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Zwischen Eskapismus und Wirklichkeit



Tocotronic

Tocotronic, 24.5k

La Grande Illusion

La Grande Illusion, 18.4k

Hallo, liebe Leserinnen und Leser dieser Ausgabe unseres kleinen, aber feinen Programmheftes. Mir wurde die verantwortungsvolle Aufgabe übertragen, einen Ankündigungstext für eine Band zu schreiben, welche sich über Jahre nun mehr bis in die Tagesthemen gearbeitet hat. In sämtlichen Feuilletons wurde ihre neue Platte „Pure Vernunft Darf Niemals Siegen“ rezipiert, verklärt und bestritten. Ich meine Tocotronic.
Was soll ich da als kleiner hinterprovinzieller Schreiber noch berichten. Dass ich die neue Platte schön finde, dass andere sie nicht gut finden und nach wie vor alten Zeiten hinterher heulen, als die Herren aus Hamburg noch anti, indi und vollkommen authentisch waren. Aber man stelle sich Dirk von Lotzow mit 65 Jahren vor. Mit Bierbauch und einer blau-weißen Trainingsjacke, wie er „Ich Möchte Teil Einer Jugendbewegung Sein“ in ein Mikrophon grölt. Das verliert doch erst recht an Glaubwürdigkeit bzw. wäre es so was von infantil, dass es mir peinlich wäre ihm zu zuhören. Nein nein – die Herren sind älter geworden und haben sich dem-entsprechend weiterentwickelt.
Haben sich Tocotronic auf früheren Platten an dem Wirklichen und den fassbaren Missständen orientiert, so steht die neue Platte im Zeichen der Abkehrung zu dieser Welt, in der alles immer fassbar und machbar sein muss. Es ist eine Flucht aus der realen Welt in eine Traumwelt, in der eigene Gesetze gelten. In der Literatur ist diese Weise mit Eskapismus beschrieben, wobei Eskapismus keine eigene Gattung darstellt, sondern vielmehr die Motive der Leser beschreibt, welche sich der grauen Alltagswelt entziehen wollen. Kritisiert wird daran vor allem, dass der Leser verblendet wird und dass auch diese geschönten, ans Mittelalter angelehnten Welten niemals in dieser Form existiert haben. Sich in eine Phantasie-Welt zu fliehen und die Augen vor dem eigenen Leben zu verschließen, und das zum Teil für lange Zeit (man beachte die mehrbändigen Reihen und die hohen Seitenzahlen), wird den Lesern vorgeworfen – die Illusion der Wirklichkeit vorzuziehen.
Nun würde ich diesen Vorwurf gegenüber Tocotronic und dem neuen Album nicht absolut geltend machen, denn in dem Stück „Aber Hier Leben Nein Danke“ gibt es sehr wohl einen Bezug zur Realität. So ist es auch eine Anklage gegen das Gemütlich machen auf der Couch, gegen das Sich einrichten und dann mal abschalten. Die Vier sind sich durchaus bewusst, dass man sich mit der Welt und ihren Zuständen auseinander setzen muss. Und das in allen Bereichen des Lebens. Beispiel: Als die Deutsch-Pop-Trottel-Vereinigung (DPTV) im letzten Jahr wieder einmal versuchte, Bands wie Tocotronic für sich und ihren nationalen Gefühlsdusel zu gewinnen, haben Tocotronic geschalten und ein eindeutiges Statement auf ihrer Internetseite veröffentlicht. Auch bei den Tagesthemen haben sie noch einmal verdeutlicht, dass man mit ihnen nicht zu rechnen braucht, wenn es um die musikalische Standortverschönerung Deutschlands geht. Es schließt sich in meinen Augen also nicht aus, auch einmal über Träume und nicht Reales zu schreiben und dabei nie den Blick für die Wirklichkeit zu verlieren. Ja und die, die sich nicht abfinden wollen mit der Entwicklung Tocotronics, die sollten einfach selber Kinder bekommen und diese dann in eine komplett verrückte Welt entlassen. Wer weiß, vielleicht ziehen die sich dann auch Trainingsjacken an und singen mit Wut im Bauch über die Problematiken der Pubertät, des Erwachsenwerdens und was weiß ich nicht noch.
Hm – jetzt habe ich doch noch rumgeschwafelt. Bleibt noch zu sagen, dass Tocotronic bei ihrem Auftritt von der Band La Grande Illusion aus Hamburg unterstützt werden. Pop meets Rock an diesem Abend also, oder Pop is Rock, macht also Rockpop. Alles in allem schöne Musik.

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last modified: 28.3.2007