home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[122][<<][>>]

review corner Buch, 1.8k

Von Auschwitz zur
staatstragenden Philosophie


Buchcover, 3.1k

Rolf Zimmermann:
Philosophie nach Auschwitz.
Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft,
Rowohlt: 2005, 268 S.
Auch wenn eine Studie sich „Philosophie nach Auschwitz“ nennt und den ambitionierten Untertitel „Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft“ trägt, muss das nicht heißen, dass man sich Erkenntnisgewinn erhoffen darf. Da ihr Autor aber, der Konstanzer Philosoph Rolf Zimmermann, in den 70er Jahren mit sehr hellsichtigen Aufsätzen zum Marxschen Praxisbegriff auf sich aufmerksam machte, in denen er die marxistisch-leninistische Widerspiegelungslehre überzeugend widerlegte, wirft man gern einen Blick ins Buch. Kritische Theorie und 70er Jahre – denkt man – und schon ist der Erwartungshorizont breit aufgespannt. Doch weit gefehlt, denn die Untersuchung erweist sich mit ihren zahlreichen Begriffsschöpfungen und staatstragenden Sentenzen allenfalls als eine wissenschaftliche Selbstreferenz.

Kern der Untersuchung Zimmermanns ist die Frage nach moralischer Orientierung in einer Gesellschaft nach Auschwitz. Dabei ist er um eine Verknüpfung von empirischer Forschung und Sozialwissenschaft bemüht, die „moralisch-universalistische“ Konzepte für politisches Handeln aufzeigen soll. Anhand einer „analytisch-hermeneutischen Beschreibungsstruktur“ (16)(1) soll zunächst dargestellt werden, dass traditionelle universalistische Moralauffassungen wie die von Kant nach dem „Gattungsbruch“ Auschwitz nicht mehr haltbar sind, da nicht mehr von einem einheitlichen Menschenbild ausgegangen werden kann. Im Anschluss an Hannah Arendt konstatiert Zimmermann: „Die Protagonisten und blutigen Akteure der totalen Herrschaft des Nazismus haben eine Grenze überschritten, die jenseits eines nachvollziehbaren Begriffs von allgemeiner moralischer Vergleichbarkeit unter Menschen liegt, und sprengen insofern herkömmliche Begriffe von Strafe oder Vergebung.“ (25 f.). Deshalb sei „mit dem Holocaust ein moralischer Gattungsbruch eingetreten“ (26), der aufgrund der „Banalität des Bösen“ (Arendt) herkömmlichen Moralkonzepten wie dem Kantischen ihre Beschränktheit offenbare. Das auf dem kategorischen Imperativ fußende Kantische Moralgesetz z.B. setze nämlich die Achtung des Menschen vor der existierenden sittlichen Ordnung voraus und erhebe damit Anspruch auf Universalität. Zwar kenne auch Kant ein dieser Grundlegung widersprechendes „radikal Böses“, dem Menschen anhängen können, dieses sei aber anders als bei Arendt ein Alltagsphänomen, das einer „Verkehrung der inneren sittlichen Ordnung“ (30) des Menschen entspringe und den „Grund aller Maximen“ verderbe. Insofern meine Hannah Arendts Wendung von der „Banalität des Bösen“ einen Sachverhalt, der im Gegensatz zum „radikal Bösen“ bei Kant die gesamte Gattung in Frage stelle. Um diesen Gegensatz deutlich herauszustreichen, insistiert Zimmermann auf dem Begriff des „Gattungsbruchs“, der weitaus besser zur Charakterisierung der Nazi-Verbrechen geeignet sei.
Vor dem Hintergrund der Konzeptionen von Kant und Arendt hält der Autor an einer „Antithese zwischen universalistischer Gattungsmoral und nazistischem Gattungsbruch“ (31) fest, die Ausgangspunkt für eine Transformation der Moral sein soll. Der „universalistischen Gattungsmoral“ tritt der „Gattungsnegativismus“ der Nazis entgegen, der sich durch Ausschluss der Juden aus der menschlichen Gattung äußert. Es kommt zur nationalsozialistischen Weltanschauung, die eine „Umwälzung der Moralbegriffe“ impliziert. Zimmermann spricht von „nazistischer Transformationsmoral“, die „herkömmliche moralische Vorstellungen hinter sich lässt und zugleich Wege finden muss, eine Neuorientierung akzeptabel zu machen“ (38). Zusammenfassend resümiert er: „Der moralische Gattungsbruch des Nazismus ist im Rahmen von dessen Weltanschauung zu sehen, die ein moralisches Transformationsprojekt des Menschen impliziert, zu dessen konstitutivem Bestandteil der antijüdische Gattungsnegativismus gehört.“ (39).
Zimmermanns „idealtypische Betrachtung“ gerät nicht nur hier in eine paradoxe Erklärungssituation. Einerseits spricht er vom „Gattungsbruch“, um die Kontinuität sozialpolitischen Fortschritts als auch die Relevanz traditioneller Moralkonzepte zu hinterfragen. Andererseits aber räumt er ein, dass selbst die nationalsozialistische Weltanschauung noch Moral sei, oder besser gesagt eine „Moralauffassung“, die man als „unmoralisch“ zu charakterisieren hat. Vertreter solcher „Moralauffassungen“ argumentierten mit eigenen Rationalitätskonzepten, die in deren Weltanschauung eingebettet sind: sie beziehen sich z.B. positiv auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ oder sind überzeugt vom Lebenskampf der Völker, der eine Art „Naturgesetz“ darstelle. Zimmermann will solchen „Theoremen“ natürlich begegnen – und zwar „mit Hilfe von theoretischer Vernunft“, die „so etwas wie Schneisen in die Weltinterpretation der Gegenseite zu schlagen“ (55/106) hätte. Vereinfacht handelt es sich um die Frage: Wie diskutiere ich mit Nazis? Dazu schlägt der Autor folgendes vor: „Falls es überhaupt Sinn macht, mit einem Vertreter nazistischer Transformationsmoral in eine Diskussion einzutreten, müsste der moralische Universalist versuchen, das Rationalitätspotenzial der Sozialwissenschaft oder anderer Wissenschaften (Religionsgeschichte, Naturwissenschaft) so ins Spiel zu bringen, dass durch analytische und empirische Verobjektivierungen, zu denen rational betriebene Wissenschaft in der Lage ist, einer Weltinterpretation das Wort geredet wird, die zulässt, dass die moralische Dimension als eigenständige Dimension normativer Intersubjektivität hervortreten und ein sinnvoller Streit über Prinzipien allererst Raum greifen kann.“ (55). Kurz: es handelt sich hierbei um einen „Rationalitätsvergleich von Moralauffassungen“ (60), bei dem der Universalist dem Transformationsmoralisten (wahlweise Nationalist, Rassist, Antisemit, Nazi) in einem „herrschaftsfreien Diskurs“ (Habermas) unterschiedlicher Weltbilder begegnet und möglicherweise nur deshalb überlegen ist, weil er das kohärente Instrumentarium der vielen Einzelwissenschaften auf seiner Seite hat. – Als moralphilosophischer Beitrag im akademischen Milieu mag dieses Konzept vermutlich aufgrund seiner systematischen Rückbindung Reputation verschaffen, gleichwohl fragt man sich, ob der Philosoph Zimmermann jemals versucht hat, mit überzeugten Rassisten und Antisemiten zu diskutieren?

Stichwort Antisemitismus – davon glaubt der Autor zwei verschiedene Varianten auseinander halten zu müssen: einen „gattungsneutralen (schwächeren) Antisemitismus“ und einen „gattungsnegativen Antisemitismus“ (35), der im Nationalsozialismus am Werke war. Einmal mehr aber zeigt sich das Dilemma aller Ansätze, die in Moral, Geschichte, Zivilisation etc. einen „Bruch“ konstatieren. Weder sind sie in der Lage die Spezifik des deutschen Faschismus vom Aspekt der Krise aus zu fassen, in der Staat und Volk in der gemeinsamen Hatz auf die „Gegenrasse“ der Juden eine Einheit bilden, noch erkennen sie, dass gerade in der Massenvernichtung der Juden und im Raubkrieg gegen die „jüdischen Bolschewisten“ der Grundstein postfaschistischen Wohlstands gelegt wurde, der trotz der Niederlage Deutschlands 1945 alsbald unerhörte Ausmaße annahm.(2)
Rassenwahn und Volksgemeinschaft erklären sich aber nicht durch Chiffren wie „Transformationsmoral“ oder „Gattungsbruch“, sondern zu allererst durch Kritik der Krisenideologie des Antisemitismus. Doch von Ideologiekritik im Sinne kritischer Theorie ist bei Zimmermann, der im gesellschaftlichen Diskurs auf „narratives Verständlichmachen von Motiven“ (102) setzt, längst keine Spur mehr auszumachen. Vielmehr heißt praktische Kritik bei ihm, zu erzählen, „was einem besonders am Herzen liegt ..., um einem anderen das eigene Leben verständlich zu machen ...“ (ebd.). Auch die zuvor gemachte Differenzierung verschiedener Formen von Antisemitismus, später heißt es „rassistisch aufgezogener Antisemitismus“ und „eher wertorientierter Antijudaismus“ (36), bringt keinen Erkenntnisgewinn. In ihr verschwimmt lediglich der Zusammenhang von nationalsozialistischer Rassenpropaganda und Judenhass. So stellt Zimmermann zwar fest, dass eine „Spannung zwischen Antijudaismus und Rassismus“ sichtbar werde, die für die nationalsozialistische Ideologie ein Begründungsproblem darstelle, weil sie versuche die „Bekämpfung jüdischer Ideen durch die physische Vernichtung der jüdischen Rasse zu betreiben“ (ebd.). Aber anstatt darin schlicht antisemitischen Wahn auszumachen, der mit rationalem Begründen nicht das Geringste zu tun hat, unterstellt er den Nazis zunächst rationale Begründungszusammenhänge, um sie dann – ganz wissenschaftlich – mit „hermeneutischer Anstrengung“ (60) ihrer Inkonsistenz zu überführen. Er ignoriert damit hartnäckig, dass das Moment der Irrationalität für die NS-Ideologie wesentlicher Bestandteil ist und der Antisemitismus eine Krisenideologie mit Scharnierfunktion zwischen Wahn und Realität.
Zur Prüfung der Tauglichkeit seines kritisch-hermeneutischen Ansatzes und zum Zweck einer „moralischen Standortbestimmung“ diskutiert Zimmermann verschiedene modernere Moral- und Politikkonzepte. Er stößt dabei u.a. auf Adornos kategorischen Imperativ, der die Verhinderung einer Wiederholung von Auschwitz und Ähnlichem formuliert und stellt fest, dass dieser in der „Dimension widerständiger Subjektivität“ verbleibe, statt universalistisch aufzutreten. Die darin von Adorno in Anspruch genommene „negatorische Unbedingtheit“ sei auf einem „motivationalen Zugang zur Moral“ zurückzuführen und auf „Unmittelbarkeit von moralischen Impulsen eingeschränkt“ (122). Andererseits formuliere Adorno aber auch ganz allgemeine moralische Gebote, wie „es soll keine Konzentrationslager geben“ und gerate damit wiederum in die unvermeidliche Situation einer Explikation des Gemeinten, die z.B. „Beschreibungen physischen Leids“ (123) vornehmen müsse. Zimmermann kritisiert, dass eine solch „reflexive Verarbeitung“ bei Adorno jedoch ausbleibe, was schon deswegen ein absurder Gedanke ist, weil diesem sehr genau bewusst war, dass ihn vom „Gemarterten“, der seinerseits das Recht auf Ausdruck hat, Entscheidendes trennt. Anmaßung wäre gewesen, Gefolterte wie Jean Améry, dessen Aufsatz über die Tortur Adorno sehr wohl kannte, reflexiv zu vereinnahmen. Eine solche Grenze hat Adorno aus gutem Grund und dem Bewusstsein über das eigene Entronnensein nicht überschritten, weil er individuell erlittene Schicksale durchaus zu respektieren gewusst hat. Es mag daher zwar richtig angesprochen sein, dass in den Reflexionen Adornos jene verlangte „individuell reflexive Dimension“ fehle, ihm dies aber zum Vorwurf zu machen, zeugt vielmehr von der Unkenntnis gegenüber dem Werk des Philosophen. Und Zimmermann geht noch weiter: „Weil Adorno sich der Formulierung von Moral in allgemeinen Begriffen zu entwinden sucht, stößt er an systematische Grenzen, wenn es darum geht, entsprechende Konsequenzen für den Bereich der Politik zu ziehen.“ (125). Gerade in Verbindung mit Adornos Reflexionen zu Auschwitz, Systematik geltend machen zu wollen, ist eine Vorstellung höchst paradoxer Art – ein Unterfangen, gegen das der Antisystematiker Adorno zurecht bemerkte, dass das Ganze das Unwahre sei und in sich stimmig nur aufgrund seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Aber davon will der politische Stichwortgeber Zimmermann nichts wissen, weil er von Adorno und dessen Philosophie nichts weiß, – diesen dafür kritisiert, dass dessen Begriff von Moral nicht in der Lage sei „als normative Vorgabe an die politische Gemeinschaft etwa den Schutz der Grundrechte von Menschen zu formulieren und diese Thematik im Rahmen einer Interpretation des demokratischen Verfassungsstaats zu verfolgen.“ (127). Wer solches schreibt und im heutigen „demokratischen Verfassungsstaat“ das „politische Pendent“ erblickt, das „Auschwitz negiert“, weil sich der „Nazi-Auschwitz-Staat nicht wiederholt“ (129), der verkürzt und darum missversteht letzten Endes auch Adornos kategorischen Imperativ, der die Warnung vor „Ähnlichem“ mit einschließt.(3) Kein Wunder also, dass es staatstragenden Philosophen wie Zimmermann eher darum geht, demokratische Errungenschaften in Deutschland nach 1945 anhand einer „Gegenüberstellung von deutscher Grundrechtsdemokratie und dualistischer amerikanischer Demokratie“ schön zu reden, um anschließend in folgendem zu gipfeln: „Die für deutsche Verhältnisse wunderbare Revolution des Jahres 1989 hat mit dem Ruf ‚Wir sind das Volk’ zugleich nach einer politischen Form gerufen, die ihren freiheitlichen Antrieben gerecht werden sollte. Nachdem es diese politische Form in Gestalt der Verfassung der alten Bundesrepublik bereits gab, konnte die nationale Einheit unter dem Ruf ‚Wir sind ein Volk’ nur noch den Weg der Integration in diese Form nehmen.“ (152). Grund einer dermaßen „wunderbaren“ Fügung für Deutschland dürfte nicht zuletzt auch Habermas’ „fruchtbarer Ertrag der Diskursethik“ sein, „der darin besteht, dass eine politische Ethik des Diskurses, auf welcher institutionellen oder gesellschaftlichen Ebene auch immer, wesentlich zur Zivilisierung von Konflikten und damit zur Humanisierung des Gemeinwesens beiträgt“ (168). Ein dermaßen rationaler Diskurs scheint Mauern zu sprengen, wenn man nur den Aspekt der Gewalt durch eine Abstraktion beseitigt, die da heißt: „herrschaftsfreie Kommunikation“. Zwar erkennt auch Zimmermann diesen Klassiker unkritischer Theorie als „Idealbegriff“, der „im Sinne der völligen Neutralisierung von Macht“ (185) zur Verwendung kommt, aber sein eigenes Politik-Konzept ist ebenfalls an den „Begriff von Herrschaftsfreiheit“ gekoppelt, nur eben an einen „bescheideneren“ (ebd.). Und das geht so: „Herrschaftsfrei geht es deshalb zu, weil niemand unter äußerem Zwang steht und die demokratische Willensbildung nach menschlichem Ermessen gründlich und ohne Verfahrensmängel erfolgt, wozu durchaus auch gehören kann, dass im demokratischen Ablauf die üblichen Tricks verwendet werden.“ (ebd.). Darum auch, lässt sich jener „pragmatische Begriff von Herrschaftsfreiheit“ so wunderbar mit anderen Abstraktionen kombinieren wie dem Zimmermannschen „Normalbegriff vom Menschen“, der „als ein Wesen (...) in der Lage ist, Zweckmaximen zu verfolgen und Normvorstellungen einzunehmen“ (212). Unmoralisch geht es aber in der Realität zu, wo man sich keineswegs an Zimmermanns hermeneutische Analysen hält und jenseits „diskursiver Vermittlung“ von Sozialwissenschaft und politischer Ethik agiert. Wer aber – wie der Autor – auf Ideologiekritik verzichtet und in Staat und Gesellschaft nur noch Diskursstrukturen und narrative Perspektiven ausmacht, muss sich letzten Endes nicht wundern, wenn er die Realität nicht begreift. Im postfaschistischen Deutschland nämlich speist sich das Volksbewusstsein mitnichten aus der Lehre eines „moralischen Narrativ“ (249), sondern nach wie vor aus alltäglichem Stumpfsinn und konsequenter Schuldabwehr.

Roman

Fußnoten

(1) Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die entsprechenden Seitenzahlen des Buches.
(2) Dazu ausführlich: Gerhard Scheit, Die Meister der Krise, Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand, Freiburg 2001, S. 84 ff.
(3) Merkwürdig ist, dass Zimmermann mit Yehuda Bauer am Schluss der Studie zu einem anderen Ergebnis kommt, indem er bemerkt, dass die Wiederholung der Vergangenheit nach wie vor möglich ist, wenn auch „nicht auf genau die gleiche Weise“ (249).

home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[122][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007