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Anything Else?


Der Stadtneurotiker, 26.5k
Woody Allen: Der Stadtneurotiker
Woody Allen: Anything Else?

Woody Allen und seine Filme

Allens neuer Film hält die ein oder andere Überraschung bereit. Sicher rekurriert er auf die selben Themen, die in seinen älteren Filmen eine Rolle spielten, doch zeigt sich eine andere, unverhoffte Seite in „Anything Else“. Allen findet sich in seinem neuen Film in einer gänzlich anderen Rolle wieder, als er sie bis jetzt verkörperte. Die Geschichte scheint eine Aufarbeitung seiner bisherigen Charakterrollen zu sein. Allen, der den sechzigjährigen David Dobel spielt, unterrichtet „students“ mit denen er herzlich wenig am Hut hat. Durch einen Zufall – und das ist wieder signifikant für Allen und die oft thematisierten Zufallsbegegnungen in seinen Filmen – trifft er im Central Park den jungen Schriftsteller Jerry Falk, der von Jason Biggs gespielt wird. Biggs spielt den typisch männlichen, neurotischen Charakter, den Allen in seinen früheren Werken, zum Beispiel in Form von Alvy Singer, im Film „Manhattan“ verkörperte. Dobel übernimmt die Lehrerrolle und versucht Falk über alle Unannehmlichkeiten, die das Leben zu bieten hat, aufzuklären. Dem aufstrebenden Schriftsteller wird nicht nur erläutert, warum das Verhältnis des Sketch-Schreibers zur „Industrie“ einen hinterhältigen, verlogenen Beigeschmack hat, sondern auch die persönlichen Belange der Person Jerry Falk werden thematisiert. Amanda (Christina Ricci) ist die Frau an J.F’s Seite. Das Verhältnis zwischen Jerry und Amanda erinnert stark an die Vorgängerfilme Woody Allens. Während in „Annie Hall“ (dt. Titel: „Der Stadtneurotiker“), die Beziehung zweier neurotischer nicht sein könnender Charaktere von Woody Allen und Diane Keaton dargestellt wurde, so sind es in „Anything else“ Jason Biggs und Christina Ricci, die die nicht alltäglichen und alltäglichen Probleme des Lebens in ihren Rollen recht eindrucksvoll näher bringen. Immer wieder kommt es zu Spannungen in ihrer Beziehung. Falk holt sich dazu den Rat seines Psychoanalytikers, während Amanda mit ihren Problemen auf andere Art und Weise fertig wird. Sie neigt zu Zwangshandlungen, welche sie auf Hinweis ihres Freundes immer wieder verleugnet und als Quatsch abstempelt. Deutlich wird ihr psychisches Problem auch an ihrer Hypochondrie und ihrer Tablettenabhängigkeit – etwas, das für sie völlig normal erscheint und zum Upper Eastside-Girl-Dasein dazu gehört. Die Erfolglosigkeit als Sängerin und Schauspielerin sowie der ständige Vergleich mit Falk führen schließlich zu immer größeren Spannungen zwischen den beiden, die auch nicht besser werden, als Amandas Mutter in die gemeinsame Wohnung einzieht. Falk gerät in eine tiefe Leidenszeit, bei der ihm Dobel mehr helfen kann als sein Analytiker es je vermochte. In den Gesprächen zwischen den beiden scheint etwas auf, dass man bei Allen immer vermutet hatte, aber für viele unglaubwürdig war. Nämlich dass Allen die Psychoanalyse oft thematisiert, sie jedoch damit noch lange nicht positiv bewertet. Der Psychoanalytiker wird zum Halsabschneider stilisiert, der viel Geld, aber nicht viel Glück wünscht und dies auch recht unverblümt zum Ausdruck bringt. Ältere Charaktere Allens waren alle beim Analytiker, nachträglich scheint es eine Jugendflause gewesen zu sein, beim „Psycho“ seine Zeit auf der Couch zu verbringen. Allen geht mit der Psychoanalyse hart ins Gericht. Er tut es aber nicht, weil er ihren Wahrheitsanspruch für ungerechtfertigt hält, sondern weil er als Bürger die Einsichten in sein Triebleben zu einer Intimität erhebt, über die der Psychoanalytiker eigentlich gar nichts wissen darf und kann. Deshalb liegen die Charaktere meist schon Jahrzehnte auf den mit rotem Samt bezogenen Liegeelementen, hinter denen ein kitteltragender Medicus auf einem, mit grünem aber gleichartigen Stoff bezogenen Sitzelement platzgenommen hat, ohne dass eine spürbare Verbesserung ihrer Lebensqualität zu verzeichnen ist. Überhaupt, die Ansicht, der Sexualtrieb sei bestimmend für das menschliche Handeln, ist Allen zuwider. Das gleiche Problem, welches der Bürger und der Philosoph des frühen zwanzigsten Jahrhunderts hatten, als die psychoanalytische Triebtheorie verfasst wurde, sucht Woody Allen heim. Das alte Bürgertum, wie heute Allen, konnte nicht mit der Theorie leben, es gäbe einen ursprünglichen Trieb. Die Triebtheorie war zu „anthropologisch“, zu „naturalistisch“, als dass sie es weiter zuließ, einen Moralbegriff oder Vernunftbegriff zu formulieren, ohne auf die Bedürfnisse und Triebe des Subjekts zu rekurrieren. Der rationale, sich selbstdisziplinierende Bürger – von Allen immer wieder in Szene gesetzt – fürchtet sich davor, dass seine Ratio scheinbar unterwandert und sein Handeln nicht von einer „reinen“ Vernunft bestimmt wird.

Das frühere Ich

Dobel erkennt in Falk zweifelsfrei sein früheres Ich wieder. All die Ratschläge des alten Mannes beginnen mit Anmerkungen über seine eigene Geschichte und dass die Vorfälle in Fortners Leben dem von Dobel gleichen. Deshalb auch die Ratschläge über den Umgang mit Psychoanalytikern oder Frauen. Als Falk erwähnt, seine Freundin schlafe seit einem halben Jahr nicht mehr mit ihm und er gehe zum Analytiker, um sich Ratschläge zu holen, meint Dobel, er habe das früher auch getan, könne aber nur empfehlen, von den Ratschlägen dieser Halsabschneider Abstand zu nehmen und Amanda sausen zu lassen. Auch hier wieder ein Seitenhieb auf die alten Filme Allens. In „Annie Hall“ schläft Annie (Diane Keaton) nicht mehr mit Alvy (Woody Allen). Während er sich gegen diesen Zustand wehrt und versucht, den sinkenden Kahn an Land zu bringen und auch zum Analytiker geht, ist Annie passiv und von der Beziehung so enttäuscht, dass sie alles hinwerfen möchte, oder zumindest für eine Weile die Nähe eines anderen Mannes sucht, was am Ende in der Trennung mündet. Christina Ricci übernimmt diese Rolle in „Anything else“ und spielt sie sehr überzeugend. Aber nicht nur der neurotische Umgang mit den eigenen Beziehungskisten steht im Vordergrund, sondern auch die Paranoia des „Stadtneurotikers“ Woody Allen, die er einst in „Annie Hall“ versuchte darzustellen. Dobel ist wie einst Alvy Singer Jude und fühlt sich als solcher jeden Moment seines Lebens verfolgt und dem Antisemitismus der Gesellschaft ausgesetzt. Noch krasser als Singer damals, vermutet Dobel heute die Gefahr des totalen Zusammenbruchs der Zivilisation und die damit verbundene Gefahr der Jagd auf den Juden und dessen letztendliche Vernichtung. So gibt es eine Szene, in der sich Falk und Dobel treffen und Dobel Falk auffordert, mit ihm in ein Waffengeschäft zu fahren, da man als Jude nirgendwo sicher sei und auf alles gefasst sein müsse, sogar auf den Verrat durch die eigenen jüdischen Gemeindemitglieder an Nazis. Dobel stellt Falk vor die Frage: „Willst du dir eine Waffe kaufen oder in einem Güterzug enden?“ Allen paraphrasiert das eigene Verhältnis zum Antisemitismus auf einer Ebene, die man bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte. Und damit ist es mit den Überraschungen für den „Allen-Liebhaber“ noch nicht genug. Dobel, wie Singer ein Kind New Yorks, das die Westküste hasst, macht Falk das Angebot, nach Kalifornien zu gehen, da es dort noch Leute gäbe, die seinen Humor zu schätzen wüssten.
Am Ende entscheiden sich beide für den Weggang aus New York, doch nicht ohne dass sich Falk noch einmal umsieht und versucht, über das Verhältnis zu seiner Geliebten zu reflektieren, wie es einst Singer tat. Ein letztes Mal rückt hier die Psychoanalyse in den Lichtkegel der Kritik, die wie so oft personifizierend ist. Amanda ist nun mit Falks Psychoanalytiker zusammen und schlendert wohlgemut mit ihm die Straße entlang – ein Ende, das zum Schmunzeln anhält.
Letztendlich ist „Anything else“ der inoffizielle Nachfolger von „Annie Hall“. Biggs vertritt den Alvy Singer seiner Generation und Dobel – als vom Leben Gezeichneter – spiegelt ihm unweigerlich seine Zukunft vor. Der Stadtneurotiker ist alt geworden und man wird den Eindruck nicht los, dass Woody Allen abrechnen will, so lange er noch in der Lage dazu ist. So ist der Film ein Rückblick auf das alte Werk Allens und auf das, was die Charaktere Allens immer waren: neurotische Zeitgenossen, Ausdruck der verrückten Verhältnisse in denen sie leben mussten.

Kaubi

PS: Auch Modeinteressierte werden im Film auf ihre Kosten kommen. Jason Biggs trägt sehr oft Carhartt-Denim-Single-Knee Hosen und dazu Hemden und Sackos. Es bleibt abzuwarten, ob dieser kleine Trend, den es in Leipzig schon länger gibt, einen Aufschwung erfahren wird.

In der Braustraße 20 läuft am Dienstag, den 12.10., um 21.00 Uhr der Stadtneurotiker.


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last modified: 28.3.2007