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Tomorrow-Café, 1.5k

Der prozessierende Wider-
spruch als sich voll-
streckendes Verhängnis

Die unüberwindliche Dauerkrise des Kapitals

1) Vom Widerspruch im Reichtum

Dieser Beitrag setzt die Einführung in grundlegende Probleme der Marxschen Ökonomiekritik fort. Ausgangspunkt der gesamten Betrachtung ist die Marxsche Analyse des doppelten Charakters des Reichtums im Kapitalismus:

„Auf den ersten Blick erscheint der bürgerliche Reichtum als eine ungeheure Waarensammlung, die einzelne Ware als sein elementarisches Dasein. Jede Ware aber stellt sich dar unter dem doppelten Gesichtspunkt von Tauschwert und Gebrauchswert“ (Marx, MEW 13, S. 15).
Der Gebrauchswert umfasst die unmittelbare Nützlichkeit der kapitalistisch produzierten Ware. Der Tauschwert hingegen drückt aus, dass die Ware nicht nur unmittelbar nützlicher Gegenstand ist (Gebrauchswert), sondern dass sie als Ware (!) ein gesellschaftliches Dasein hat, mit anderen Waren in Verbindung steht. Keinesfalls ist der Tauschwert jene Größe, aufgrund derer die Ware dann tatsächlich auf dem Markt gehandelt wird. Auf diesem kommt sie vielmehr nur verschleiert zum Ausdruck – nämlich mit einem (in den meisten Fällen) völlig vom Tauschwert abweichenden – Preis(1).

Vom Tauschwert klar zu sondern ist der Wert der Ware. Der Wert ist Ausdruck des auf der permanenten Vernutzung menschlicher Arbeitskraft und ihrer Darstellung in abstrakten Quanta Arbeitszeit beruhenden gesellschaftlichen Verhältnisses und der Form, in der sich der kapitalistische Reichtum deshalb befindet. Dazu Postone: „Die Ware ist sowohl Produkt als auch gesellschaftliche Vermittlung. Sie ist kein Gebrauchswert der Wert hat, sondern als materielle Vergegenständlichung abstrakter und konkreter Arbeit ist sie ein Gebrauchswert, der ein Wert ist und deshalb Tauschwert besitzt“ (Postone, 2003, S. 240). Cornelia Hafner fasst den „Wert als soziales Verhältnis“ und in Abgrenzung dazu, Marx zitierend, den Tauschwert als „gesellschaftliches Dasein der Dinge“ (Cornelia Hafner: Gebrauchswertfetischismus, in: Behrens 1993, S. 64).Der Tauschwert muss als konkretere Erscheinung des Werts begriffen werden, welcher seinerseits Ausdruck einer Gesellschaft als totales Verhältnis ist, welches auf der Vernutzung von Arbeitskraft basiert. Das Wesen des Tauschwerts ist der Wert. Meint: das Verhältnis, in welchem eine Ware zu einer anderen Ware steht, ist bestimmt durch die unmittelbare gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die aufgewandt wurde, um sie herzustellen. Der Wert ist somit das grundlegende Verhältnis, auf dem die kapitalistische Produktion ruht.(2)
Wie in vorangegangen Beiträgen dargelegt, führt der Doppelcharakter des kapitalistischen Reichtums, also der in ihm wohnende Gegensatz zwischen stofflich materieller Produktion und ihrer Darstellung in Quanta abstrakter Arbeitszeit zu einem unauflöslichen Widerspruch und Gegensatz in der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Der typisch kapitalistische, über den Wert als einer zeitlich bestimmten Form des Reichtums und einem abstrakten gesellschaftlichen Vermittlungsverhältnis in einem (vgl. Postone: Zeit, Arbeit…, S. 53 ff) vermittelte Gegensatz zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen treibt damit tendenziell seiner Auflösung entgegen.
Der die kapitalistische Gesellschaft beherrschende Wert ist real nur im Kapital: also im zu sich selbst gekommenen, voll entfalteten Wert. Das Kapital ist der sich selbst entfaltende Wert – das Geld, das aus sich selbst heraus mehr Geld heckt, der Mehrwert heckende Wert. Da der Wert nie still stehen kann, treibt er zum Kapital fort. Damit ist die kapitalistische Gesellschaft eine, die sich fortwährend revolutioniert, also durch Umwälzungen der Produktivkräfte, Ideologien, Gefühlslagen, Charaktere, Klassen und Schichten verändert und dabei dennoch sich selbst stets erhält, also ihre Grundlage, die permanente Vernutzung menschlicher Arbeitskraft und ihre Darstellung im Wert ständig erneuert.(3) Bereits im Gegensatz in der Ware selbst ist bei Marx der grundlegende Gegensatz des Kapitalismus verortet: bevor eine Ware nicht verkauft ist, weiß niemand ob sich ihr Wert auch tatsächlich realisieren wird. Marx spricht in diesem Zusammenhang vom Salto mortale, also dem Todessprung der Ware. Im Kapital selbst ist der grundlegende Gegensatz angelegt im Widerspruch zwischen Schatz und Kapital – einerseits als Geld „gehortet“ und andererseits in der Fluktuation begriffen. Das Kapital selbst tritt dem Arbeitenden einerseits entgegen als Maschinerie und verleibt ihn seinem eigenen Mechanismus ein (vgl. K1, S. 391 ff), macht ihn zu einem Teil seiner selbst und andererseits besteht das Kapital aus fortwährend aufgehäufter abstrakter Arbeitszeit – das Kapital selbst stellt sich daher, wie Ware und Arbeit, unter doppeltem Gesichtspunkt, nämlich als abstrakt und konkret dar.

Gartenzwerge als Import-Export-Produkt, 37.5k


Der Gegensatz zwischen der Erzeugung des Werts in der Produktion und seiner Realisierung in der Zirkulation führten in der ideologischen Reflexion zu einem Auseinanderreißen dieser Sphären. Der traditionelle Marxismus verdinglichte die Produktivkräfte(4) zu einer sich angeblich natürlich entfaltenden Größe – quasi unabhängig von gesellschaftlicher Entwicklung. Bestimmte Entwicklungsstufen der Produktivkräfte wurden als sich natürlich ablösende Produktionsweisen begriffen: bäuerliche, handwerkliche, manufakturielle und industrielle Produktionsweise. Jeder Produktionsweise, also jedem Entwicklungsniveau der Produktivkräfte, entsprächen bestimmte Produktionsverhältnisse. Das sind die politischen, ideologischen, religiösen und rechtlichen Denkformen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die diesen Produktionsweisen entsprächen. Von der kapitalistischen Produktionsweise hervorgebrachte Produktionsverhältnisse sind wesentlich der Markt und das Privateigentum. Als gesellschaftlich gelten dem traditionell marxistischen Denkgebäude nur die Distributionsverhältnisse, also der Bereich des Austauschs der Produkte – nicht jedoch ihre Erzeugung. Typisch kapitalistisch sind also nur der Markt und das Privateigentum – nicht die materielle Produktion im Kapitalismus selbst. Der Marxismus ist daher wesentlich nur eine Theorie der Produktion und speziell der aus ihr resultierenden Verkehrsformen und Denkweisen, nicht jedoch eine Kritik der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Diese leistet die Marxsche Ökonomiekritik aber nicht ihre marxistischen Interpretationen seit Engels. Daher steht eine wertkritische Reformulierung und Radikalisierung des marxschen Werkes an (vgl. Postone, 2003, S. 27 ff).
Sowohl die kapitalistische Produktion und die ihr entsprechenden ideologischen und rechtlichen Reflexionen und die Verteilung der Produkte auf dem Markt sind vom Widerspruch zwischen notwendig stofflicher Produktion und ihrer im Kapitalismus ebenso notwendigen Darstellung in Quanta vernutzter Arbeitszeit durchzogen. Der Wert ist keine Verteilungsinstanz (wie vom traditionellen Marxismus behauptet), sondern eine Form des Reichtums und gesellschaftliches Vermittlungsprinzip von Produktion und Zirkulation/ Distribution: Der Wert ist das zentrale, die Produktion selbst bestimmende Produktionsverhältnis.(5)
Wird die Marxsche Kritik und ihre Analyse des der kapitalistischen Produktionsweise innewohnenden Doppelcharakters auf Produktion und Distribution angewandt, so wird deutlich, dass das vom Marxismus behauptete, die menschliche Gattungsgeschichte seit dem Sesshaftwerden in der Spätsteinzeit und angeblich bis zum Kommunismus anhaltende Wechselspiel dieser beiden Seiten nur für den Kapitalismus typisch ist. Nur hier gibt es überhaupt so etwas wie Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, die in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehen. Sie erweisen sich als zwei Seiten einer vom Wert als Form des Reichtums und gesellschaftlicher Vermittlungsinstanz bestimmten fetischistischen und entfremdeten Gesellschaft.
Im Verhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist also durchaus ein Spannungsverhältnis angelegt. Allerdings ein sehr viel heftigeres und brisanteres als es sich der traditionelle Marxismus auch nur zu träumen gewagt hätte. Es handelt sich hier nicht um einen überhistorischen Konflikt, der der Motor des Fortschritts wäre. Sondern dieser Fortschritt ist selbst erst Ergebnis dieses Konflikts, treibt ihn voran, schleudert ihn wieder und wieder gegen seine Schranke, bis er schließlich ermattet und abstirbt – das ist die unüberwindliche Dauerkrise des Kapitals, die innerhalb des Kapitalismus selbst – für jene, die ihn emanzipatorisch überwinden wollen – nur Fortschrittsfeindlichkeit und Hoffnungslosigkeit gebietet.
Werden die Produktionsverhältnisse als der Wert gefasst, so kann die immanente Entwicklung des Kapitalismus, ihre fortwährenden Umwälzungen und Entwicklungen vor dem Hintergrund des Entfaltens des Werts interpretiert werden.

2) Akkumulation und Reproduktion des Kapitals

Im Teil I dieser Artikelserie wurde die Charakteristik einer durch den Wert vermittelten Gesellschaft dargestellt. Der Teil II widmete sich der aus der Vermittlung über den Wert sich ergebenden Selbstvermehrung des Geldes, dem Wert als automatischem Subjekt, dem Kapital in seiner Widersprüchlichkeit. Hier im Teil III nun soll es nun wesentlich um die Ausbildung der inneren Gegensätzlichkeit des Kapitals im Verlauf seiner Anhäufung, der Akkumulation des Kapitals gehen.
Zunächst ist festzuhalten, dass eine Gesellschaft um zu leben, produzieren muss – also Natur umformen, Dinge herstellen, die sie zum Überleben braucht: in diesem Sinne ist von Produktion zu sprechen. Dabei werden diese Dinge nicht nur einmal, sondern immer wieder hergestellt, es besteht ein ständiger Stoffwechsel mit der Natur: in diesem Sinne ist von Reproduktion zu sprechen.
In der kapitalistischen Gesellschaft bekommt die Produktion und Reproduktion eine einzigartige Stellung. Sie wird, indem sie sie sich in Zeiteinheiten abstrakter vernutzter Arbeitskraft darstellt und somit in doppelter Form erscheint zum Konstituens des Werts – als spezifische Form des Reichtums schaltet sie sich in den Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur und formiert diesen zur abstrakten gesellschaftlichen Vermittlung. Stellten Produktion und Reproduktion vorher nur ein Moment des gesellschaftlichen Lebens unter vielen anderen dar – so wird dies nun DAS zentrale Verhältnis des Menschen überhaupt. Viele Bereiche der Gesellschaft werden der ökonomisierten Produktion unterworfen. Der Wert hat, wie bereits festgestellt, die Eigenschaft sich selbst zu verwerten. Der dabei gewonnene Mehrwert wird wieder und wieder in den Produktionskreislauf geworfen. Marx spricht von beständiger Kapitalisierung des Mehrwerts. Der gewonnene Mehrwert ist Ausgangspunkt eines erneuten Kapitalkreislaufs. Das Kapital stellt sich einen Teil von sich sich selbst gegenüber, bezieht sich auf sich selbst und verwertet sich dabei – das heißt: Es wird immer mehr Kapital angehäuft. „Jede Akkumulation wird das Mittel neuer Akkumulation. Sie erweitert mit der vermehrten Masse des als Kapital funktionierenden Reichtums seine Konzentration in den Händen individueller Kapitalisten, daher die Grundlage der Produktion auf großer Stufenleiter“ (K 1. S. 653). Marx spricht hier vom Akkumulationsprozess des Kapitals. Akkumulation des Kapitals drückt also den ständigen fetischistischen Wachstumsprozess des Kapitals aus; einer eigenen immanenten Logik folgend und völlig entkoppelt von den Bedürfnissen der Menschen ohne Rücksicht auf natürliche Lebensgrundlagen der menschlichen Gattung. Die Logik der kapitalistischen Akkumulation ergibt sich aus der permanenten Verwandlung von Geld in mehr Geld und somit aus der Verwertung des Wertes, aus der Existenz des Wertes als Form des Reichtums und gesellschaftlicher Vermittlungsinstanz und damit aus der doppelten Erscheinung des gesellschaftlichen Reichtums. Das wahnhaft entfesselte Wachstum des Kapitalismus ist logische Konsequenz der von Marx in der Wertformanalyse aufgedeckten Tendenz der Gleichmachung im Warenverhältnis [siehe dazu Teil I im CEE IEH #106].

In der Logik der Akkumulation des Kapitals liegt es, immer mehr Menschen vom Verwertungsprozess auszuschließen und ins Elend zu drängen. „Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer relativen Überzähligmachung. Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz (…)“ (K 1, S. 660). Marx spricht hier von der Entstehung einer industriellen Reservearmee, die beliebig in immer neue Bereiche der Produktion geworfen werden kann und die somit Grundlage weiterer kapitalistischer Akkumulation wird. Es „müssen große Menschenmassen plötzlich und ohne Abbruch der Produktionsleiter in anderen Sphären auf die verschiedenen Punkte werfbar sein“ (K1, 661). Damit wird die „Übervölkerung (…) zum Hebel der kapitalistischen Produktionsweise“ (ebd.). Die kapitalistische Produktion braucht also beständig eine große Menge frei für sie verfügbarer Menschen.
Dabei vollzieht sich infolge der kapitalistischen Produktion eine zunehmende Polarisierung: „Je größer der gesellschaftliche Reichtum (…) desto größer die industrielle Reservearmee (…). Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. (…) Je größer endlich die Lazarusschichte [die Verarmten] der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus [die Verarmung]. Dies ist das absolute und allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation (…). Es folgt daher, daß im Maße, wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß. Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets im Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephestos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit (…) auf dem Gegenpol (…)“ (K 1, S. 673-675). In der hier vorgeschlagenen fetisch–kritischen Leseweise des Werks von Karl Marx läuft diese Argumentation nicht nur darauf hinaus, dass in der Gesellschaft sich immer größeres materielles Elend Bahn bricht, sondern dass die Menschen immer mehr an das von ihnen selbst geschaffene gesellschaftliche Prinzip gefesselt werden, welches sie zusehens immer mehr beherrscht. Die Akkumulation des Kapitals drückt also einerseits die fetischistisch von den Menschen entkoppelte Wachstumsdynamik aus und andererseits die mit ihr verflochtene zunehmende Bindung von Menschen an entfremdet ihnen gegenüberstehende abstrakte Zwänge. Die Gesellschaft wird mit zunehmendem Wachstum immer weniger beherrschbar und damit auch bedrohlicher – die evtl. zunehmende materielle Not und die wachsende Gefahr bar jeder sozialen Sicherung ins nackte Elend gerissen zu werden ist ein Moment dieser Entwicklung. Die Menschen schaffen den Reichtum, der sie beherrscht und in den Untergang reißt, selbst.

3) Realkapital und zinstragendes Kapital

Aus der Entfaltung der Wertkategorie ergab sich die Verwandlung des Geldes in mehr Geld unter Vernutzung menschlicher Arbeitskraft als kapitalistisches Grundprinzip. Diese findet nicht einmalig statt, sondern stellt sich selbst auf höherer Stufe immer wieder her (auch diese ständige Transformation ist, wie Postone sehr überzeugend darlegt, bereits in der Warenform, dem Gegensatz zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, bzw. stofflichem Reichtum und seiner Darstellung in Quanta abstrakter menschlicher Arbeitszeit angelegt – und zwar im Gegensatz zwischen konkreter und abstrakter Zeit – darauf kann hier aber nicht eingegangen werden, wen’s interessiert, sei verwiesen an: Postone, 2003: S. 431-461. Aus der Akkumulation des Kapitals resultiert schließlich die Herausbildung zweier Erscheinungen des Kapitals, des zinstragenden und des fiktiven Kapitals, die in diesem und dem nächsten Abschnitt dieses Artikels behandelt werden sollen. Real waren sie lange vor der Entstehung des Kapitalismus vorhanden: seit Geld existiert, gibt es Zinsen und Kredit. Als gesellschaftlich tragende Erscheinungsform und Vermittlung der Totalität des Werts kommen sie jedoch erst in der Phase eines sich hochgradig entfaltenden und organisch auswachsenden Kapitalismus zum Tragen. Wie das Geld selbst als kapitalistische Keimform seit Jahrhunderten schlummernd, werden sie zur relevanten Form gesellschaftlicher Vermittlung im Hochkapitalismus. Der fetischistische Charakter der kapitalistischen Gesellschaft spitzt sich mit ihrer Entfaltung zu. Das Verschwinden konkreter Kapitalisten und die Machtabtretung an Aktiengesellschaften ist nichts was von Marx nicht vorhergesehen worden wäre. Vielmehr präsentiert sich damit die von ihm dargestellte volle Entfaltung des kapitalistischen Zusammenhangs.
Fortschreitende kapitalistische Entwicklung sorgte im späteren 19. Jahrhundert dafür, dass Investitionen immer weniger von einzelnen Unternehmern finanziert werden konnten. Diese mussten vielmehr Geld borgen, um ausreichend auf dem National- bzw. Weltniveau entsprechend produzieren zu können. Man sagt, ihre Solvenz sinkt – sie können nicht mehr mit eigenem Kapital wirtschaften, sondern müssen einen Kredit aufnehmen. Es entstehen die Banken, also Kreditinstitute, welche Geld gegen einen Preis, den Zins, an Unternehmer verborgen. Damit kommt es zu einer strukturellen Spaltung des Kapitals: es teilt sich auf in Realkapital auf der einen Seite, welches real produziert (Rohmaterial zu Gütern umformt) und Arbeitskraft vernutzt und dem zinstragenden Kapital auf der anderen Seite, welches akkumuliert, indem es verliehen wird. Dabei ist zunächst klar, dass die Bank nur dann Gewinne durch Zinsen erwirtschaften kann, wenn das verliehene Kapital tatsächlich real Arbeitskraft verwertet und die produzierten Waren auf dem Markt ihren Wert realisieren können. Gelingt dies nicht, so kann der Kredit nicht zurückgezahlt werden, das Unternehmen und eventuell auch das Kreditinstitut bankrottieren.
Auf der Stufe des zinstragenden Kapitals zurrt sich die Formel der Kapitalverwertung von G-W-G’ zusammen auf G-G’. „Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältniß eine äußerlichste und fetischartigste Form. Wir haben hier G-G’, Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertenden Wert, ohne den Prozeß, der die beiden Extreme vermittelt(…). Wir haben hier den ursprünglichen Ausgangspunkt des Kapitals, das Geld in der Formel G-W-G’ reduziert auf die beiden Extreme G-G’, (…), Geld, das mehr Geld schafft. Es ist die ursprüngliche und allgemeine Formel des Kapitals, auf ein sinnloses Resume' zusammengezogen. Es ist das fertige Kapital, Einheit von Produktionsprozeß und Zirkulationsprozeß, und daher in bestimmter Zeitperiode bestimmten Mehrwert abwerfend (…). Das Kapital erscheint als mysteriöse und selbstschöpferische Quelle des Zinses, seiner eigenen Vermehrung. Das Ding (Geld, Ware, Wert) ist nun als bloßes Ding schon Kapital, und das Kapital erscheint als bloßes Ding; das Resultat des gesamten Produktionsprozesses erscheint als eine, einem Ding von selbst zukommende Eigenschaft (…). Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst (…). Es wird ganz so Eigenschaft des Geldes, Wert zu schaffen, Zins abzuwerfen, wie die eines Birnbaums, Birnen zu tragen (…). In G-G’ haben wir die begriffslose Form des Kapitals, die Verkehrung und Versachlichung des Produktionsverhältnisses in der höchsten Potenz“ (K 3, S. 404 ff).Vom Standpunkt des Kreditgebers aus betrachtet ist überhaupt keine materielle Produktion mehr nötig, um das Kapital zu verwerten. Das Kapital scheint aus sich selbst den Zins zu treiben. Es scheint direkt sich selbst gegenüberzustehen, nur auf sich selbst rückgekoppelt zu sein. „Sein (des Wertes) Dasein als Kapital [ist] die stete Vorraussetzung des kapitalistischen Produktionsprozesses. Durch seine Fähigkeit, sich in Produktionsmittel zu verwandeln, kommandiert es beständig unbezahlte Arbeit (…). Der Zins ist also nur der Ausdruck davon, daß Wert überhaupt – die vergegenständlichte Arbeit in ihrer allgemein gesellschaftlichen Form – Wert, der im wirklichen Produktionsprozeß die Gestalt der Produktionsmittel annimmt, als selbständige Macht der lebendigen Arbeitskraft gegenübersteht (…). Andererseits jedoch ist in der Form des Zinses dieser Gegensatz gegen die Lohnarbeit ausgelöscht; denn das zinstragende Kapital hat als solches nicht die Lohnarbeit sondern das fungierende Kapital zu seinem Gegensatz“ (K 3, S. 392).
Durch Beschleunigung der einzelnen Phasen der Zirkulation, des Umlaufprozesses des Kapitals und die Bildung von Aktiengesellschaften wird der Kredit, wie Marx schreibt, zum Treibsatz weiterer kapitalistischer Entwicklung. Dadurch kommt es zu bisher für unmöglich erachteter Ausdehnung der Produktion. Kapital wird möglichen Unternehmungen direkt zugänglich. Durch die „Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremden Kapitals, und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten (…)“ kann sich die kapitalistische Produktion weiter beschleunigen (K3, S. 452).
Dies ist durchaus im doppelten Sinne zu verstehen: einerseits treibt der Kredit die materielle Produktion voran, sorgt für die Ausweitung und Intensivierung der Produktion, wie sie anders nicht auch nur ansatzweise denkbar gewesen wäre. Andererseits treibt er das zutiefst fetischistische Wesen des Kapitals voran. Unter der Herrschaft des Kredits wird der Kapitalismus abstrakter und unpersönlicher. Der Schein direkter persönlicher Herrschaft verblasst immer mehr, wird immer unwahrer. Die Unternehmen selbst verwandeln sich in Aktiengesellschaften, die die Leitung der Produktion einem Management übertragen – die kapitalistische Gesellschaft wird immer weniger kontrollierbar – „In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum (…). Es ist dies Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion. Es ist (…) Durchgangspunkt zur Verwandlung aller mit dem Kapitaleigentum bisher noch verknüpften Funktionen (…) in gesellschaftliche Funktionen“ (K 3, S. 453).
Im zinstragenden Kapital kommt die Abhängigkeit der realen Produktion, also der stofflichen Umformung von Natur vom Verwertungsprozess voll zum Durchschlag. Produktion muss jetzt immer weiter vorangetrieben werden, schlicht um den aufgenommenen Kredit bedienen zu können.
Diese Tatsache lässt bedeutsame ideologische Friktionen auftreten. „Ausgangspunkt und Rückkehrpunkt, Weggabe und Rückerstattung des verliehenen Kapitals erscheinen also als willkürliche, durch juristische Transaktionen vermittelte Bewegungen, die vor und nach der wirklichen Bewegung des Kapitals vorgehen und mit ihr selbst nichts zu tun haben (….) Beim zinstagenden Kapital scheint seine Rückkehr als Kapital von der bloßen Übereinkunft zwischen Verleiher und Anleiher abzuhängen (…). Wir sehen nur Weggabe und Rückzahlung. Alles was dazwischen vorgeht, ist ausgelöscht.“ (K3, S. 360 - 362).
Die Tatsache der Notwendigkeit der Verwertung kann im reflektierenden Bewusstsein der Menschen zu einem eigenständigen Wesen verdinglicht und im angeblich bösartigen zinstragenden Kapital dämonisiert werden. Als wäre die reale Produktion nicht die tatsächliche Grundlage des Zinses! Als wäre der Zins nicht die Basis dafür, dass ein voll entwickelter Kapitalismus überhaupt bestehen kann! Es kommt somit in der Ära des Kapitalismus auf der Basis von Zins und Kredit zur Entstehung zahlreicher Ideologien des verkürzten Antikapitalismus. Historisch schließt dieser an den mittelalterlich überkommenen Antijudaismus an und amalgamiert zur mörderischen und tendenziell zur Vernichtung von Menschen schreitenden Ideologie des Antisemitismus (vgl. dazu meinen Text „Was ist Antisemitismus“ unter www.wertkom.org).

4) Fiktives Kapital

Das fiktive Kapital stellt eine weitere Stufe der Fetischisierung des Kapitals dar.
Ist beim zinstragenden Kapital noch klar, dass die Grundlage des Zinses die gelingende Verwertung von Arbeitskraft im kapitalistischen Produktionsprozess darstellt, so erfolgt im fiktiven Kapital die fetischistische Trennung von dieser Grundlage. „Die Form des zinstragenden Kapitals bringt es mit sich, dass jede bestimmte und regelmäßige Geldrevenue als Zins eines Kapitals erscheint, sie mag aus einem Kapital entspringen oder nicht. Erst wird das Geldeinkommen in Zins verwandelt, und mit dem Zins findet sich dann auch das Kapital, woraus es entspringt. Daher erscheint dem zinstragenden Kapital jede Wertsumme als Kapital, sobald sie nicht als Revenue verausgabt wird (…)“ (K 3, S. 482).
Real kommt es zur Bildung fiktiven Kapitals, wenn ein alter Kredit, der nicht mehr durch reale Produktion gedeckt werden kann, mit einem neu aufgenommenen Kredit bedient wird und die Gesellschaft so einen unaufhörlich wachsenden Berg fauler Kredite vor sich her schiebt. Ebenso ist von fiktivem Kapital bei der Spekulation auf die künftige Entwicklung des Aktienkurses zu sprechen (die typischen Formen des fiktiven Kapitals, die Marx anführt sind: die Wertpapiere, wie Staatspapiere, Schatzscheine, Aktien, Hypotheken sowie Noten, vgl. K3, S. 481f). Im hochentwickelten Kapitalismus befinden sich die Unternehmungen zunehmend in den Händen von Aktiengesellschaften – AGs. Das heißt, das Unternehmen wird zwischen vielen Menschen, den „Teilhabern“ aufgeteilt. Jeder Teilhaber am Unternehmen besitzt eine bestimmte Zahl von Aktien. Diese Anzahl drückt seinen Anteil am Unternehmen aus. Eine Aktie wirft nun einen zweifachen Gewinn ab. Einerseits die Dividende, welche den realen Gewinn des Unternehmens widerspiegelt und andererseits der Aktienkurs, der durch die Spekulation auf zukünftige Gewinne des Unternehmens zu Stande kommt. Dabei wird dann allerdings mit Geldern gerechnet, die tatsächlich real erst in weiterer Zukunft erwirtschaftet werden – bzw. nach heutigen Verhältnis am Aktienmarkt überhaupt nie. Eine Gesellschaft, die auf dem zinstragenden Kapital beruht, ist eine Gesellschaft, die auf der Ansaugung und künftigen Vernutzung von Ressourcen beruht. Reale Produktion wurde nun offenkundig zum Anhängsel realer Produktion.
Eine Gesellschaft, die auf fiktivem Kapital beruht, treibt aus sich die Ideologie hervor, nach welcher überhaupt keine reale Produktion, keine reale Vernutzung wirklicher Arbeitskraft vollzogen werden muss. „Die Bildung des fiktiven Kapitals nennt man kapitalisieren. Man kapitalisiert jede regelmäßig sich wiederholende Einnahme, indem man sie nach dem Durchschnittszinsfuß berechnet, als Ertrag, den ein Kapital, berechnet zu diesem Zinsfuß, abwerfen würde. (…) Aller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozeß des Kapitals geht also bis auf die letzte Spur verloren, und die Vorstellung vom Kapital als einem sich selbst verwertenden Automaten befestigt sich.“ (K3, S. 484)
Gesellschaftskritik ist hier zum unerbittlichen Agieren gegen derartige Verzerrungen aufgerufen. Sie muss klar über den tatsächlichen Charakter des fiktiven Kapitals aufklären. Sie muss klarstellen, dass es sich hierbei nicht um schmarotzerhaftes Aussaugen des realen, guten Produktionsprozesses handelt und dass das fiktive Kapital Ausdruck einer fetischistischen, sich über die Köpfe der Menschen vollziehenden, durch die abstrakte Vermittlung durch entfremdete Arbeit konstituierte Gesellschaft ist und dass das fiktive Kapital der am vollkommen verschleiertste Ausdruck dieser Gesellschaft ist.
„Aber das Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis, das sich an einem Ding darstellt und diesem Ding einen spezifisch gesellschaftlichen Charakter gibt“ (K 3, S. 822). „(…) der wirkliche Produktionsprozeß, als Einheit des unmittelbaren Produktionsprozesses und des Zirkulationsprozesses, erzeugt neue Gestaltungen, worin mehr und mehr die Ader des inneren Zusammenhangs verloren geht (…)“ (K 3, S. 836).
Die kapitalistische Gesellschaft selbst ist als fetischistisches wertvermitteltes Verhältnis anzugreifen. Zurückzuweisen sind traditionsmarxistische Positionen etwa der Gruppe „wildcat“, die das Fetischprinzip gerade anders herum verstehen: als verschleiernden Ausdruck eines an sich rationalen Verhältnisses, in welchem nur verdeckt wird, dass die Arbeiter den wirklichen gesellschaftlichen Reichtum schaffen, den sie sich nach dieser großartigen Erkenntnis nur noch selbst aneignen müssten. Stattdessen muss das fetischistische Prinzip gesellschaftlicher Vermittlung selbst angegriffen und die Arbeit in dieser Form überwunden werden.

5) No Future: Die unüberwindliche Dauerkrise des Kapitals

Infolge des dem Warenverhältnis immanenten inneren Gegensatzes ist die kapitalistische Produktion eine von Anbeginn widersprüchliche und gegensätzliche. Die im Kapitalismus angelegte Dynamik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen treibt deshalb zur Krise. Der Begriff der Krise umfasst einen Zustand, indem sich der Widerspruch dieser Gesellschaft derartig zuspitzt, dass sich nur noch der Weg in den zunehmenden Verfall dieser Gesellschaft bzw. ihre emanzipatorische Überwindung denken lassen. Krise ist als Begriff unmittelbarer Zuspitzung zu fassen.
Diese Zuspitzung vollzieht sich vor dem Hintergrund des Absackens nicht nur der Profitrate, sondern auch der gesamt vernutzten Menge Arbeitskraft überhaupt (vgl. Teil II dieser Artikelserie im CEE IEH #109).
Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswertes. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört die Bedingung des allgemeinen Reichtums zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen.
Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren stört, während es andererseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. Es vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung… für die notwendige“ (Grundrisse, S. 593 ff.).
Nicht nur der individuelle Profit des einzelnen Kapitalisten, sondern der gesamte Verwertungskuchen schmilzt ab: die Substanz des Wertes verringert sich. Dabei ist Substanz hier auf keinen Fall als physiologisches Substrat zu verstehen. In der hegelschen Dialektik steht der Begriff der Substanz für den sich auf sich selbst beziehen Geist der menschlichen Gattungsgeschichte, für das ständige Sich-Auf-Sich-Selbst-Beziehenden und Aus–Sich-Selbst-Entfalten des menschlichen Denkens. In dieser Weise bezieht sich im Kapitalverhältnis der Wert auf sich selbst und verwertet sich dabei. Aber auch hier beißt die Maus keinen Faden ab: der Wert ist die Darstellung von etwas (nämlich realer Vernutzung menschlicher Arbeitskraft) und wo nichts mehr ist, kann nichts mehr dargestellt werden und wo tendenziell immer weniger ist, wird das gesamte Verhältnis zunehmend prekär. Die Verwertung des Werts bleibt an die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft gebunden, da der Wert eine Darstellung dieser ist. Daraus, dass der Wert eine Form des Sich-Aufeinander-Beziehens ist, wird vielfach geschlossen, dass es überhaupt nicht entscheidend sei, ob nun tatsächlich produktiv verwertet wird oder nicht – entscheidend sei die durchgesetzte Denkform – so z.B. die Initiative Sozialistisches Forum (ISF) in: „Der Theoretiker ist der Wert“. Diese Argumentationen blamieren sich aber an ihren Nicht-Verständnis der Doppelform des Reichtums, die zentrales Thema dieser Artikelserie ist. Die stoffliche Produktion ist zwar nur ein Anhängsel der kapitalistischen Produktion aber ein notwendiges Anhängsel. Der stofflich geschaffene Reichtum muss sich in Quanta menschlicher Arbeitszeit darstellen. Dabei müssen immer mehr Mengen stofflichen Reichtums in immer geringerer Zeit geschaffen werden. Eine steigende Menge stofflichen Reichtums repräsentiert immer weniger Quanta Arbeitszeit (vgl. Brick/ Postone: Der kritische Pessimismus… , in: Bonß/ Honneth, S. 207). Das bedeutet nicht, dass es einen „großen Knall“ geben muss(6), in welchem der Kapitalismus verschwindet. Vielmehr haben wir es mit einem zunehmenden Prekär-Werden des Wertverhältnisses zu tun. Dauerkrise heißt: es kann unter fortbestehenden kapitalistischen Bedingungen nur noch schlechter werden und mit jedem weiteren Tag Kapitalismus schwindet die Möglichkeit der Befreiung.
Mit dem Absacken der verwertenden Arbeit erfolgt eine Überwucherung produktiver Bereiche der Gesellschaft durch unproduktive (vgl. Teil II, CEE IEH #109) und die rein spekulativen Geldmengen des fiktiven Kapitals sind nicht mehr durch reale produktive Verwertung abgedeckt. Das Wertverhältnis wird als ganzes prekär. Damit erfolgt die Zuspitzung dieser Gesellschaft und somit der Zustand der Krise. Die Integrationskraft des Systems schwindet, die zentrifugalen Kräfte nehmen zu. Damit steigt auch – bei Strafe zunehmenden Elends - die Notwendigkeit einer Aneignung des stofflichen Reichtums durch frei assoziierte INDIVIDUEN: Es eröffnet sich die Chance – nicht die zwingende Notwendigkeit – einer emanzipatorischen Überwindung der Doppelform des Reichtums und der Überwindung des Zustandes, indem ein von den Menschen nicht gewusstes und verstandenes Prinzip über ihre Köpfe hinweg die Gesellschaft synthetisiert. „Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden“ (K 3, S. 828).

6) Abwehr reaktionärer Krisenideologien und „schwarzer Utopien“ (Kurz)

Diese Situation der Krise ruft neben der Möglichkeit einer emanzipatorischen Überwindung des Kapitalismus auch reaktionäre Krisen- bzw. Antikrisenideologien auf den Plan. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, trotz aller Widrigkeiten, in denen sich das Verwertungssystem befindet, doch noch weiterzumachen, sei es mit brutalsten Mitteln. Krisenideologien zielen häufig auf ein „wir schaffen es gemeinsam, wenn wir alle mit anpacken“ und eine Einschwörung auf Staat und angeblich natürliche Gemeinschaften ab. Häufig gebärden sie sich explizit antikapitalistisch – dass heißt gegen Markt und Privateigentum gerichtet. Der traditionelle Marxismus unterliegt daher in der heutigen Dauerkrise der Tendenz, sich den reaktionären Krisenideologien anzunähern – weshalb alle Versuche der Wiederbelebung von Klassenkampf und Arbeiterstandpunkt kompromisslos attackiert werden müssen. Da sie ihrer realen historischen Grundlage, der Entfaltung der Arbeiter als bürgerliches Subjekt, beraubt sind, können sie heute, zumindest der inneren Logik des Systems gemäß, nur noch regressiv sein.
Auch die einst fortschrittlichen liberalen Ideologien mit ihrer Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten sind heute nur noch als Exekutoren des krisenhaften Zerfalls zu begreifen. Demokratie steht heute für nichts weiter als für den selbst bestimmten Marsch des bürgerlichen Subjekts in die Barbarei. Daher ist für die Seite der Demokratie und der Menschenrechte überhaupt genauso wenig Partei zu ergreifen wie für ihre Gegenseite. Innerhalb der radikalen Linken sind es besonders die so genannten „Antideutschen“ (in Leipzig in reinster Form durch das BgR verkörpert), die heute noch den einst vorwärtstreibenden, heute jedoch steinzeitlich anmutenden und hoffnungslos systemimmanenten Konflikt zwischen Moderne und Gegenmoderne ausschlachten wollen. Mit ihrer Positionierung für die Moderne treiben sie regressive Tendenzen ebenso wie die Gegenmoderne voran.
Gegen alle derartige Strömungen ist auf radikalster Fortschrittsfeindlichkeit und Hoffnungslosigkeit zu bestehen. Fortschritt kann heute nur noch Zerstörung bedeuten und Hoffnung heißt heute nur noch, dass es irgendwie doch auf dem Boden der Moderne weiter gehen könnte. Fortschritt und Hoffnung bedeuten heute nichts weiter als sich zusammenreißen und doch noch weiter zu machen und damit den zur Barbarei treibenden Zuständen nachzuhelfen. Es geht also um ein offensives Bekenntnis zur Fortschrittsfeindlichkeit,(7) Hoffnungslosigkeit und Antimodernität. Denn „erst wenn die Menschheit versteht, dass es auf dem bisherigen Weg keine Hoffnung mehr gibt, wird sie in die Lage versetzt, endlich zu handeln (…). Das Prinzip Hoffnung zwingt uns zu immer größeren Verdrängungskunststücken (…). Das Aufgeben der Hoffnung ist der erste Schritt des Menschen sich seiner Situation bewusst zu werden (…)“ (H.J. Rieseberg: Arbeit bis zum Untergang. Die Geschichte der Naturzerstörung durch Arbeit, München 1992).
Teil IV der Abhandlung wird in der Betrachtung des patriarchalen Charakters der warenproduzierenden kapitalistischen Gesellschaft die männliche Grundkonstitution der Moderne betrachten. Ebenso soll dort auf die ökologischen Dimensionen der Krisentheorie eingegangen werden.

Literatur:

– Literaturangaben zu Brick/Postone in: Bonß/Honneth ab S.29
– Karl Marx: Das Kapital – Band 1+3, MEW 23 und 25
– Ders: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13
– Ders: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953
– Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003
– Robert Kurz: Die Himmelfahrt des Geldes, Krisis 15/16, Bad Honnef 1996
– Cornelia Hafner: Gebrauchswertfetischismus, in: Behrens, Diethard: Gesellschaft und Erkenntnis. Zur materialistischen Erkenntnis- und Ökonomiekritik, Freiburg 1993

Martin Dornis

Fußnoten

(1) Entgegen traditionellen marxistischen Positionen war es überhaupt nicht das Ziel von Marx, die Regulierung der Preise auf dem Markt zu beschreiben – also die klassische ökonomische Frage nach der Preisbildung zu behandeln. Vielmehr versucht Marx mit der Kategorie des Werts zu erfassen, dass die kapitalistische Gesellschaft auf dem ständigen Vernutzen menschlicher Arbeitskraft beruht, dass Menschen sich für die Existenz dieses Systems sinnlos vernutzen müssen und dass sie damit gesellschaftliche Strukturen selbst schaffen, die sie nicht nur nicht kontrollieren können, sondern die sich sogar tendenziell gegen sie selbst wenden müssen. Dies genau drückt die fetischistische Kategorie des Preises bei Marx dann auch aus: es soll nicht erklärt werden, wodurch der Preis entsteht, sondern es soll dargestellt werden, dass sich der Wert als basale, durch menschliches Handeln geschaffene Kategorie eben nur verschleiert ausdrückt, nämlich als Preis auf dem Markt.
(2) Freilich ist der Wert nicht nur eine Kategorie der Produktion, sondern jene Kategorie auf der die gesamte kapitalistische Gesellschaft gründet. Um diesen Sachverhalt zu verhandeln, muss jedoch auf das patriarchale Geschlechterverhältnis eingegangen werden, auf deren logischer Grundlage sich überhaupt erst eine über den Wert vermittelte Gesellschaft entwickeln konnte. Um dies zu erfassen, ist die über den Wert vermittelte widersprüchliche Gesellschaft in die von Roswitha Scholz skizzierte Dialektik von Wert und Abspaltung einzubetten. Dies erfolgt im vierten und letzten Teil dieser Abhandlung.
(3) Postone spricht hier von einer Dialektik von Transformation und Rekonstitution, Adorno versucht sich dem Problem in der Betrachtung über „Statik und Dynamik als soziologische Prinzipien“ anzunähern – worauf hier aber nicht eingegangen werden kann.
(4) also die Maschinen, Werkzeuge, Produktionsmethoden, ihnen dienende Wissenschaft und Technik sowie die Arbeitskräfte samt ihrer Geschicklichkeit
(5) Das bedeutet aber nicht, dass er NUR ein Produktionsverhältnis wäre – vielmehr ist er die die Warengesellschaft insgesamt strukturierende Kategorie
(6) Was aber durchaus auch heißen kann, dass es möglich ist, dass der Kapitalismus tatsächlich in einem großen Knall verschwindet. Der Zerfall des bürgerlichen Staates und des ihm entsprechenden Subjekts setzen heute immense Zerstörungs- und Todespotentiale frei, die sich durchaus in einem „großen Knall“ ausdrücken können.
(7) Adorno, selbst noch ein Fortschrittsfreund, wenngleich einer der reflektiertesten, erkannte die destruktive Tendenz der Moderne aus ihrer inneren Dialektik heraus, scheute sich aber vor den Konsequenzen, kritisierte daher die Moderne auf dem Standpunkt der Moderne, verfiel damit einer Ideologie, die die Brutalitäten des Fortschritts nur aus der Tatsache erklärt, dass man eben noch nicht fortschrittlich genug sei, man also noch fortschrittlicher werden müsste. (Für jene, die ihn heute beim Wort nehmen und weiteren Fortschritt in der Dauerkrise einfordern und damit das Gewicht zugunsten der Barbarei verlagern, ist Adorno allerdings nicht haftbar machbar). Die theoretische Basis dieser Denkweise ist die Ausblendung des Formproblems des Reichtums, wie sie innerhalb der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zunächst in Pollocks Ökonomiekritik formuliert wurde, später besonders von Horkheimer kolportiert wurde (vgl. Postone 2003: S. 141 ff). Auch für Adornos Denken ist sie stillschweigende Grundlage, auch wenn dessen Analysen über die anderer Autoren des Frankfurter Umfeldes hinausgehen.


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last modified: 28.3.2007