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Tomorrow-Café, 1.5k

Zur Situation in Frankreich


Protest!

Auf den Straßen der französischen Städte demonstrierten tausende aufgebrachter Menschen gegen die Verabschiedung eines neuen Gesetzes, das durch den Premierminister Dominique de Villepin in einem Eilverfahren eingebracht und ohne Debatte durch die Nationalversammlung(1) verabschiedet wurde. Der Gesetzentwurf(2) sieht vor, dass alle Personen unter 26 Jahren, die in den „Genuss von Arbeit“ kommen, vom Arbeitnehmer innerhalb von zwei Jahren fristlos und vor allem grundlos gekündigt werden können. Nach derzeitigen Regelungen zum Kündigungsschutz ist man zunächst für sechs Monate auf Probe angestellt . Falls die Arbeitgeber sich im Laufe dieser Zeit doch entschließen sollten zu kündigen, ist eine Begründung unerlässlich. Zudem haben Arbeitnehmer umfassende Rechte, die Kündigung anzufechten und Abfindungen zu fordern. Die Proteste stellen daher einen Widerstand gegen den Abbau der Rechte von Lohnabhängigen dar, d.h. sie spiegeln einen Interessenkonflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wider, der durch die Regierung verstärkt wird. Nach den Änderungen soll die zweijährige Probezeit die Unternehmer animieren mehr junge ArbeiterInnen anzustellen, damit gleichzeitig die Arbeitslosigkeit(3) abgebaut wird. Die französische Regierung macht es sich weiterhin zur Aufgabe einen Ausweg aus der sozialen Krise(4) zu finden, schien aber bis vor kurzem nicht zu Kompromissen bereit. Um die beschlossene Lockerung des Kündigungsschutzes für Berufsanfänger rückgängig zu machen, bedarf es eines Nachgebens seitens des Premiers Villepin, doch dieser zeigte sich bisher unnachgiebig(5). Dem Druck der Streiks, Demonstrationen und Werksblockaden beugte sich hingegen der französische Präsident und
Plakat der Sozialdemokratischen Partei Prags, 29.6k
Plakat der Sozialdemokratischen Partei Prags 1906


1. Mai-Plakat aus den Niederlanden, 15.2k
1. Mai-Plakat aus den Niederlanden, 1933
will nun den Gesetzentwurf zumindest reformieren, um den Konflikt beizulegen. Widersprüchlich erscheint jedoch die Tatsache, dass Chirac in seiner Fernsehansprache meinte, er werde das Gesetz zur Lockerung des Kündigungsschutzes für unter 26-Jährige erlassen. Es soll aber zunächst keine Gültigkeit haben, bis das Parlament eine veränderte Version verabschiedet hat.(6) Premierminister Dominique de Villepin erklärte im Zuge dessen, nicht mehr für das Amt des Präsidenten kandidieren zu wollen und verpasste Chirac damit einen Dämpfer – er galt als sein sicherer Nachfolger.(7) Die Gewerkschaften und Verbände, die ihren Unmut, in welcher Form auch immer, kundtaten, werteten das Nachgeben der Regierung als vollen Erfolg und sind nun in ihrem demokratischen Bestreben gestärkt, Regierungsentscheidungen anzuzweifeln und wenn nötig dagegen vorzugehen. Wie es sich mit dem staatlichen Einfluss Frankreichs im Bezug auf die Wirtschaft verhält kann an dieser Stelle leider nicht genauer untersucht werden, gewinnt aber an Bedeutung, möchte man kritisieren, inwiefern kapitalistische Mechanismen durch den Staat außer Funktion oder reguliert und dadurch entscheidend beeinflusst werden können. Um den Bogen zu schließen, müsste das Verhältnis der Franzosen zum Staat einer eingehenden Analyse unterzogen werden, denn daraus resultieren Denkformen, die ihren Ausdruck in einer Statistik finden: Über 75 Prozent der jungen Franzosen würden sich für den Staatsdienst zur Verfügung stellen, da hier die Arbeitsplätze am sichersten, die Privilegien am üppigsten und die Druckmittel der Gewerkschaften am größten sind. Ein Ineinandergehen von wirtschaftlichem Interesse und der Hingabe an den Staat ist für viele Menschen(8) gegenwärtig in der französischen Gesellschaft normal und lässt unhinterfragt Konformität bestehen. Die Forderung nach Integration in sichere Arbeitsverhältnisse macht das deutlich.(9) Da die staatlichen Arbeitsverhältnisse Schutz vor Kündigung bieten, ist es wirtschaftlich nachvollziehbar, dass sich viele Menschen ohne Probleme in den Dienst des Staates stellen. Außer den Beamten kann jede/r andere Arbeitnehmende ohne Angaben von Gründen gekündigt werden. Dennoch ist die Mehrheit der Franzosen nicht verbeamtet und so begehrten sie gegen die Republik auf: Für die Unternehmer lässt der dem CPE vorangegangene erste Gesetzentwurf CDI einen kleineren Spielraum, um Arbeitnehmer grundlos vor die Tür zu setzen. Die damit verbundenen rechtlichen Nachspiele – zuletzt Richterentscheidungen – fallen meist zu Ungunsten der Unternehmerseite aus, da diese für anfallende Gerichtsprozesskosten aufkommen müssen. Das könnte sich jetzt mit dem Gesetzentwurf grundlegend ändern. Um Druck auf die Regierung auszuüben und angesichts der entstehenden noch prekäreren Lage Widerwillen auszudrücken, fiel an mehr als 1000 Oberschulen der Unterricht aufgrund von Schülerprotesten aus und 2/3 der französischen Universitäten schränkten den Lehrbetrieb ein.(10) Die Ausweitung der Proteste gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes machte sich immer mehr bemerkbar, Großdemonstrationen wurden von Mitgliederverbänden im öffentlichen Nahverkehr unterstützt (z.B. die Staatsbahn SNCF), das öffentliche Leben in Frankreich damit lahmgelegt, die Lehrergewerkschaften legten ihre Arbeit nieder, jede Woche fanden und finden Generalstreiks statt und Ausschreitungen gefährden die öffentliche Sicherheit der Republik. Villepin gab sich dennoch unnachgiebig und die andere Seite(11) machte die Aufhebung des neuen Gesetzes zur Voraussetzung, um Gespräche zur Beendigung der Krise zu führen. Der Premierminister hatte es zuletzt vor Parlamentariern abgelehnt, den Ersteinstellungsvertrag zurückzuziehen bzw. durch Änderungen abzuschwächen. Die Proteste sollten ihn davon überzeugen, dass sich die Demokratie der Franzosen nicht durch Entscheidungen von „oben“ überrumpeln lässt und dass sie, die Demonstranten, selbst den Volkswillen („voluntas“) repräsentieren – mit Erfolg.(12) Die Jungle World formuliert den Standpunkt der deutschen Presse treffend: „Wenn jemand gegen die Einschränkung seiner Rechte ist, kann das nur daran liegen, dass ihm etwas nicht richtig erklärt wurde. Die Politik hat dann ein ‚Vermittlungsproblem‘.“(13) So wähnt sich die deutsche Presse mit dem Staat einig und lehnt nur deswegen die Reformen ab, weil die französische Regierung hinterrücks gehandelt habe. Und eines darf in dieser Argumentation bodenständiger Weise nicht fehlen: Die Streikbegeisterung kommt in Frankreich nicht von ungefähr, sondern ist der französischen „Kultur“ eigentümlich.(14)
Da der Verfassungsrat das arbeitsreformistische Gesetz schon gebilligt hat und dieses vom Präsidenten unterzeichnet wurde, sind viele Jugendliche von der Politik enttäuscht und verlangen den Rücktritt von de Villepin und Chirac.
Mit demokratischen Debatten und Demos können zwar reformistische Veränderungen erzielt werden, aber nicht grundlegende, gesellschaftsüberwindende. Das sollte immer im Bewusstsein abrufbar sein, aber auch die umgekehrte Tatsache, dass es ohne Einsatz für demokratische Prozesse nicht geht. Vergegenwärtigt man sich die Verhältnisse, die in manchen Vororten der französischen Städte vorherrschen, dann kann man froh sein, in demokratischen Rechtsstrukturen eingebunden zu sein.

Die banlieues

In den banlieues sieht die Lage bekanntlich noch katastrophaler aus. Da sich die Lage in den Vororten Frankreichs mit einer Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 40% noch eklatanter darstellt, machten sich einige der Jugendlichen daran (nach Augenzeugenberichten(15)) am Ende einer Demonstration Teilnehmende auszurauben und zu verprügeln. Wer sich einen Einblick in die Situation der banlieues verschafft, wird feststellen, dass hier ein Prozess im Gange ist, der sich als eine „antirepublikanische Revolte“ (Alain Finkielkraut) entblößt. Dass in den Vororten auch antisemitische Tendenzen vorherrschen sollte dabei nicht verwundern(16). Zudem bestehen patriarchale Bandenwesen, die extrem frauenfeindlichen geprägt sind. Aufgrund dieser kann die Rechtssicherheit der französischen BürgerInnen vom Gewaltmonopol des Staates nicht mehr garantiert werden. Daher sollte man zur Vorsicht mahnen, mit allen als unterdrückt Wahrgenommene sich zu solidarisieren und ein u.U. vorherrschendes Einverständnis mit den Unruhen vom Oktober/November des Vorjahres (2005) überdenken. Denn zur Befreiung von der heutigen Gesellschaft trägt das auf keinen Fall bei. Dennoch halte ich es für die jetzigen Demoteilnehmer legitim sich für bessere Lebensverhältnisse auf der Straße einzusetzen und ihren Unmut über ihre soziale Lage zum Ausdruck zu bringen, zeigen sie doch damit, dass sie an demokratischen Prozessen teilhaben wollen und nicht folgenlos übergangen werden können. Die Emanzipation im Sinne einer Abschaffung der bestehenden Gesellschaft wird allenfalls erreicht, wenn die Voraussetzung für Kritik(17) aufrechterhalten und die reaktionären Gegner von demokratischen Prozessen denselbigen unterworfen werden. Welche Auswirkungen die Proteste insgesamt auf die Republik haben und ob sich die herrschende gesellschaftliche Situation durch sie aufbrechen lässt bleibt zumindest für mich fragwürdig.

Teddson

Fußnoten

(1) Nur 76 von 577 Abgeordneten waren bei der Verabschiedung des Gesetzes anwesend.
(2) CPE („Contrat premier embauche“: erster Arbeitsvertrag/Ersteinstellungsvertrag)
(3) Für Frankreichs Gesamtbevölkerung errechneten die Behörden 2,31 Millionen Erwerblose und eine Quote von 9,5 Prozent. (ARD-online, 29.3.2006) Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Frankreich bei 23% (die banlieues ausgenommen – später dazu mehr), wohingegen sie sich in Deutschland halb so hoch einpegelt.
(4) Wer allein auf landesweiter Ebene von einer sozialen Krise ausgeht, spricht den globalen Zuständen Hohn und muss daher kritisch reflektieren, was Krise in den „3.Weltländern“ heißt. Abgesehen davon verschärfen sich die Konflikte auch auf politischer Seite zunehmend: Die Front National von Jean-Marie LePen rief seine Jugendorganisation zu weiteren Aktionen auf, die in der Vergangenheit militant organisiert gegen die protestierenden StudentInnen vorgingen.
(5) Der CPE ist Villepins zweiter Schritt für freiheitliche Zugeständnisse an die Unternehmerseite, denn dadurch hat sie mehr Möglichkeiten Arbeitskräfte, wie (vergleichsweise) Maschinen, an- oder abzustellen, wenn sie sich den Maßgaben des Unternehmens nicht kompromisslos unterwerfen und funktionieren.
(6) Präsident Chirac kündigte in einer Fernsehansprache an, dass er „auf Initiative des Premierministers” den Artikel 8 des Gleichstellungsgesetzes durch neue Maßnahmen zur Integration von jungen Menschen in den Arbeitsmarkt „ersetzen” wolle. Diese sollen den Arbeitgebern nicht mehr neue Freiheiten gewähren, sondern ihnen durch staatliche Subventionen die Einstellung von schwer vermittelbaren Jugendlichen schmackhaft machen. In diesem Jahr wird sich dies die Regierung 150 Millionen Euro kosten lassen, 2006 doppelt soviel, kündigte der mit der Ausarbeitung beauftragte Fraktionschef der Regierungspartei UMP in der Nationalversammlung, Bernard Accoyer, an.
(7) Aufgrund dieser Situation könnte der jetzige französische Innenminister Sarkozy für das Amt des Präsidenten kandidieren und Erfolg haben. Es stehen laut Umfragen 51% aller Franzosen hinter ihm.
(8) 6 Millionen von ca. 62 Millionen Franzosen sind Beamte, stehen im Dienste des Staates.
(9) Entgegen dieser Konformität wurde auf einer Demonstration ein begrüßenswertes Plakat mit der Forderung nach Abschaffung des „Contrat à durée indéterminée“ (CDI: unbefristeter Vollzeitarbeitsvertrages) gesichtet. Weil eine solche Forderung zurzeit real sich nicht verwirklichen lässt, muss, bei aller notwendigen Kritik an Lohnarbeit, diese mit einer gleichzeitigen Forderung nach ökonomischer Absicherung einhergehen.
(10) Warum sich nicht alle dem Streik anschlossen, ergibt sich m.E. aus der durch die Medien verbreiteten Darstellung eines Zweiklassen-Bildungssystems. So seien schon durch die unterschiedliche Ausgangslage im Bildungsbereich (private/teure Eliteschule, „normale“ Schulausbildung) bessere bzw. schlechtere Berufschancen für den Arbeitsmarkt gegeben. Streik kommt für diejenigen nicht in Frage, denen auf jeden Fall ein sicherer Arbeitsplatz in Aussicht steht.
(11) Gemeint sind Gewerkschaftsverbände, Initiativen und Schülervertretungen. Z.B. die Studentenvereinigungen UNEF, die studentische Konföderation, die Schülerorganisationen UNL (Nationale Oberschüler Union) und FIDL (Unabhängiger und demokratischer Oberschüler Verband) sowie die Lehrergewerkschaft FSU.
(12) Die Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen bedeuten für die Regierung einen Imageschaden. Nach Umfragen stehen nur noch wenige Franzosen hinter de Villepin und Chirac. Umgekehrt gehen die Gewerkschaften und Studentenverbände gestärkt aus dem Konflikt hervor.
(13) Jungle World 2006 Nr. 13, S. 8, http://www.jungle-world.com/seiten/2006/13/7451.php
(14) In Deutschland hingegen dürfen (nach der geplanten Verabschiedung eines Gesetzesentwurfs) alle Altersgruppen zu jeder Zeit fristlos gekündigt werden – ohne dass Demonstrationen, Streiks etc. wie in Frankreich auch nur annähernd vorstellbar wären. Im Krautland baut man weiterhin auf den Staat, ohne dass demokratische Debatten über den Kündigungsschutz (persönliche Situation des Einzelnen betreffend) Aufsehen erregen könnten bzw. schon durchgesetzte legislative Beschlüsse durch die BürgerInnen energischer angegangen würden. Warum das so ist, kann z.B. bei Hannes Gießler nachgelesen werden. „Nutztiere und Heuschrecken“ im CEE IEH #122 http://www.conne-island.de/nf/122/21.html
(15) Siehe Jungle World 2006, Nr.13, S. 17, http://www.jungle-world.com/seiten/2006/13/7466.php
(16) Die bestehenden Verbindungslinien von Nazis, Linken und Islamisten weltweit, insbesondere in „old europe“, müssen einer vehementen Kritik unterzogen werden.
(17) Wenn es z.B. in islamistischen Ländern aufgrund der Rechtsverhältnisse nicht möglich ist frei zu publizieren, seine Meinung frei zu äußern oder Frauen überhaupt Rechte abgesprochen werden, dann ist es auch nicht möglich Gedankengut zu verbreiten, das sich gegen traditionell-islamische Verhältnisse in Stellung bringt und damit reale Veränderungen erwirken kann.

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last modified: 28.3.2007