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review corner Buch, 1.8k

„Irgendwas Beschissenes
beginnt...“

Buchcover, 13.4k

Salman Rushdi, Shalimar der Narr, Reinbek bei Hamburg 2006

„Genug, es war ein Mensch“
(Nathan der Weise)

„Sobald wir einmal nicht mehr schlafen, können wir sehen, dass es für uns nur Feinde auf dieser Welt gibt, jene Feinde, die die Fäden unseres Lebens in den Händen halten. Das ist der Feind, dem ich gegenübertreten will.“
(Shalimar der Narr)

Aufklärung

In Gotthold Ephraim Lessings Stück sind Nathan, der Tempelherr, Saladin und ihre Angehörigen einander durch Liebe und Ähnlichkeit soweit verbunden, dass ihre Leben und deren Sinn ineinander verwoben sind. Die Beteiligten erkennen, dass sie ein und derselben Gattung angehören und lassen diese als Wahrheit neben die Gottes treten. Der dogmatische Anspruch der Religion sieht sich plötzlich mit dem Humanismus konfrontiert.

„Du hast wahrlich deine sonderbaren
Begriffe! »Sein, sein Gott! für den er kämpft!«
Wem eignet Gott? Was ist das für ein Gott,
Der einem Menschen eignet? Der für sich
Muß kämpfen lassen?“ (Recha)

Gegenaufklärung

Während in Lessings Werk die religiöse Borniertheit der Eintracht der Menschen weicht, wird in Rushdis Roman die menschliche Liebe durch den religiösen Wahn abgelöst: „Das Zeitalter der Vernunft ist vorüber, ... ebenso die Zeit der Liebe. Das Irrationale gewinnt an Macht. ... Das Persönliche aufzugeben und sich ganz dem Göttlichen hinzugeben, das war interessant.“ Beide beschreiben die Tendenz ihrer Zeit, der eine die der Aufklärung, der andere die der Gegenaufklärung, der eine ihr zuliebe, der andere ihr zuwider.

In Rushdis Roman ist das anfängliche Kaschmir nicht der Garten Eden, aber dessen Schauspiel. Als ein Schauspieler, ein Zauberer, eines Nachts diesen Garten verschwinden lassen will, müssen er und sein Publikum erleben, wie sein Schauspiel bitterer Ernst, die „Metapher zur Wirklichkeit wurde“. Pakistanische Freischärler hatten in der Nähe ein Elektrizitätswerk in die Luft gesprengt. Die Politik hatte im Gegensatz zur Kunst harte Tatsachen geschaffen. „Die Welt ... verschwand; diese blinde, tintenschwarze Nacht war unbestreitbar das Zeichen der Zeit.“ Lang noch hielten die Schauspieler an ihrer Profession fest, obwohl der Kampf längst unerträglich tobte: „Der Widerhall wummernder Trommelwirbel drang zu ihnen durch, der Gesang der Demonstranten klang wie ein den Untergang beschwörender Chor, die Wut der stetig wachsenden Menge knisterte wie elektrischer Strom um die leeren Sitze. Trotzdem spielten die bhands (Schauspieler, H.G.) von Pachigam ihr Stück, tanzten, sangen, führten Narreteien auf und erzählten ihre Geschichte von Toleranz und Hoffnung in alter Zeit. ... Aus dem Gesang wurde Geschrei, Trommelwirbel wurden zu Donnerschlägen, die Demonstration zu einer Stampede, und als das Auditorium zu zittern begann, fand die Geschichte von König Zain-ul-abidin ihr glückliches Ende, die Schauspieler fassten sich an den Händen und verbeugten sich, und obwohl Sardar Harbans Singh, der einzig verbliebene Zuschauer, so kräftig applaudierte, wie es ihm unter diesen Bedingungen nur möglich war, gaben seine klatschenden Hände doch keinen Laut von sich.“ Shalimar der Narr wuchs im paradiesischen Kaschmir als Seiltänzer auf und verliebte sich unsterblich in Boonyi. „Die Worte Hindus und Muslime, sagte er sich, hatten in dieser Geschichte kein Platz. Sie dienten im Tal bloß zur Beschreibung, nicht zur Trennung. Die Fronten zwischen den Worten, ihre harten Kanten, waren verzerrt und verwischt, und so musste es auch sein. Dies war Kaschmir.“ Doch Kaschmir blieb nicht Kaschmir. Religiöse und politische Konflikte ergriffen die Region. Und als sich zu allem Überdruss Boonyi mit Max Orpheus, dem Botschafter der USA, einließ, blieb Shalimar nicht der Shalimar, der sich der Kunst des Seiltanzes hingab. Er ging zu den islamischen Terroristen – nicht um sich deren Kampf aufzuopfern, sondern seines wahnsinnigen, persönlichen Zieles wegen: Max Orpheus‘ Tod. Und auch seine ehemalig Geliebte sollte durch seine Hand sterben. Die Verhältnisse setzten seiner wahnsinnigen Liebe nicht vernünftige Grenzen, sondern schürten und rechtfertigten seinen Hass.
Während Nathan als wandelnder Händler die Entfremdung gegenüber der Religion verkörpert und als Akteur die Liebe zwischen den Menschen propagiert, verkörpert das Opfer Shalimars als Botschafter der USA den Imperialismus, der zwar Entfremdung von aller gottgewollten Ordnung mit bewirkt, aber eine, die Elend und Gewalt mit sich bringt. Die Entfremdung erscheint den betroffenen Menschen somit nicht als Loslösung von aller bornierten Harmonie, sondern als Zerstörung aller göttlichen Harmonie. Für Max Orpheus bringt in diesem historischen Augenblick die Liebe nicht die Eintracht der Menschen mit sich, sondern – dem Schicksal
Plakat der Arbeiterpartei Liege, 30.2k
„Erheb Dich“ – Plakat der Arbeiterpartei Liege 1901
des mythischen Orpheus folgend – den Tod. Nicht er als Kosmopolit, der immerhin schon als Kämpfer des Résistance überlebt hatte, oder die alternde Schauspielergeneration Kaschmirs agieren entscheidend, sondern die religiösen Fanatiker.
Rushdi ergreift deutlich Partei für Max Orpheus‘ und rechtfertigt nicht Schalimars Lebenswandel. Was Rushdi durch die Darstellung zu begreifen sucht, sind die Ursachen des Scheiterns der liberalen Werte in weiten Teilen der ehemals kolonialisierten Welt. Rushdi geht es schließlich auch darum, das Scheitern dieser Werte nicht zu akzeptieren. Er schildert anhand Kaschmirs eingehend die Regression, die mit den Islamisten einkehrt. Die alte liebevolle Generation der Schauspieler ist es, die das Leben bejaht und sich gegen den islamischen Zeitgeist wendet – etwa die Verschleierung der Frauen: „Ich denk nicht daran, mir meine Lieblingssendungen durch ein Loch in einem Ein-Frauen-Zelt anzusehen.“

Der Kampf zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung

Schon Lessings dramatisches Gedicht beschwört nicht etwa die Toleranz, die Religionen entgegenzubringen sei, sondern konfrontiert diese mit ihrem dogmatischen und unvernünftigen Wesen(1), indem er ihm unbeschönigt eine Stimme gibt. Der christliche Patriarch, welcher Nathan den Flammen übergeben will, ergreift das Wort:

„... Ei freilich
Muß niemand die Vernunft, die Gott ihm gab,
Zu brauchen unterlassen, – wo sie hin
Gehört. – O nein! – Zum Beispiel: wenn uns Gott
Durch einen seiner Engel, – ist zu sagen,
Durch einen Diener seines Worts, – ein Mittel
Bekannt zu machen würdigt, das Wohl
Der ganzen Christenheit, das Heil der Kirche,
Auf irgendeine ganz besondre Weise
Zu fördern, zu befestigen: wer darf
Sich da noch unterstehen, die Willkür des,
Der die Vernunft erschaffen, nach Vernunft
Zu untersuchen? und das ewige
Gesetz der Herrlichkeit des Himmels, nach
Den kleinen Regeln einer eiteln Ehre
Zu prüfen?“

Warum sollte eine Religion, die statt der Vernunft der Offenbarung verpflichtet ist, eine vernünftige Auseinandersetzung führen können und sich durch vernünftige Argumente in die Schranken weisen lassen? Rushdi diskutiert in seinem Roman die notwendige Schwäche der liberalen Demokratie. Das auf Vernunft basierende Gespräch und auch ihre sonstigen typischen Erscheinungen – Bücher, Kunst und dekadente Zerstreuung – entbehren wesentlich gerade jener Härte, die zu ihrer Verteidigung von Nöten wäre. Das „materielle Selbstinteresse“ ist der Ungläubigen entscheidende Schwäche, während die Djihadisten ihr Leben zu geben bereit sind: „Ich habe keinen Körper, außer dem, der für die Wahrheit sterben will.“ Im Kampf gegen solche Feinde können Liberalität und Vernunft, noch zumal die Zeit nicht auf ihrer Seite zu sein scheint, fast nur beeinträchtigt werden. Entweder ihnen wird treu geblieben und somit ihren Feinden eine schwache Flanke präsentiert, oder sie werden dem Kampf gegen deren Feinde geopfert. Positiv formuliert: Erfordert ist ein Balanceakt, in dem weder kategorisch der Gewalt abgeschworen noch Vernunft und Liberalität als oberste Prinzipien in Frage gestellt werden.

Hannes G.

Fußnoten

(1) „Nathans Gesinnung gegen alle positive Religion (meint: auf Offenbarung stützende Religion, H.G.) ist von jeher die meinige gewesen.“ Lessing in den Entwürfen zu einer Vorrede

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last modified: 28.3.2007