der Walachei und anderen Landstrichen besiedelt. Die Loyalität dieser Deutschen gehörte ebenfalls voll und ganz Führer und Vaterland, begünstigte also keinesfalls die Fluchtumstände.
Trotzdem versuchten viele Häftlinge – vom Eintreffen des ersten Transportes im Juni 1940 bis zur Evakuierung im Januar 1945 – zu flüchten. Nur von 144 Flüchtlingen weiß man, das die Flucht gelang.
Jerzy Tabeau entkam am 19. November 1943. Rudolf Vrba und Alfred Wetzler flohen gemeinsam am 7. April 1944. Czeslaw Mordowitz und Arnost Rosin gelangten am 27. Mai 1944 in die Freiheit. Kurz nach ihrer Flucht begannen die Genannten ihre Erfahrungen und Beobachtungen zu notieren. Sowohl der polnische Widerstand und die Exilregierung in London als auch die Allierten und jüdische Organisationen sollten Zeugnis von den Greultaten der Deutschen erhalten.
Einen besonderen Impuls, die Vorbereitungen für die Flucht zu beschleunigen und die Wahrheit über Auschwitz nach Außen zu tragen, gab es für Rudolf Vrba und Alfred Wetzler. Im März 1944 wurden die Arbeiten an der neuen Rampe in Auschwitz-Birkenau abgeschlossen. Die SS-Mannschaften redeten immer öfter von ungarischer Salami, die beiden
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Henryk Swiebocki (Hg.): London wurde informiert... Berichte von Auschwitz-Flüchtlingen. Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Oswiecim, 1997. (Im deutschen Buchhandel nicht lieferbar. Bei Interesse an den Verlag wenden.)
Häftlinge schlossen daraus, daß die Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden bevorstand. Angesichts dieser Lage entschlossen sich Vrba und Wetzler die Flucht so schnell wie möglich durchzuführen. Die ungarischen Juden sollten gewarnt werden. Falls sie es bis jetzt noch nicht glauben wollten, mußten sie darüber aufgeklärt werden, daß die Züge sie nicht zum Arbeitseinsatz in den Osten, sondern zur Vernichtung nach Auschwitz transportieren werden.
Der von Vrba und Wetzler verfaßte Bericht, schildert nicht nur den grausamen Alltag der Häftlinge, die durch Arbeit und Hunger ermordet werden, sondern beschreibt erstmals die Ausmaße der Vergasungen in Auschwitz. Die Abhandlung endet mit der Aufzählung der im Zeitraum April 1942 bis April 1944 in den Gaskammern von Birkenau ermordeten Juden.
„... Anfang März 1943 kamen 45.000 Juden aus Saloniki. 10.000 von ihnen kamen in das Lager, außerdem ein kleiner Teil von Frauen, der Rest – weit über 30000 – in das Krematorium. Fast alle 10.000 aus diesen Transporten starben kurz darauf entweder durch eine malariaähnliche Krankheit, die unter ihnen gewütet hat und scheinbar ansteckend war, ferner Flecktyphus, oder zufolge der allgemein im Lager herrschenden Bedingungen, die sie nicht ertragen konnten...“
Schon die im Stil der zitierten Passage über mehrere Seiten fortdauernde Dokumentation der deutschen Verbrechen übersteigt die Grenzen des Verstandes. Es ist kaum vorstellbar, wie die ersten Leser des Berichtes auf die Ansammlung grausiger Fakten reagiert haben. Zweifelten sie an ihrer Seriosität? Meinten Sie, der dokumentarische Stil verweise auf eine Finte? Hofften sie darauf, daß die veröffentlichten Zahlen übertrieben waren, daß selbst die verhaßten Deutschen solch Barbarei nicht anrichten könnten?
Der Vrba/Wetzler-Bericht konfrontierte nicht nur die Allierten, die polnische Exilregierung, sondern eben auch die Leitung des Rates der ungarischen Juden mit der Wahrheit, die so unglaublich schien. Weil der Rat der ungarischen Juden aber an eine Verhandlungslösung mit den Deutschen glaubte, hielt er den Bericht zurück. In Großbritannien und den USA mehrten sich nach Bekanntwerden des Berichtes indes die Stimmen, welche die Bombardierung der Gaskammern und der Gleise, die nach Auschwitz führten, forderten. Churchill und Roosvelt sprachen sich persönlich für eine solche Maßnahme aus, um den Massenmord wenigstens zu unterbrechen.
Die Kriegsministerien der Alliierten sollten jedoch alle Anforderungen, die in dieser Hinsicht kamen, ablehnen. Mit militärischen Argumentationen wurde die Durchführbarkeit abgestritten. Heute weiß man, daß die Ministerien befürchteten, Ressourcen, die für die alltäglichen Kampfhandlungen eingeplant waren, für „Rettungsmaßnahmen zu verschwenden“. Nicht unberechtigt rechtfertigten sich die Militärinstitutionen damit, daß erst das Ende des Krieges auch das Morden in den Konzentrationslagern beendet.
Letztendlich verweist die Beschränktheit dieser Rechtfertigung jedoch darauf, daß damals trotz der Berichte von Flüchtlingen, Auschwitz noch nicht für die Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen stand. Diejenigen, die darüber berichteten, beschrieben etwas noch nie dagewesenes. Trotz aller Fakten hatte die Welt noch keinen Begriff vom Ausmaß und von der Bedeutung der Vernichtung im Lager.

Der Verlag des staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau veröffentlichte 1991 erstmals die drei Berichte in Buchform. Er hat sich dabei für diese drei entschieden, weil sie während des Krieges den Allierten bekannt waren und in der Weltöffentlichkeit einen gewissen Widerhall erfahren haben. Ergänzt wird die Dokumentation durch einen einleitenden Aufsatz des Herausgebers, Henryk Swiebocki (und durch ausführliche Anmerkungen sowie Reprints von Dokumenten).
Nicht nur der Titel „London wurde informiert“, sondern ebenso der Aufsatz des Herausgebers verweist auf die Debatte um die Zurückhaltung der Allierten. Detailgenau wird hier die Wirkungsgeschichte auch anderer Flüchtlingsberichte beschrieben und der Irrglaube, die Allierten hätten nichts von den Vernichtungslagern gewußt – dem eigentlich schon lange niemand mehr anhängt – widerlegt. Zweifelsohne interessant, passt dieser Teil, der immerhin fast ein Drittel des Buches ausmacht, zwar zum Buchtitel, nicht so richtig aber zur ungekürzten Dokumentation der Flüchtlingsberichte.
Jene zu lesen, sollte eher aus dem Interesse geschehen, sich annähernd eine Vorstellung von dem machen zu wollen, was in Auschwitz passiert ist. Was dachten sich die deutschen Bewacher aus, um zu quälen und zu töten? Was hieß Vernichtung durch Arbeit? Wie gelang es den Nazis, so viele tausend Menschen (über 150.000 Gefangene lebten zeitweise in Haupt- und Nebenlagern von Auschwitz) mit nur wenig SS-Leuten an der Flucht und größeren Aufständen zu hindern?
Neben einigen Tagebüchern aus dem Konzentrationslager gehören die Berichte zu den bedeutendsden historischen Quellen, die Einsicht in die Komplexität des Leidens in Auschwitz geben. Der Wert des Buches entspringt also vor allem seinem dokumentarischem Charakter. Revisionisten und Antisemiten werden sich auch davon nicht beeindrucken lassen, aber denen sollte man sowieso anders begegnen.
frank


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last modified: 28.3.2007