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das Erste, 0.9k

Ökonomistischer Scheiß



Fakten, Fakten, Fakten?! Na gut, weil ihr’s seid. Schließlich werdet ihr im CEE IEH nicht gerade mit sowas verwöhnt, hat hier doch eher die Großtheorie ihre Heimstatt. Also los, lesen wir die Bürgerpresse:

Im Juli ist der DAX (ein Aktienkursdurchschnitt der 30 potentesten Unternehmen Deutschlands) unter den singulär scheinenden Tiefstand vom September des vorigen Jahres gefallen, d.h.: Unterm Strich wurde in dieser Zeit nichts an der Börse verdient, im Gegenteil, Kapital wurde verbrannt. Der Euro steigt, doch der DAX stürzt ab – was ist hier eigentlich los? Die Erklärung ist gar nicht so schwer: Wenn man davon ausgeht, dass der dümpelnde Kapitalnachschub für die börsennotierten Unternehmen im DAX eine Flaute der Realwirtschaft anzeigt und dennoch die Währung von Deutsch-Europa stark gefragt ist, kann das nur an der relativen Schwäche des US-$ liegen. Offenkundig schätzen die Akteure die Chancen von Amerika noch schlechter als die Europas ein.

Wir befinden uns in der schlimmsten Bankenkrise nach dem Krieg, Commerzbank und Hypovereinsbank sind im Vergleich zu April an der Börse nur noch halb so viel wert.
Die Hälfte aller Bundesländer hat über ihren Etat eine Haushaltssperre verhängt, das reiche München, in dem so etwas nicht für möglich gehalten wurde, muss ebenfalls dieses letzte Mittel anwenden. Grund: Das Wegbrechen der Gewerbesteuer. Flapsig ließe sich sagen: Wer sie noch zahlen muss, kann sie nicht zahlen, wer sie zahlen könnte, muss sie nicht zahlen – die Konjunkturflaute verhindert, dass Kohle von Mittelständlern fließt, Großunternehmen (bspw. BMW) lassen sich befreien – von eben denselben über Finanznot jammernden Kommunen, die aber dann doch einsehen, dass Arbeitsplätze vorgehen (Leipzigs Tiefensee anlässlich der BMW-Ansiedlung zur versammelten BMW-Prominenz: „Leipzig liegt ihnen zu Füßen, wie die Fußmatten im BMW.“).

Und nun auch noch „Worldcom“. Aufgeflogen ist das Unternehmen durch Falschbuchungen in Höhe von 7,2 Mrd. US-$ (laufende Betriebskosten wurden schlicht als Investitionen verkauft). Die Substanz der größten Pleite in der Geschichte der USA besteht aus einem Schuldenberg von 41 Mrd. US-$. Firmengründer Bernard Ebbers gehört übrigens zu den Baptisten, einer asketisch-protestantischen Sekte, die sich ähnlich wie Hardcore-Calvinisten ganz dem Kohlemachen zu Gottes Ruhm verschrieben hat. Ob Ebbers wegen des Crashs in der Hölle schmoren wird, kann allerdings auch der Krisentheoretiker nicht beantworten.
Im aktuellen Kasinokapitalismus, in dem die sog. Realwirtschaft lediglich ein Mini-Anhängsel des Finanzüberbaus ist, sollte man allerdings den beherzten Mut anerkennen, mit dem die Verantwortlichen drauflosgefälscht haben. Sie wollten den Geschäftsbetrieb aufrechterhalten, hofften, dass sie ihrem Unternehmen Luft schaffen können bis zu einer Zeit, in der die Technologie wieder rentabel einsetzbar wird. Zudem deutet die Vertuschung laufender Kosten auf mangelnden Spar- und Rationalisierungswillen, mithin auf soziales Gewissen. Sie haben gehofft, sie haben viel gewagt – das Wertgesetz war stärker.
Es gibt also Schuldige aufzuknüpfen, zumeist Vorstände: Raffgierige Versager, die tatsächlich nur an ihre eigene Tasche denken! Statt 60 Stunden pro Woche für die Bedürfnisse arbeitsgeiler Idioten Aufträge heranzuschaffen, Märkte zu erschließen und Übernahmen einzufädeln, haben sie über ihr Leben nachgedacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass sie schlicht Kohle machen wollen.
Sie erhalten Abfindungen in Höhe von 15 Mio. Euro plus einen riesigen Batzen Gegenwert für Aktienoptionen (Telekom-Sommer), entnehmen kurz vorm sicheren Konkurs noch einen dreistelligen Millionenbetrag US-Dollar als „Kredit“ aus der Firmenkasse (Worldcom-Ebbers), haben sich und Pensionären Zahlungen in Höhe von 200 Mio. Euro bewilligt (Mannesmann-Esser). Sie wollten sich bereichern! Im Kapitalismus! Das muss man sich mal vorstellen! Kennen die denn gar keine Grenzen mehr?!
Kapitalismuskritik scheint nur noch aus Ressentiment gegenüber den etwas Raffinierteren zu bestehen – es wäre gut, sich an folgenden Aphorismus Max Horkheimers über einen reichen Erben zu erinnern:
„Wie schön, daß er ohne ‘Verdienst’ so im Leben gehalten wird, ohne Arbeit, ohne Schmerz! Da kreischen sie: ‘Wie ungerecht!’ Ahnt ihr denn, daß dies das bißchen Gerechtigkeit ist, das auf dieser Welt übrigbleibt? Glück – ohne Verdienst?“

Bei dem Genöhle über die Gier der „Nieten in Nadelstreifen“, ist man versucht, der antideutschen Diagnose eines Unterschiedes zwischen amerikanischem und deutschem Verwertungszusammenhang zuzustimmen. Ebenso im folgenden Fall: Da kommt ein überaus erfolgreicher Agent des normal-raffenden Kapitals der Ideologie des Schaffens in die Quere und muss über die Klinge springen. Die Rede ist von Thomas Middelhoff, Bertelsmann-Vorstandsvorsitzender, einem eiskalten Hardcore-Sanierer, der versucht hat, den Buchclub-Schnarchnasen kapitalistische Manieren beizubringen. Er sprach in Anglizismen, bekannte sich nicht zu jedem defizitären Traditions-Wurstblatt und musste nun seinen Hut nehmen. Zuvor geißelte Mehrheitsgesellschafter Mohn das shareholder-value-Denken des ungeliebten Ausputzers (ein Konzept, das es auf die unbedingte Steigerung des Unternehmenswertes, also lediglich auf Aktionärsbedürfnisse abgesehen hat und damit immer schon „amerikanischer Kapitalismus“ im Gegensatz zur deutsch-sozialen „Marktwirtschaft“ ist); führende Angestellte der Bertelsmann-Tochter Gruner+Jahr äußerten sich bei seinem Weggang „erleichtert“.
Der „Spiegel“ befragt A. Rappaport, den Vater des shareholder-value-Konzepts und schafft mühelos, wonach sich adornitische Dialektiker so sehnen: über etwas zu reden und auch wieder nicht, hier: über den Kapitalismus. Frage: „Die Analysten der Wall Street waren während der großen Spekulationshysterie ebenso der Raffgier verfallen, wie Manager und Investoren. Ist nicht das ganze System aus den Fugen geraten?“

In diesen Zeiten sollten eigentlich Motivationsseminare wie die des leicht durchgeknallten Emile –Tsakaa!!– Ratelband boomen. Sollten. Wenn nicht auch sie durch das enge Nadelöhr von Ware und Geld hindurchmüssten. Ratelbands Sendung bei RTL II wurde nach ein paar Folgen sang- und klanglos abgesetzt, die Firma des „Feuerläufers“ Höller ist zahlungsunfähig, die Buchumsätze von Bodo Schäfer („Der Weg zur finanziellen Freiheit: In sieben Jahren die erste Million“) stagnieren.

Reicht?! OK. Wir sehen: Die famose Marktwirtschaft wird an sich selbst irre. Ihre Dummheit verlangt nach dem Zynismus der Geldverdiener. Noch nie gehörte der Kapitalismus zu den Sanftmütigen, doch jetzt wird er altersböse, schlimmer: Er verhält sich wie der tödlich getroffene Westernheld, der im Fallen noch einen letzten Schuss abgibt.
Der Krisentheoretiker lacht sich nicht ins Fäustchen. Ihm wäre lieber, wenn er mit seinen sämtlichen Prognosen unrecht behielte. Es sieht nur leider gerade nicht danach aus.

Noch eine Info für ein paar verunsicherte Menschen, die neulich durchblicken ließen, dass es evtl. doch besser sein könnte, am 22.09. kleinere Übel als Stoiber zu wählen. SPD-Schröder droht auf einem Wahlplakat (zerfurchte Stirn, Akten studierend): „Das Ziel meiner Arbeit? Dass alle Arbeit haben.“. Die Leipziger PDS beklagt nach der Zerschlagung des Betriebes für Beschäftigungsförderung (bfb) Leipzig erbittert die fehlenden Anstrengungen zur Wiederbelebung des zweiten Arbeitsmarkts – es wird ihr einfach zu wenig getan, um die Menschen wieder in Billiglohn und trocken Brot zu bringen.

Finstere Zeiten, darin sind wir – sonst fast heillos zerstritten – uns einig. Im Heft folgen unterschiedlichste Überlegungen, wie die dumpfe Kapitalherrschaft wieder abgeschüttelt werden kann.

Im nächsten Monat ist hier wieder was zu einem vernünftigen Thema zu lesen. Und die ökonomistische Faktenhuberei hat ein Ende.

Mausebär

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last modified: 28.3.2007