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Scorsese vs. Heidegger


Filmszene, 26.9k

Martin Scorsese: Gangs of New York, USA: 2002, 165 min.

Der Einbruch der Moderne in die Tradition: Martin Scorseses Gangs of New York

Dass heutzutage nicht mehr alle Filme dumm machen, wie Adorno einst behauptete, mag durchaus daran liegen, dass wir inzwischen so dumm geworden sind, dass selbst die immer durch das Publikumsinteresse vermittelten Hollywoodprodukte einen Erkenntniswert besitzen. Aber das ist die Situation und so auch die Beliebtheit von Filmrubriken.
Martin Scorseses Gangs of New York ist ein unterhaltsamer Streifen, als ein solcher soll er aber hier nicht ins Thema gelangen. Debatten der Art, ob Leonardo di Caprio in Filmen zu sehen sein sollte oder besser nicht, bleiben außen vor. Vielmehr soll es um die spezifische Konstellation zweier Geschichts- bzw. Vergemeinschaftungsvorstellungen gehen, die in dem 2002 erschienenen Werk auf eine kritische, sprich nicht affirmative, Weise zum Ausdruck gelangt. Die beiden Kontrahenten sind leicht zu benennen. Es ist der Konflikt zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft der Stoff des historischen Konflikts abgibt. Und es ist der (vorläufige) Sieg der modernen Gesellschaft über die Tradition, den der Film konstatiert und letztlich gut heißt, ohne aber – und dies macht das kritische Moment – die gewaltsame Durchsetzungsgeschichte auszusparen. Erzählt wird die Geschichte der Entstehung New Yorks aus „Blut und Feuer“ – geschichtspolitischer ‘Auftrag’ Scorseses ist es, diese Geschichte dem geschichtslosen Abgrund der Moderne zu entreißen und dies geschieht – ganz modern – in Warenform. Nun ist vorweg ein grundlegender Einwand gegen diese Form der Erinnerung zu diskutieren, ist doch die Sprengkraft, die in einem solchen Projekt vermutet werden könnte, grundsätzlich begrenzt. Es ist in den letzten zwanzig Jahren nichts weniger en vogue als die Erzählung von Geschichte als Geschichte der Herrschenden, vielmehr ist ein universaler Wettbewerb um den Status der vom Kapitalismus am härtesten betroffenen Opfergruppe zu konstatieren.(1) Scorseses Film tappt nicht in diese Falle, die Leidensgeschichte der Menschen, die er erzählt, ist nicht von partikularistischen Untertönen gefärbt, sondern stellt vielmehr die alles zermalmende und neu synthetisierende Kraft der modernen Vergesellschaftung in den Vordergrund, der grundsätzlich alle Menschen – wenn auch in je spezifischer Form – unterliegen.
Gangs of New York zerfällt in zwei Teile. In eine klassisch konzipierte Tragödie – ein Rachekonflikt – und in die Auflösung dieses Konflikts, die die klassische Lösung des Konfliktes innerhalb der Form auf eine bitterböse Art desavouiert und die Unmöglichkeit, Geschichte in Tragödienform, d.h. hier: als Familiengeschichte zu schreiben, herausstellt. Dabei wird die Rache des Sohnes für seinen ermordeten Vater zwar durchgeführt, es gibt auf der Ebene der Erzählung ein happy end, doch die Form der Bebilderung wie die Rahmenhandlung zeigen die Kraftlosigkeit der Rache, wie die Ohnmacht des sich Aufhaltens bei den althergebrachten Familientraditionen.
Zur Story des Films: New York 1863, mitten im amerikanischen Bürgerkrieg. Amsterdam Vallon, Sohn des ermordeten Priest Vallon kehrt nach 16 Jahren Erziehungsheim zurück in die Stadt und wird von dem Mörder seines Vaters Bill „The Butcher“ Cutting unter die Fittiche genommen. Priest und Cutting waren die Führer zweier New Yorker Gangs, der ‘irischen’ Dead Rabbits und der ‘amerikanischen’ Natives. Deren Rivalitäten, die als religiöse und rassische ausgetragen werden, führten zur Ermordung des Vaters von Amsterdam, wie zur zeitweisen Herrschaft der Natives über die Slums des New Yorker Stadtteils Five Points. Die Konflikte zwischen den Gangs sind natürlich keineswegs irgendwelche urtümlichen jahrhundertealten Stammesfehden, vielmehr sind sie das erbitterte Ringen um die letzten Reste vom Kuchen des Reichtums der aufstrebenden Nordstaaten: Insofern ist die Tragödie, die sich an dem Festhalten zwischen überkommenen Sitten (die Rache am Mörder des Vaters) und der Sympathie Amsterdams für den Butcher ausdrückt, bereits von Beginn an eine anachronistische Form. Die Gemeinschaftsbanden, in denen die beiden Kontrahenten Amsterdam und Bill gefangen sind, sind bereits Produkt einer krisenhaft sich durchsetzenden Moderne, nur haben sie noch konkrete Wurzeln im Vorher, die alten Traditionen in denen sich der Streit letztlich blutig löst, sind – zumindest was den irischstämmigen Amsterdam betrifft – noch lebendig. Dies gilt für den Anführer der Natives Bill Cutting nicht in der Form. Er ist Einwanderer der zweiten oder dritten Generation, was den Fremdenhass, den er gegen die Iren hegt und auch keineswegs konsequent durchhält, aufs deutlichste ad absurdum führt. Sein Hochhalten des Amerikanischen speist sich rein aus dem Ressentiment gegen die Neuankömmlinge, in denen er vor allem Habenichtse sieht, die die ökonomische Situation verschlimmern.
Für die beiden am Konflikt beteiligten Rackets spielt der ökonomische Hintergrund, vor dem jener sich abspielt, jedoch keine Rolle. Sie bewegen sich in ihrer kleinen Welt der fünf Straßenzüge von Five Points und leben in ihren Traditionen, ob sie sie nun übernommen oder selbst geschaffen haben. Der weltgeschichtliche Hintergrund, die Bedrohung dieser auf direkter Herrschaft beruhenden Gemeinschaft wird zwar bspw. in der Gestalt des Politikers Tweed – für den Betrachter, wie die Akteure – immer wieder sichtbar. Doch vor der drohenden ‘Gefahr’ der Zivilisierung muss vor allem Cutting die Augen verschließen, ist er als Gangleader auf Gedeih und Verderb auf die Aneignung fremden Eigentums durch Raub angewiesen. Er kann nicht anders als „kämpfend untergehen“. So funktioniert die Tragödie für die beteiligten Akteure recht gut, sie müssen sich so lange abschlachten, bis eine Seite sich als die stärkere erweist. Schuld folgt auf Schuld, solange Erinnerung ist, kann es keinen Frieden geben.
Die Form der Erinnerung, die die Figuren leben, ihr Festhalten an den Traditionen, lassen sich dabei recht gut mit dem Repertoire der (vorwiegend deutschen) Zivilisationskritik der Zwischenkriegszeit charakterisieren. Die Sehnsucht nach einem unverfälschten, gemeinschaftlichen Zusammenleben der Menschen, das sein barbarisches Potenzial kurze Zeit später auslebte, findet u.a. Ausdruck im heideggerschen Begriff der Geschichtlichkeit.(2) Scorseses Darstellung des Racketwesens in New York ist die filmische Umsetzung des Heideggerschen Begriffs in seiner Wahrheit. Er zeigt seine Borniertheit und den ihm innewohnenden Romantizismus. Heidegger bindet seinen Begriff von Geschichte, die Geschichtlichkeit, an das einzelne Subjekt und seine Gemeinschaft samt deren Traditionen. Er richtet ein Gegenmodell auf, nach dem das Subjekt eigentlich geschichtlich sein könne: Statt den Verlockungen der Moderne zu erliegen, d.h. hier bei ihm sich dem Alltag hinzugeben, affirmiert und „wählt“ es die Tradition, aus der es stammt, es bejaht sein überkommenes Vorher und bestimmt sich als dieses. Es hat also zu werden, was es ist, und dieses „sein“ ist nichts anderes als die Tradition, in der es steht. Der Deutsche hat sich so als deutsches Volk zu wählen. Heidegger gegen sich selbst gewendet, bietet damit eine Sehanleitung für die Tragödie in Gangs of New York. Besonders Amsterdam, der voll und ganz unter dem Bann seines Vaters steht, dessen Auftrag erfüllen muss, dessen Traditionen weiterleben lassen will, ist eine konkrete Ausformung von Heideggers Geschichtlichkeit. Nur dass Scorsese das zeigt, was Heidegger nicht sagt: die Ausweglosigkeit der Situation in der Amsterdam steht, die Lächerlichkeit des Festhaltens an den ererbten Fetischen vom Vater – das Rasiermesser, bei dem das Blut an der Klinge bleiben muss, das Medaillon des Erzengels Michael, für das Amsterdam in den Tod zu gehen bereit ist. Die Borniertheit dieser Tradition wird bei Scorsese deutlich, bei Heidegger gibt es jedoch nichts als diese Borniertheit, kein Meer, nur Gebirge.
Die Brechung der Tragödienform(3) die implizit bereits im ersten Teil des Films angelegt ist, ist von Scorsese in unübertroffener Form komponiert. Der Konflikt hat sich zugespitzt, die Iren drängen auf Rache und auf ihr Stück vom Kuchen des Reichtums, die Natives nehmen die Herausforderung zum Kampf an. Am Vorabend der Schlacht beten Cutting und Amsterdam zu ihrem Rachegott, vollziehen traditionelle rituelle Handlungen, die mit dem Kreislauf aus Rache und Vergeltung untrennbar verbunden sind, wählen ihre Vergangenheit und ihre Tradition, machen sich zu dem, was sie sind, erweisen sich letztlich als treue Söhne ihrer Väter. Doch als sich die beiden Gangs schließlich auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen, mit Hämmern und Äxten, mit Zähnen und Klauen bewaffnet, ohne Pistolen wohlgemerkt, erweist sich eine dritte Partei als die überwältigende. Die Batterien eines Kanonenbootes beginnen zu feuern und treiben die Gangs auseinander. Im dichten Nebel des Pulverdampfes – oder ist es der Nebel der Vergessens, der über den Bluttaten des Staates liegt? – erscheinen Soldaten auf dem Kampfplatz, gegen deren militärische Ordnung das Häuflein Straßenräuber hoffnungslos unterlegen ist. Das Recht marschiert und siegt. Zwar gelingt es Amsterdam noch, den Mörder seines Vaters stilgerecht mit dem geerbten Rasiermesser um die Ecke zu bringen, doch das unzeitgemäße und sinnlose dieser Handlung ist angesichts der perfekt funktionierenden militärischen Maschinerie, die, den Tod säend, Recht und Gesetz in den Straßen New Yorks wieder herstellt, offensichtlich. Das Racket Amsterdams, ohnehin eher Produkt einer nicht völlig durchkapitalisierten Moderne, zerfällt, die Traditionen vergehen. Amsterdam steht nicht mehr in seiner Geschichte, er beerdigt das Rasiermesser und wird vergessen. Die letzten Worte des Films lauten: „Doch für uns, die wir die furchtbaren Tage überlebt hatten, war es, als ob alles Bekannte und Vertraute gewaltsam hinweggefegt worden wäre. Und egal was man unternehmen würde, um die Stadt wieder aufzubauen, es würde so sein, als ob es uns nie gegeben hätte.“ Die Moderne vergisst ihre Durchsetzungsgeschichte, wie sie ihre Vorgeschichte abwirft. Es entstehen Rechtsformen, innerhalb derer es sich – von Krisentendenzen abgesehen – besser leben lässt, als in den von kruden Traditionen bestimmten rechtfreien Räumen, die außerhalb von Staat und Kapital stehen – und seien sie auch ein Außen, das durch das Innen erst produziert wird. Damit einher geht der Verlust der Tradition insofern, als sie nicht mehr als handlungsanleitend begriffen werden kann. Heideggers Begriff der Geschichtlichkeit stößt mit der Vergesellschaftung durch das Kapital an seine Grenzen und wirkt letztlich wie ein romantischer Reflex auf die Ohnmacht des Subjektes in der kapitalistischen Produktionsweise. Das Subjekt hat strenggenommen keine Tradition mehr, in die es sich stellen könnte und die es zu wählen hätte. Dies ist ihm abgenommen durch die Naturwüchsigkeit des Kapitalverhältnisses, das keine Tradition zulässt. Es saugt die Menschen ein – nirgends kann man diesen Vorgang so gut beobachten wie im Einwanderungsland Amerika – und spuckt sie als Arbeiter, Soldaten oder Unternehmer wieder aus. Scorseses Film fängt das ein: die neu ankommenden Iren werden vom Schiff weg in die Armee eingezogen – getrieben vom Hunger. Sie wechseln ihre Haut und werden in Uniform zu neuen Menschen und an die Kriegsschauplätze verschifft. In Uniform werden sie aber genau zu denjenigen gedrillt, d.h. geschichtslos gemacht, die als Maschinerie in der Lage sind, den Aufstand des New Yorker Pöbels niederzuwerfen, vor dem sich die letzten Züge des Bandenkrieges zwischen ‘Natives’ und ‘Dead Rabbits’ abspielen.
Scorsese positioniert sich in dem Konflikt von Gemeinschaft und Gesellschaft eindeutig auf der Seite der Moderne. Er zeigt jedoch den Preis, den die „wunderbare Stadt“ New York für ihre Durchkapitalisierung zu zahlen hatte. Das Blut spritzt sowohl, wenn die Kamera auf die Füße der Soldaten zoomt, die sich den Weg durch den Pöbel schießen, als auch wenn Amsterdam seinen Rivalen Cutting metzelt. In einem Bild gelingt es ihm die Verwandlung des Menschen in Schlachtvieh zu zeigen. Die Kamera fährt an den jungen irischen Männern entlang, die jetzt in Uniform auf ihre Verladung auf das Schiff warten, welches sie zur Front bringen soll. Es fallen die Worte: „Hoffentlich bekommen wir jetzt zu essen.“ Doch sie müssen noch warten, die Kamera vollführt einen Schwenk auf die Totale und der Grund des Wartens wird deutlich: ein Kran lädt einen einzelnen Sarg vom Schiff, dahinter werden mehr und mehr Sperrholzsärge sichtbar. Dazu fröhlich-irische Tanzmusik.

Fraglich bleibt am Ende bloß, ob der Sieg der Moderne so restlos ist, wie im Film dargestellt, und diese Frage steht nicht nur in der Hinsicht, dass es heutzutage sogar möglich ist, sich der vergessenen Opfer zu erinnern. Erinnerung verkauft sich nun mal gut. Doch die Rackets of New York, die selber schon Produkt kapitalistischer Entfremdung sind, kehren als Verdrängte in den Vorstädten wie Villenvierteln von Riad, Paris oder Bombay wieder und das alles in sich einsaugende Vielfraß namens Kapitalverhältnis scheint müde geworden zu sein.

mele

Fußnoten

(1) In der Dämmerung des zweiten Weltkrieges konnte Walter Benjamin noch einfordern, die Tradition der Unterdrückten ans Licht zu holen, denn alle Geschichtsschreibung sei die der Herrschenden. Zumindest an den Universitäten herrschen heutzutage jedoch die postcolonial studies, die immer neue Gruppen von Opfern der Weltgeschichte akkumulieren.
(2) Dieser ist expliziert in „Sein und Zeit“ § 72ff.
(3) Die erste moderne Tragödie Hamlet ist ähnlich gebrochen. Wie bei Gangs of New York handelt es sich um ein Rachedrama, die Rache findet jedoch deshalb nicht statt, weil Hamlet ein Gewissen besitzt, das ihn unfähig macht zu handeln. Die Tragödie stellt sich damit also nicht mehr wie im klassischen Griechenland als Unumgänglichkeit der Handlung dar, sondern sie besteht gerade in der Unfähigkeit der Handlung. Die wirkliche Tragödie in Gangs of New York besteht darin, dass es völlig egal ist, ob die beteiligten Akteure handeln, ob also Rache genommen wird, oder nicht. Sie sind dem Gang der Weltgeschichte oder dem Gang der Akkumulation des Kapitals einfach schnuppe.


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last modified: 28.3.2007