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kulturreport, 1.7k

Alpdruck einer Erfahrung


„Kunsthalle der Sparkasse Leipzig“. Man muss sich von dem tiefste Provinzialität ausströmenden Namen nicht gleich abschrecken lassen, manchmal gewinnt Mäzenatentum ein Eigenleben gegenüber den Geldgebern – hier den Kunden – und setzt sich hinterrücks gegen diese durch. Dies ist der Vorteil eines Expertentums in der Kunst – es hat gelernt, was Kunst sein soll und ist von daher widerständig gegen das regressive Bedürfnis der Masse als Masse.

Es ergeben sich – besucht man die besagte Kunsthalle der Sparkasse – einige Ungleichzeitigkeiten. Nicht die Ausstellung selbst stellt sich zuerst in den Mittelpunkt des Interesses, sondern das Publikum, das, gelockt durch Freikarten und Freisekt, scheinbar das erste Mal im Leben mit Kunst jenseits von Kunstdrucken á la „Röhrender Hirsch im Grünenden Wald“ in Berührung kommt. Das Bemühen der Kunsthalle um Vermittlung ist ehrenwert und selbst wenn die Einträge im Gästebuch streckenweise klingen, als wären die ausgestellten Exponate nur knapp dem Bildersturm entgangen, rechtfertigt die sichtbar werdende Resistenz gegen Erfahrung noch nicht die Aufgabe des Versuchs der Vermittlung ebendieser.
Die gegenwärtige Ausstellung mit dem überdimensionierten Titel „Zweidimensionale. competition für Bildkunst“, die noch bis zum 7.
1. Mai-Plakat aus Angola, 31.1k
Plakat zu einer 1.Mai-Demonstration in Angola
Mai zu sehen sein wird, ist ein Potpourri aus Malerei und Fotografie, die – wie ein Einführungslehrbuch dies eben sollte – die verschiedensten Stile an den Betrachter heranträgt. Dabei ist die Qualität der Exponate selbst recht unterschiedlich.
Schockhafte Erkenntnis vermitteln drei Fotos von Viktoria Binschtok. Der erste Eindruck ist der einer Farbstudie, graue Streifen in weiß. Dann erkennt man einen Türrahmen ganz rechts im rechten Foto, der das Sujet der Bilder als räumliches zu erkennen gibt. Zu sehen ist die über alle Fotografien fortlaufende Wand eines Gang in einem Bürogebäude. Die Wand ist offensichtlich dreckig. Zwei gräulich/ schwärzliche Streifen ziehen sich über das Weiß der Tapete. Der untere ist dunkler, unruhiger, jetzt sind auch die Abdrücke von Schuhen zu sehen. Der obere Streifen bleibt im indifferenten Grau und enthüllt seine Herkunft nicht ohne weiteres. Schließlich gibt aber der Titel Auskunft: „Die Abwesenheit der Antragsteller“.
Wie viele Stunden Wartens – eines Wartens an sich – müssen es gewesen sein, die hier ihre Spuren hinterlassen haben. Wie oft haben die Wartenden ihr Standbein gewechselt, um wenigstens einem der schmerzenden Füße den Moment der Ruhe an der sich schwärzenden Wand zu gönnen. Wie lange dauerte es, bis der sonst nicht sichtbare Schmutz der Jacken seinen Weg auf die Tapete fand? Warum gibt es keine Stühle, auf denen die Wartenden Platz nehmen konnten? Es haben hier Menschen ihre Spuren hinterlassen, und sie taten es als Masse, massenhaftes Leid, der Alptraum einer Verwaltung klingt an, der Sinnlosigkeit des Wartens. Es ist eine unintendierte Spur, die die Einzelnen hinterlassen haben, sie beschwört eine Erfahrung, der Umgang mit dem Individuum als Masse, und als Masse machen sie Schmutz: Der unsichtbare Schmutz des Einzelnen wird als sichtbarer Schmutz der Masse zum Ausdruck des Leids der Einzelnen als eine massenhafte Erfahrung. Eine kollektive Handlung setzt ein Artefakt der Ohnmacht frei. Im Akt des Wartens werden die Menschen schon aufgrund ihrer körperlichen Verfassung zu Gleichen. Ihr körperlicher Schaden, ihre Körperlichkeit wird sichtbar, sie sind gezwungen, sich anzulehnen und ihren Schmutz abzugeben oder preiszugeben. Der Schrecken der Verwaltung lässt zugleich die Voraussetzung für das Ende dieses Schreckens erahnen: Die Behandlung des Menschen als Individuum als Gegenteil von Verwaltung.
Kunstsammlungs-Besucher sind normalerweise nicht gezwungen, ihr Gebrechlichsein zu offenbaren, ihnen bleibt die Maske und sie hinterlassen keine Spuren – es mag sein, dass sie nicht einmal die Erfahrung des Wartens machen mussten. Den Freisekt-Anhängern, die in die Kunsthalle gelockt wurden, um dann einen verbalen Bildersturm im Gästebuch zu üben, kann diese Erfahrung nicht fremd sein. Doch die Erfahrung als Kunstwerk dringt nicht zu ihnen durch. Sonst würden sie nicht die Bilder verfluchen, sondern die Arbeitsämter.

Michael Reich

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last modified: 28.3.2007