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„Arisierung“ in Leipzig

Buchcover, 32.6k

„Arisierung“ in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte der Jahre 1933 bis 1945. Herausgegeben von Monika Gibas in Zusammenarbeit mit Cornelia Briel und Petra Knöller, Schriftenreihe „Geschichte – Kommunikation – Gesellschaft“: Hg. von Monika Gibas, Gerald Diesener und Rainer Gries, Band 4, Leipziger Universitätsverlag GmbH 2007

Der Tagungsband der in Leipzig veranstalteten Vortragsreihe zur Thematik der „Arisierung“ zeichnet durch vielfältige, tiefgründige Beiträge ein komplexes Bild der sukzessiven Enteignung der jüdischen Bevölkerung Leipzigs. Die Intention der Herausgeberin Monika Gibas zur Entstehung wird in der Einleitung mit einem Zitat des israelischen Diplomaten Michael Elizur, eines gebürtigen Leipzigers, der sich bereits 1933 als Zwölfjähriger gezwungen sah, nach Palästina auszuwandern, deutlich: „Ich persönlich weigere mich, Auschwitz mit Sinn zu vereinbaren. Wenn ich von einer anderen als einer religiösen Warte dazu etwas sagen soll, dann dies, dass ich glaube, die Pflicht jedes Menschen heute ist, dafür zu sorgen, dass diese Erfahrung in lebendigem Bewusstsein bleibt. Bevor das alles geschehen war, konnte man vielleicht sagen, dass Menschen noch nicht wussten, was sie tun. Aber diese Unschuld haben sie verloren. Deshalb muss jeder in einer eigenen Gesellschaft dazu mithelfen, dass sie so human und demokratisch wie möglich wird, um zu verhindern, dass es irgendwelchen Verbrechern erneut möglich wird, so etwas zu tun.“
Die Herausgeberin betont daran anschließend, wie wichtig in solchem Zusammenhang das Wissen um vergangenes Geschehen sei, wobei zu bemerken ist, dass in ihrer Aufzählung der Vielfalt des Leidens in der Zeit des NS-Regimes, angefangen mit dem Leid der Millionen Opfer des nationalsozialistischen Terrors, mit dem Leid der zu Opfern ihres eigenen Krieges gewordenen Deutschen endet. Dieses „selbst soll nicht vergessen werden“. In welchem Zusammenhang das eine mit dem anderen steht, und warum solch eine „Erkenntnis“ ihren Weg gleich auf die ersten Seiten des Buches gefunden hat, legt die Autorin leider nicht dar. So verwirrt auch Gibas beinahe überrascht wirkende Darlegung, dass es „auch in Leipzig politische und rassische Verfolgungen, unmenschliche Ausbeutung von Zwangsarbeitern, Raub und schließlich Mord“ gab. So hatte Leipzig, bekannt als „eine Stadt des weltoffenen Handels und der Kultur“, neben „dem ‚normalen` Alltag im NS-Staat, neben Kinderspielen (!) und Kunstereignissen, zeitgleich ein anderes Gesicht: das der politischen Verfolgung Andersdenkender, vor allem aber der Ausgrenzung und Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger.“ Den naiven, sich mit Leipzig verbunden fühlenden Bürger dürfte also ein unangenehmes Erwachen erwarten.
Der Herausgeberin ist zugute zu halten, dass sie sogleich im ersten Kapitel die Chance nutzt, im aktuellen Entschuldungsdiskurs Position auf Seiten derer zu beziehen, die hervorheben, dass oben beschriebene Vorgänge gerade nicht unbemerkt von den Bürgern vollzogen wurden. So wurde die deutsche Gesellschaft über jeden Schritt des Vorhabens der „Entjudung“ (ein Begriff, der an Ungezieferbekämpfung erinnern soll) offiziell informiert.

Der Rahmen dieser Rezension würde gesprengt, wöllte man sich mit gleichberechtigter Intensität dem vollständigen Inhalt widmen, ich habe darum einzelne der unzähligen beschriebenen Hergänge als spektakuläre Fälle ausgewählt, um hervorzuheben, dass Leipzig in seiner nationalsozialistischen Ausprägung bereits eine richtungsweisende Führungsposition einnahm, und welch perfider Mittel man sich bediente, um mit der „Arisierung“ eine wesentliche Grundlage für die Judenverfolgung bis zu ihrer bittersten Konsequenz, der physischen Vernichtung, zu schaffen.

Begriff der „Arisierung“

Zu Anfang des in dreizehn Kapitel eingeteilten Buches führt die Herausgeberin in die Historie des Begriffes Arisierung ein, welcher bereits in den 1920er Jahren vor dem Hintergrund der Nachkriegskrise, Inflation und Massenarmut, als Forderung nach einer „Arisierung der Wirtschaft“ Bedeutung erlangte, aber erst 1933 im Behördenjargon Einlass fand. Unter „Arisierung“ verstand man ab diesem Zeitpunkt den Prozess der radikalen politischen Säuberung aller Lebensbereiche der deutschen Gesellschaft. Dies schloss ein, dass jüdische Bürger ungeachtet ihres gesellschaftlichen Ansehens und ihrer Positionen aus ihren Berufen und Berufungen gedrängt, stigmatisiert, als „artfremd“ verbannt, ihre ökonomische Basis vernichtet und ihnen damit die Möglichkeit, am öffentlichen Leben zu partizipieren, vollends genommen wurden. In der Kirche wurde mitunter die „Arisierung“ Jesu einfordert. Mit den Nürnberger Gesetzen (1935) wurde dies schließlich als verbindliche Rechtsnorm festgesetzt. Bis 1938 erschien die Enteignung als „freiwilliger“ Akt, erzwungen durch ökonomischen sowie psychischen Druck. Das im Dezember 1938 erlassene Gesetz zur „Zwangsarisierung“ bildete schließlich eine Rechtsgrundlage, die eine systematische, von staatlicher Hand gelenkte Existenzvernichtung der Juden ermöglichen und diesem beispiellosen Raubzug, der schon längst gängige Praxis geworden war, nur noch den rechtsgültigen Anstrich verleihen sollte. Bis 1939 gingen 100.000 Firmen aus jüdischem Eigentum in den Besitz „arischer“ und „deutschstämmiger“ Interessenten über.
Gibas bemängelt, dass im regionalen und kommunalen Bereich vorerst ein zu unscharfes Bild vorherrscht, welches es unmöglich macht, eine Gesamtbilanz zu ziehen. Trotz einiger Studien zu einzelnen Städten, ist es nicht sicher, welche Verknüpfungen staatliche Institutionen, auf Reichs- und Landes-, und kommunaler Ebene und Privatinitiativen deutscher Wirtschaftsbürger eingingen.
Gibas weist darauf hin, dass man Untersuchungen des Prozesses der Arisierung unter zwei Gesichtspunkten betrachten kann: dem bürokratisch-normativen, welcher den Schwerpunkt auf strukturelle Abläufe und die Rekonstruktion des Vollzugs der Enteignung mit dem Ziel legt, die Dynamik und den Prozess der Arisierung darzulegen. Neben dem „Wann“ und „Wie“ bedarf aber das „Warum“ ebenso einer differenten Sichtweise. „‚Arisierung` kann und muss auch als interessengeleitetes und eigenverantwortliches Handeln von Einzelnen begriffen werden.“
Im Buch werden somit vielfältigste Schwerpunkte behandelt, sei es unter dem Blickpunkt der „Buchstadt Leipzig“ oder die Untersuchung „Arisierter Kunstschätze“, Recherchen nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kunstgut. Ganze Kapitel widmen sich den Schicksalen einzelner Warenunternehmerfamilien, Musikverlage oder etwa der Verstrickung des Grassi Museum, des Museums für Bildende Künste in die NS-staatliche Eigentumsaneignung.

Enteignung des Hotel Astoria und „Wohnraumarisierung“

An dem Beispiel der Stadtverwaltung Leipzig lässt sich gut darstellen, wie verstrickt die Leipziger Ämter in das Gefüge der Herrschaftsmechanismen waren, aber auch, wie sehr der „nichtarische“ Bürger sich bewusst in das vorerst rechtslose, später von höchster Stelle legitimisierte System der „Arisierung“ einzugliedern wusste, um maximalen Profit aus dem Leid seiner jüdischen Nachbarn zu ziehen.
In um teilweise Jahre vorauseilendem Gehorsam hat man in Leipzig schon im Frühjahr 1933 „ganze Kataloge örtlicher Maßnahmen“ zur kollektiven und individuellen Ausgrenzung der Juden entwickelt. Leipzig nahm hier mit Berlin, München und Nürnberg eine Vorreiterrolle ein. Man geht davon aus, dass die Leipziger Stadtverwaltung zentrale Funktionen im System der städtischen NS-Herrschaft und der antijüdischen Politik einnahm.
Zu Anfang war ein ein vollständiger Wechsel der Stadträte von Nöten und bis zum Frühjahr 1935 wurden alle Positionen durch vertrauenswürdige und parteiloyale Alt-Nationalsozialisten besetzt, ohne das Einwände vom Stadtoberhaupt Carl Goerdeler zu erwarten waren.

Die Tragweite des neuen Handlungsspielraums, den die frisch gebildete Stadtverwaltung beanspruchte, lässt sich exemplarisch am Eigentumswechsel des Hotels Astoria darstellen. Man wähnte nicht unberechtigt einen Imageschaden, sollte es weiterhin mit dem jüdischen Unternehmer Karl Otto Cohn als Besitzer in Verbindung gebracht werden. Zumal das Stamm-Etablissement Hitlers in Leipzig, das Hotel Hauffe am Rossplatz, geschlossen wurde und ihm unter solchen Bedingung ein Wechsel ins Astoria nicht zuzumuten war. Bis 1938 wurden bereits 60 % der jüdischen Betriebe liquidiert oder verkauft; so geriet auch Cohns Firma Cohn & Kreh in ein Liquidationsverfahren und einem Eigentumswechsel stand nach der Hypothekensicherung durch die Gläubigerin Sparkasse Leipzig und der Unterstützung der Stadt- und Girobank nichts mehr im Wege. Bei einem Bauwert von 5,3 Mill. RM wechselte das Gebäude schließlich für 1,57 Mill. RM den Besitzer. Cohn war zu diesem Zeitpunkt allerdings längst verhaftet.

Zur Schaffung zusätzlichen Wohnraums bediente sich auch die Stadtverwaltung einer für die damalige Zeit typischen Methode antijüdischer Wohnungsbewirtschaftung. Neben der drastischen Einschränkung kommunaler Fürsorgeunterstützungen für bedürftige Juden gewährte man andererseits „Auswanderer-Beihilfen“. Schließlich wohnten Anfang 1938 nur noch 44 Juden in städtischen Wohnungen. Nach dem Novemberpogrom begann man mit der Zentrierung der Juden in „Judenhäusern“, welche weiterhin in jüdischem Besitz bleiben sollten. Dieser „Mieterschutz“ wurde später von der Leipziger Stadtverwaltung aufgehoben, jüdische Wohnungseigentümer sollten Juden als Mieter oder Untermieter aufnehmen und jüdische Gemeinden wurden gedrängt, Gemeinschaftsunterkünfte zur Aufnahme Obdachloser, Älterer und Pflegebedürftiger einzurichten. Die Leipziger Beth-Jehuda-Synagoge im Hinterhaus der Färberstraße funktionierte man zu einem Obdachlosen- und Altenheim um. Mit der „Judenstelle“ in der Harkortstraße 1 sicherte man eine reibungslose Überwachung und Ausführung der „Wohnraumsarisierung“. Bis Mitte Januar 1941 wurden im gesamten Stadtgebiet 650 Mietverhältnisse von Juden aufgelöst und die Wohnungen neu vermietet.

Existenzvernichtung im Gesundheitswesen

Die Aneignung des Israelitischen Krankenhauses der Eitingon-Stiftung ist wohl die spektakulärste, welche unter der Leitung der Stadtverwaltung stattfand. Der neu gewählte Oberbürgermeister Freyberg handelte in diesem Fall eindeutig entgegen Hitlers Anweisung, die eine Enteignung von jüdischen Sozialeinrichtungen noch untersagte.
Unter dem Druck stetig ansteigender Verwundetentransporte aus den polnischen Kriegsgebieten benötigte man eine neues Krankenhaus und durch das eigenmächtige Vorgehen des Oberbürgermeisters verschaffte man sich das hochmoderne der Eitingon-Stiftung. Das Grundstück, ein Besitz der Stadt Leipzig, hatte man der Eitingon-Stiftung durch einen Erbpachtvertrag bis 2024 überlassen. 1918 gegründet, entstand unter der Initiative, Förderung und Finanzierung von Chaim Eitingon eine fortschrittliche medizinische Einrichtung, nach höchstem medizinischem Standard ausgerüstet. Die Nutzung stand allen Kranken ohne Rücksicht auf ihre Konfession offen. Um so schnell wie möglich relativ günstig an modernes medizinisches Gerät zu kommen, entschloss sich die Rathausführung zu einer schleichenden Aneignung und beanspruchte über das Stadtgesundheitsamt zuerst nur zwei Etagen, um es später ganz dem Städtischen Krankenhaus St. Jakob zu zuweisen. Am 14. Dezember 1939 mussten die jüdischen Kranken und das jüdische Personal das Krankenhaus innerhalb von vier Stunden verlassen. Alle Einrichtungsgegenstände und Instrumente hatten an Ort und Stelle zu bleiben. Bei der Beschlagnahme mussten 29 jüdische Patienten auf eine Station der Heil- und Pflegeanstalt Dösen verlegt werden, welche weder über einen OP-Trakt noch über andere, die allgemeine medizinische Versorgung garantierende notwendige medizinische Apparate verfügte. Es lag nun in den finanziellen Händen der Israelitischen Religionsgemeinde, schnellstens einen Operationsraum einzurichten. Was dann auch gleich zweimal geschehen musste, da, nachdem der erste fertig eingerichtet war, eine Verlegung in ein anderes Haus angeordnet wurde und der neue OP-Saal vollständig auf der alten Station erhalten bleiben sollte, „um hier künftig die Unfruchtbarmachung Geisteskranker vorzunehmen“. Das Gesundheitsamt raubte der Eitingon-Stiftung ein weiteres Mal teuerste Instrumente. Was aber nicht verhinderte, dass durch aufopferungsbereite Spenden erneut ein funktionstüchtiger Operationsraum ausgestattet wurde.
Die Mediziner des alten Israelitischen Krankenhauses sind ihren Patienten gefolgt, kümmerten sich aber auch um ihre in Leipzig verbliebenen Glaubensgenossen. Viele von den Ärzten wurden schon beim Wechsel nach Dösen nach Auschwitz deportiert, und als im August 1943 schließlich auch die Notunterkunft in Dösen verlassen werden mussten, folgte ihnen am 15. Juni 1943 der letzte Mediziner. Keiner überlebte.

Dies sollte jedoch einer der wenigen Fälle sein, in denen die Stadtverwaltung voreilig ohne Legitimation handelte. Mit der Unterstützung des Staates wurden noch unzählige der ehemals 4000 jüdischen Leipziger Grundstücke beschlagnahmt.
Am 21. Januar 1942 wurden durch den ersten Transport von 6561 Juden aus Leipzig nach Riga neun der zu diesem Zeitpunkt 40 „Judenhäuser“ geräumt. 1943 bestanden nur noch zehn „Judenhäuser“. Durch Restkonzentrationen sollten alle übrigen Grundstücke freigestellt werden. Mit jedem weiteren Transport wurden auch alte und gebrechliche Menschen, Kinder und Familien deportiert und Altersheime, Kindertagesheime zur kommunalen Nutzung frei. Auch wenn die Leipziger Stadtverwaltung keinen Einfluss auf die Deportationen hatte, konnte sie doch über die benannte „Judenstelle“ Personen auswählen, deren Namen sich dann auf den Transportlisten fanden.

Die ersten Luftangriffe am 20. Oktober 1943, welche immense Zerstörungen der Leipziger Bausubstanz verursachten, forcierten einen Interessenwechsel. Nun begann der Aufkauf von Möbeln und anderem Hausrat ehemaliger jüdischer Bewohner, der der Stadt Leipzig innerhalb von zwei Jahren immerhin 200.000 RM einbrachte. In Leipzig hatte sich schon ein regelrechter öffentlicher Markt für „Arisierungsgeschäfte“ gebildet. Es gab Verkaufsangebote auch in regionalen und überregionalen Zeitungen. Banken und Sparkassen schalteten sich in das Zwischengeschäft ein, boten ihre Vermittlungsdienste an.

Die Leipziger Stadtverwaltung als Teilbereich nationalsozialistischer Kommunalpolitik bedingte einerseits mit ihrem antisemitischen Vorgehen, der Inbesitznahme von Wohnraum, Immobilien und sozialen Einrichtungen die gesellschaftliche Ausgrenzung und räumliche Vertreibung der jüdischen Eigentümer, andererseits wurden gerade durch die Verfolgung und die Vertreibung neue Aneignungsmechanismen etabliert. Dies geschah auf der Basis dynamischer Wechselwirkungen lokaler, regionaler und reichsweiter Massnahmen. Die Vertreibung jüdischer Bürger, die Verdrängung deutsch- jüdischer Stadtkultur, die „Arisierung“ jüdischer und paritätischer Stiftungen wurde unter Oberbürgermeister Carl Goerdeler eingeleitet. Sein Nachfolger, Walter Dönicke, leitete die „Arisierung“ von Grundstücken und Wohnraum. Freyberg setzte diesen Raubzug fort. Man geht davon aus, dass die „Arisierung“ auch in Leipzig derjenige Teil der Judenverfolgung mit der größten Anzahl Beteiligter gewesen ist. Es hat sich wohl auch gezeigt, dass es ein planvolles Vorgehen im Wirtschaftsbereich nicht gab, vielmehr die Gesetze und Verordnungen den Entwicklungen nachgereicht wurden.

t.

  • Grenze der Verweigerung. Referat: „Äußerlichkeiten? Die deutsche Linke und ihr inniges Verhältnis zu ‘arisiertem’ Besitz“, aus CEE IEH #80

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last modified: 20.5.2008