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Auf Bitten des Bündnis gegen Rechts veröffentlichen wir den folgenden Aufsatz aus der Context XXI 1/2000 zur Vorbereitung der Veranstaltung „Freiheit und Wahn deutscher Arbeit“ am 15.05.2002 im Rahmen der Reihe „Arbeiten lassen“ (www.left-action.de/arbeit)
dokumentation, 1.1k

Deutscher Arbeitswahn und Antisemitismus


Das Konzept der „deutschen Arbeit“ war und ist antisemitisch konnotiert. In seiner Abgrenzung von einer vermeintlich „jüdischen Arbeit“ vereint es Produktivitätswahn und Haß auf die Zirkulation.
Von Ulrike Becker*

Die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden fand statt unter der Losung „Arbeit macht frei“. Angebracht war diese Inschrift an den Eingangstoren der Konzentrationslager Auschwitz, Dachau, Flossenbürg, Sachsenhausen und Ravensbrück. Daniel Jonah Goldhagen hat in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ die zentrale Bedeutung der Kategorie „Arbeit“ bei der Vernichtung der Jüdinnen und Juden betont. Die Deutschen waren von einem „ideologischen Drang“ besessen, Jüdinnen und Juden zur Arbeit zu zwingen. Der „Arbeitseinsatz“ zielte dabei auf die Vernichtung der Jüdinnen und Juden, nicht auf die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft.

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Wie der Alltag der Jüdinnen und Juden aussah, nachdem sie von den Deutschen durch das Lagertor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ in die Konzentrationslager getrieben worden waren, schildert ein Überlebender: Die Häftlinge hatten keinerlei sinnvolle Arbeit zu verrichten. Jeder Tag begann mit einem stundenlangen Appell, bei dem viele halb totgeschlagen wurden. „Danach ging es zur ‘Arbeit’. In unseren Holzschuhen wurden wir mit Stockschlägen in eine Ecke des Feldes gejagt und mussten einmal unsere Mützen, ein andermal unsere Jacken mit Steinen, nassem Sand oder Matsch füllen, mit beiden Händen festhalten und im Laufschritt unter einem Hagel von Schlägen zur gegenüber liegenden Ecke bringen, und so weiter. Ein Spalier von brüllender SS- und Häftlingsprominenz, bewaffnet mit Stöcken und Peitschen, ließ die Schläge auf uns herunterhageln. Es war die Hölle.“(1)
Die Vernichtung der Jüdinnen und Juden war Kriegsziel und wurde gegen jeden ökonomischen Zweck durchgesetzt. Als im Herbst 1942 die in der Rüstungsindustrie beschäftigten Juden und Jüdinnen aus dem Reichsgebiet in die Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek deportiert wurden, waren die kalkulierten Einbußen in der kriegswichtigen Produktion dafür kein Hindernis. Der Arbeitseinsatz war für die jüdischen Häftlinge eine reine Schikane, sollte sie demütigen, quälen und schließlich töten. Arbeits- und Unterbringungsbedingungen waren katastrophal, und die Häftlinge waren den Grausamkeiten des Wachpersonals ausgesetzt. „Auf dem Weg zurück ins Lager zogen die Kommandos eine Menge Leichen auf Schlitten mit sich; die Lebenden wurden an den Armen geführt; überließ man sie dann hinter den Toren sich selbst, so krochen sie auf Händen und Füßen über den vereisten Versammlungsplatz; wenn es ihnen gelang, die Baracken zu erreichen, versuchten sie, sich mit Hilfe der Wand aufzurichten, aber lange stehen bleiben konnten sie nicht.“(2)
Die Deutschen vergaben an die Jüdinnen und Juden fast ausschließlich völlig zwecklose Arbeiten. Es gab kaum maschinelle Hilfe; selbst das Werkzeug war oft in schlechtem Zustand, so dass die Arbeitskraft leisten musste, was üblicherweise längst Arbeitsmittel erledigten. Ein Beispiel hierfür ist die Straßenwalze, die zum Beispiel in Dachau zur Planierung des Lagergeländes benutzt wurde. Sie wurde von einem „Gespann“ mehrerer Häftlinge gezogen. Gleiche Walzen wurden später auch in den anderen Lagern benutzt. Dem SS-Wachpersonal kam es darauf an, die jüdischen Häftlinge ununterbrochen arbeiten zu sehen. Wer schlapp machte, wurde mit Schlägen angetrieben. Goldhagen hat darauf hingewiesen, dass die Behandlung der verschiedenen Häftlingsgruppen bei den Arbeitseinsätzen zum Teil sehr unterschiedlich war. Den jüdischen Häftlingen erging es am schlechtesten. „Der ideologische Drang, Juden zur Arbeit zu zwingen, entfiel bei anderen Völkern, selbst bei den Sinti und Roma, die die Deutschen ebenfalls völlig entmenschlichten und massenweise vernichteten.“(3)
Adolf Hitler hat seinen Antisemitismus direkt aus dem Arbeitsbegriff entwickelt. Arbeit von Juden und Arbeit von Deutschen waren für ihn absolute Gegensätze. Über die „jüdische Arbeit“ erklärte er 1920 in einer Rede in München: „Wir wissen, dass diese Arbeit einst bestand im Ausplündern wandernder Karawanen und dass sie heute besteht im planmäßigen Ausplündern verschuldeter Bauern, Industrieller, Bürger usw. Und dass sich die Form wohl geändert hat, dass aber das Prinzip das gleiche ist. Wir nennen das nicht Arbeit, sondern Raub.“(4)
Die „schaffende Arbeit“ bildete für Hitler dagegen das Bollwerk gegen den „jüdischen Raub“ und „jüdisch-materialistischen Geschäftsgeist“. Diesen Gedanken hielten die Nationalsozialisten für so entscheidend, dass sie ihm ihr zentrales Symbol, das Hakenkreuz, widmeten: „Als Nationalsozialisten sehen wir in unserer Flagge unser Programm. Im Rot sehen wir den sozialen Gedanken der Bewegung, im Weiß den nationalistischen, im Hakenkreuz die Mission des Kampfes für den Sieg des arischen Menschen und zugleich mit ihm auch den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird.“(5)
Die Vorstellung dieses Gegensatzes von „raffender jüdischer“ und „schaffender deutscher“ Arbeit war 1933 nicht neu. Sie war längst Bestandteil deutscher Kultur und ist älter als der moderne Antisemitismus. Man kann davon ausgehen, dass sich hinter dem Selbstbild von „schaffender deutscher Arbeit“ und hinter der Parole „Arbeit macht frei“ Spuren verbergen, die auf ein spezifisches, antisemitisches Arbeitsethos in Deutschland hinweisen.

Arbeitsdienst bei Martin Luther

Diese Tradition begann mit Martin Luther, dem deutschen Reformator, der von 1483 bis 1546 lebte. Nach 1530 bestimmte ein starker antisemitischer Hass Luthers Schriften. Gleichzeitig hat Luther das Bild vom ehrlich arbeitenden Deutschen und die Überzeugung, dass Juden keiner produktiven und „ehrlichen Arbeit“ nachgingen, popularisiert. Er erweiterte die antijüdischen Stereotypen zum Bild vom „arbeitsscheuen“, „faulen“ und „ausbeuterischen Juden“. In dieser Zeit war ein Tiefpunkt der jüdischen Geschichte in Deutschland erreicht. Die jüdischen Gemeinden waren zerschlagen, die Familien auseinandergerissen, ihnen blieb nur die ständige Migration von Stadt zu Stadt. Doch Luther schrieb: „Jawohl, sie halten uns Christen in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen sie dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein ... sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.“(6)
Nach der Zeichnung dieses verschwörungstheoretischen Bildes, in dem die Christen im Nasenschweiß arbeiten, schlug Luther vor, die Juden zu berauben und zu vertreiben. Doch vorher sollten sie zur „sauren Arbeit“ gezwungen werden. Luther forderte: „Erstlich, daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich... Zum anderen, daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre, denn sie treiben eben dasselbe darinnen, was sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder einen Stall tun, wie die Zigeuner... Zum sechsten, daß man ihnen den Wucher verbiete und nehme alle Barschaft und Kleinod an Silber und Gold und lege es beiseite zu verwahren. Das ist die Ursache: alles was sie haben, haben sie uns gestohlen und geraubt durch ihren Wucher... Zum siebten, daß man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiße ihrer Nasen wie Adams Kindern auferlegt ist...“(7)
Luthers Arbeitsverständnis war ein antisemitisches – es war im Gegensatz zu „jüdischem Wucher“ konzipiert, und (arbeitende) Christen und ihre Güter waren durch diesen Wucher „gefangen“. Es hat im Verlauf der Jahrhunderte viele antisemitische Schriften gegeben. Luthers Texte aber hatten eine viel schwerwiegendere und weitreichendere Bedeutung als alle anderen vergleichbaren Äußerungen seinerzeit. Luther war der erste erfolgreiche Reformator und Kirchenbegründer. Seine Lehre wurde in vielen deutschen Fürstentümern zur Staatsreligion und wirkte somit unmittelbar in den politischen Bereich hinein. Durch seine Bibelübersetzung wurde Luther zudem zum Begründer der deutschen Schriftsprache. Das von ihm gezeichnete Judenbild wurde das bestimmende für die nächsten Jahrhunderte. Der Begriff „jüdischer Wucher“ beinhaltete für Luther die Ausbeutung der „ehrlich arbeitenden“ Christen durch die Juden und damit den Gegensatz zwischen „Jude“ und „Arbeit“. Dieses Denkmuster setzte sich in den deutschen Ländern durch. Dabei wurde Wucher im allgemeinen Sinn eines Gewinns aus Verleihgeschäften nicht notwendigerweise als negativ verstanden und war auch nicht verboten. „Juden-Wucher“ dagegen wurde ein klar negativ konnotierter Begriff. Er beinhaltete nicht nur überhöhte Zinsen, sondern implizierte den Ruin von Bürgern und Bauern.

Antisemitischer Protest und Revolte – die Zünfte

Die „ehrbaren“ Bürger des Mittelalters und der Frühen Neuzeit waren in Zünften und Gilden organisiert, die aus christlichen Bruderschaften entstanden waren. Die Zünfte wurden seit dem Mittelalter in den Städten die Hauptträger des Antisemitismus. Juden wurden seit der Formierung der Zünfte aus allen Handwerksberufen ausgeschlossen. Immer wieder, seit dem 13. Jahrhundert bis weit über das Mittelalter hinaus, standen die Zünfte an der Spitze der Vertreibungsforderungen. Gleichzeitig vertraten die in den Zünften organisierten Handwerker eine besondere Verherrlichung von „ehrlicher Arbeit“, die immer als gegensätzlich zur „jüdischen Nichtarbeit“ angesehen wurde.
In Worms überfielen 1614 Zunftbürger die Judengasse und vertrieben ihre BewohnerInnen aus der Stadt. Zur gleichen Zeit kam es in Frankfurt zu einem Pogrom unter der Führung des Lebkuchen-Bäckers Vinzenz Fettmilch: Zunftangehörige belagerten das Ghetto und plünderten die Häuser. Die Proteste, die sich auch gegen die herrschenden Patrizier richteten, führten zu den schlimmsten antisemitischen Ausschreitungen im Frankfurt der Frühen Neuzeit. Die Stimmung gegen beide Gruppen artikulierte sich in dem Vorwurf der kriminellen Bereicherung auf Kosten „ehrbarer Bürger“. Die Zünfte waren antijüdische Organisationen. Antisemitismus war ihr Programm. Obwohl es vordergründig um einen Protest gegen zu hohe Zinsen, also Wucherzinsen ging, standen von vorneherein die Juden als Angriffspunkt fest, obwohl die obrigkeitliche Reglementierung die Einkünfte der Juden steuerlich rigoros abschöpfte. Mitleid oder gar Solidarität mit den in äußerster Armut lebenden Jüdinnen und Juden stand außerhalb des Denkbaren. Im Fettmilchaufstand übernahmen die Zünfte vorübergehend die Macht in Frankfurt, bis sie vom Kaiser zur Räson gebracht wurden. Ihre Rädelsführer erhielten die Reichsacht, sie wurden festgenommen und hingerichtet; die Jüdinnen und Juden durften zurückkehren. Schon im 17. Jahrhundert war der Antisemitismus der Zünfte „revolutionär“, der Protest antisemitisch motiviert. Die „ehrliche Arbeit“ revoltierte gegen den „Wucher“.
Als 1810/11 die Allgemeine Gewerbefreiheit in Preußen eingeführt werden sollte, stellten sich die Zünfte gegen diese Reform. Die Stein-Hardenbergschen Reformen sollten Strukturschwächen im Wirtschaftssystem ausgleichen und damit einen Ausweg aus der „Modernisierungskrise“ bahnen. So sollte Preußen Anschluss an die wirtschaftlich fortgeschritteneren Länder England und Frankreich gewinnen. Zunftmitglieder schrieben zahlreiche Beschwerden gegen die Gewerbefreiheit. Besonders krass fiel die gleichzeitige Feindschaft gegen die gewerbliche Niederlassung von Juden und gegen die Ausbreitung des Hausierhandels auf (der ebenfalls stark als „jüdisch“ identifiziert wurde). Das Emanzipationsedikt für jüdische Bürger wurde gleichzeitig mit den wirtschaftlichen Reformen eingeführt und von den Zunftmitgliedern ebenfalls mit französischem Einfluss in Verbindung gebracht. Eine deutsche Welt schien zusammenzubrechen. Die protestierenden Handwerker prognostizierten nicht nur „schlechtes Bier“ und „verdorbenes Fleisch“ infolge fehlender Qualifikation. Der „Gewerbefleiß“ sei in Gefahr und das Ende von „Zivilisation“ und „Kultur“ sei nah. Der Terminus „deutsche Qualitätsarbeit“ ist zum Eckpfeiler des Kampfes gegen „undeutsche“ Einflüsse geworden.

Die Nationalisierung der Arbeit

Im 19. Jahrhundert wurde die „deutsche Arbeit“ zum konstituierenden Moment des deutschen Nationalstaatsmythos und zu einem Hauptpfeiler der deutschen Identität. „Es ist die nationale Arbeit, durch welche wir unsere Volkspersönlichkeit behaupten und fortbilden“, schrieb dazu der Publizist Wilhelm Heinrich Riehl in seinem Buch „Die deutsche Arbeit“ (1861) – ein Buch, das ausgesprochen breit rezipiert wurde.(8)
Die Überzeugung, dass sich das Schicksal des deutschen „Volkes“ in der Arbeit entscheide, wurde im 19. Jahrhundert zum nationalen Konsens. Im Gegensatz zu Frankreich definierten die Deutschen das Nationale weniger über politisch-konstitutionelle Institutionen, sondern mehr über den Ausdruck gemeinsamer Lebenserfahrungen, wobei die Arbeitserfahrungen neben dem völkischen Denken zentral waren. Der Unterschied zum Arbeitsverständnis in Frankreich lag außerdem darin, dass in Frankreich die Arbeit in den Dienst der politischen Ideale der Revolution gestellt wurde. Dagegen mussten die Deutschen die Arbeit nicht in den Dienst von irgend etwas stellen. Es verselbständigte sich die Vorstellung von der „Ehre der Arbeit“. Außerdem wurde der Zustand der „Arbeitsfreude“ von den Deutschen als erstrebenswert empfunden.
In den Jahren stockender Wirtschaftsentwicklung zwischen 1874 und 1878 erregte die Verarmung der großstädtischen ArbeiterInnen und ihre zunehmende Entfremdung von Kirche und Staat Besorgnis. Die „soziale Frage“ wurde zum Thema der Zeit. Die Diskussion darüber war bestimmt durch einen antisemitischen Grundton. Man kämpfte gegen das sogenannte „Manchestertum“, womit zum Beispiel der wirtschaftliche liberale Kurs der Nationalliberalen bezeichnet wurde. Gleichzeitig funktionierte die Formel „Manchestertum“ aber auch als antisemitischer Code, der von den Deutschen der Zeit verstanden wurde als Ausdruck aller abgelehnten und als jüdisch identifizierten Wirtschaftspraktiken. Otto Glagau hatte diesen Begriff popularisiert. Er rief alle arbeitenden Menschen dazu auf, sich „gegen Ausbeutung und Erniedrigung ihrer Arbeitskraft“ und vor allem gegen die Dominanz einer fremden „Rasse“ zu vereinigen. Daraus folgernd prägte er die Losung: „die soziale Frage ist die Judenfrage“. Diese Losung wurde bald zum Eckstein des deutschen Antisemitismus.
Gegen das „Manchestertum“ und den „entfesselten Kapitalismus“ wurde wieder die Idee von „deutscher Arbeit“ gesetzt. So tat es zum Beispiel der Hofprediger Adolf Stoecker. Die erklärten Ziele seiner 1878 gegründeten antisemitischen christlich-sozialen Partei waren die „Verringerung der Kluft zwischen arm und reich“ und die „Herbeiführung einer größeren ökonomischen Sicherheit“.(9) Im Parteiprogramm wurde außerdem eine Börsensteuer gefordert und die Wiedereinführung von Wuchergesetzen. Der wirtschaftlich liberale Kurs wurde für die negativen Seiten des Kapitalismus verantwortlich gemacht und diese wiederum wurden auf „jüdische Geschäftspraktiken“ zurückgeführt.
Stoeckers Partei forderte in ihrem Programm die Deutschen aber auch zu Hochhaltung der „Berufsehre“ auf.(10) Stoecker übte eine große Anziehungskraft auf die Menschen aus und galt eine Zeitlang als populärster Mann Berlins. Deutlich konzentrierte Stoecker allen Hass auf Jüdinnen und Juden. Dagegen setzte er den „christlich-deutschen Arbeitsgeist“ und das „innere Wesen unseres Volkstums“, das unter anderem aus „sittlicher Arbeit“ bestehe. Um die „sozialen Übelstände, die das Judentum mit sich“ bringe, zu heilen, so Stoecker, müsse das „Missverhältnis zwischen jüdischem Vermögen und christlicher Arbeit festgestellt werden“, um dann zu mehr „germanischem Rechts- und Wirtschaftsleben“ zurückkehren zu können.
Stoecker erklärte 1878: „Und hier stellen wir unsere dritte Forderung. Das moderne Judentum muss an der produktiven Arbeit teilnehmen. ... An der Arbeit der Handwerker sind sie fast gar nicht, an der Fabrikation wenig beteiligt. Daraus folgt, dass sie an der Arbeit keine Freude, für die deutsche Arbeitsehre keine Sympathie haben. Die Devise ‘billig und schlecht’ kommt zum guten Teil auf ihre Rechnung ... Für mich gipfelt die Judenfrage in der Frage, ob die Juden, welche unter uns leben, lernen werden sich an der gesamten deutschen Arbeit, auch an der harten und sauren Arbeit des Handwerks, der Fabrik, des Landbaues zu beteiligen.“ Stoecker droht: Sonst wäre eine „Katastrophe“ unausweichlich. Ähnlich wie Luther fordert Stoecker, Juden an der „sauren Arbeit“ zu beteiligen. Wie die Zünfte schimpft er gegen „billige und schlechte jüdische Ware“ (in der der Gegensatz zur „deutschen Qualitätsarbeit“ impliziert ist).
Zehn Jahre später schien der Antisemitismus im öffentlichen Leben Berlins zu dominieren. Eduard Bernstein beschrieb in seiner „Geschichte der Arbeiterbewegung“ die Situation in Berlin 1888 so: „Es war wie eine Sturzwelle judenfeindlicher Reaktion. Eine ganze Presse, die ihr Ausdruck gab, schoss ins Leben. Antisemitische Flugblätter gegen alles, was jüdisch oder jüdischer Sympathien verdächtig war, wurde in Massen verbreitet ... Alles natürlich unter der Phrase der Verteidigung des deutschen Idealismus gegen jüdischen Materialismus und des Schutzes der ehrlichen deutschen Arbeit gegen jüdische Ausbeutung.“(11)
Diese Realität muss Stoecker als Triumph empfunden haben. Aber nicht nur er: Auf dem Höhepunkt seines Triumphes bekam Stoecker Anerkennung von höchster Stelle. Der Kaiser gewährte Stoecker am Vorabend seines Geburtstages eine Audienz und zeigte mit dieser anerkennenden Geste, dass er seine Arbeit würdigte. Übereinstimmung mit dem Stoeckerschen Programm, zumindest was den Antisemitismus angeht, konnte sich aber auch unauffälliger äußern, wie zum Beispiel im Parteiprogramm der konservativen Regierungspartei. Dort hieß es: „Wir fordern ein wirksames Einschreiten der Staatsgewalt gegen jede gemeinschädliche Erwerbstätigkeit und gegen die undeutsche Verletzung von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr.“(12)
Der Begriff „deutsche Arbeit“ war am Ende des 19. Jahrhunderts längst zu einem antisemitischen Code geworden. Er beinhaltete den Gegensatz zu „jüdischer Arbeit“, ohne dass dies ausgesprochen werden musste. Antisemitische Codes wie „deutsch“, „Volk“ und „ehrliche Arbeit“ prägten die deutsche Kultur. 1933 konnte sich die NSDAP auf diesen Antisemitismus stützen.
Es gehört zu den Charakteristika des modernen Antisemitismus, dass der Kapitalismus wahrgenommen wird in zwei voneinander getrennten Sphären: die Sphäre der Produktion wird als konkret empfunden und häufig verherrlicht, die Sphäre des Tausches, der Finanzen wird als abstrakt empfunden und für alle negativen Folgen des Kapitalismus verantwortlich gemacht. Mit der abstrakten Seite des Kapitalismus werden im antisemitischen Denken die Jüdinnen und Juden in Verbindung gebracht. In dieser allgemeinen Form ist Antisemitismus, mehr oder weniger verbreitet, auch in anderen Ländern zu finden. Trotzdem spielt es eine Rolle, welche Zuschreibungen es genau zu jeder der Sphären gibt. Nicht in allen Ländern, in denen Antisemitismus verbreitet war, wurde die Arbeit so stark mit der eigenen nationalen Identität verknüpft.
Für „Deutschlands ersten Arbeiter“, wie man Hitler gerne nannte, war das Verhältnis zur Arbeit zentral. In seiner grundlegenden Rede über den Antisemitismus mit dem Titel „Warum sind wir Antisemiten“ denunzierte er - auf deutsche Art - im vollbesetzten Hofbräuhaus 1920 die „jüdische Arbeit“: sie sei der Wunsch nach dem Leben im Paradies. Juden sähen Arbeit nur als Strafe an. Hitler kommentierte: „Hier trennt uns schon eine ganze Welt; denn wir können Arbeit nicht als Strafe auffassen. ... Ich muß gestehen: Ich könnte nicht ohne Arbeit sein, und Hunderttausende und Millionen würden vielleicht 3, 5 Tage, 10 Tage aushalten, könnten aber nicht 90 oder 100 Tage leben ohne Tätigkeit.
Wenn es wirklich dieses Paradies gäbe, dieses sogenannte Schlaraffenland, es würde unser Volk darin nicht glücklich werden.(Rufe: Sehr richtig!) Wir suchen unbedingt eine Möglichkeit zur Betätigung und wenn der Deutsche keine andere Möglichkeit hat, so schlägt er sich zum Mindesten zeitweilig gegenseitig den Schädel ein. (Heiterkeit)“(13)

Die deutsche Revolution

Der Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion schuf die Voraussetzungen zur Erreichung der deutschen Utopie, der „judenfreien“ Welt. Ein Schritt dahin war die Errichtung des Lagersystems. Im nationalsozialistischen Lager sollte jeder die Form von Arbeit leisten, die ihm „seinem Wesen nach“ zustehe. Dafür steht die Parole „Arbeit macht frei“. Den Jüdinnen und Juden stand keine Arbeit zu. Sie, die in der Vorstellung der Deutschen nie gearbeitet hatten, sollten zu harter, körperlicher, erniedrigender Arbeit gezwungen werden und ihre „Arbeitskraft“ bis zu ihrem Tode zwecklos verausgaben. Dieses Arbeitsverständnis hat sich aus der langen Geschichte der antisemitischen deutschen Tradition entwickelt. Doch das Arbeitsverständnis entwickelt sich nicht nur aus Ideen und Vorstellungen. Eine entscheidende Rolle für die Herausbildung von identitätsstiftenden Vorstellungen, wie der von „deutscher Arbeit“, bildet die konkrete Praxis – hier diejenige des Arbeitsprozesses. Wichtige Erkenntnisse hat hier der amerikanische Soziologe Richard Biernacki geliefert. In einer vergleichenden Studie hat er die nationalen Unterschiede bei der Entwicklung der Produktion in Fabriken in Deutschland und England und die damit zusammenhängenden Konzepte von Arbeit untersucht.(14) In Großbritannien und Deutschland hatten sich im 19. Jahrhundert zwei völlig unterschiedliche Konzepte von Arbeit entwickelt. Im Mittelpunkt des Produktionsprozesses stand in Großbritannien das Produkt – in Deutschland die Arbeitskraft. Die britischen Unternehmer orientierten sich außerdem stärker am Markt als die Deutschen – sie ließen ihre ArbeiterInnen z.B. Bußgelder zahlen, wenn sich deren Produkte am Markt als nicht verkaufsfähig erwiesen. Es war dagegen unwichtig, wie ein Produkt produziert wurde – der konkrete Arbeitsprozess war eher in Deutschland wichtig. Hier gab es AufseherInnen, die die Arbeitskraft überwachten und zum Beispiel das „Aus-dem-Fenster-Gucken“ bestraften. Britische ArbeiterInnen konnten sich Vertretungen selbst organisieren, ihr Lohn war viel stärker vom Verkauf auf dem Markt abhängig als in Deutschland. Sie definierten sich zum Teil selbst als „SubunternehmerInnen“ (ihre deutschen KollegInnen fühlten sich bekanntermaßen wie „Rädchen im Getriebe“). Diese Selbstdefinitionen, die auf Erfahrungen der konkreten Praxis in der Produktion beruhten, können zur Erklärung beitragen, warum die Ablehnung der Distributionssphäre in Deutschland so viel stärker ausgeprägt war als in Großbritannien. Doch das muß in weiteren Arbeiten erst noch genauer untersucht werden.

Fussnoten

(1) Joseph Schupack: Tote Jahre. Eine jüdische Leidensgeschichte. Tübingen 1984, S. 318. Zitiert nach Goldhagen, 1996, S. 348.
(2) Daniel Johah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz normale Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996, S. 348. Goldhagen zitiert aus: Edward Gryn und Zofia Murawska: Majdanek Concentration Camp, Lublin 1966, S. 34 f.
(3) Goldhagen, 1996, S. 370
(4) Adolf Hitler: Rede in München, 13. August 1920. Zitiert nach Goldhagen, 1996, S.333.
(5) Adolf Hitler, zitiert nach Daniel Jonah Goldhagen, S. 337.
(6) Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen. Geschrieben 1542-43. In: Luther, Martin, Ausgewählte Werke. Ergänzungsreihe dritter Band, Schriften wider Juden und Türken. Herausgegeben von H.H. Borcherdt / Georg Merz, zweite, veränderte Auflage Berlin, München, 1936, S. 187.
(7) Ebenda, S. 187.
(8) Wilhelm Heinrich Riehl: Die deutsche Arbeit, Stuttgart 1861, S. 57/58.
(9) Zitiert nach Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt am Main 1959, S. 26.
(10) Adolf Stoecker: Christlich-Sozial. Reden und Aufsätze. Zweite Auflage, Berlin 1890, S. 21.
(11) Eduard Bernstein: „Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung.“ Berlin 1907-1910, Bd. II, S. 59.
(12) Fritz Specht/Paul Schwabe (Hg.): Die Reichstagswahlen von 1867 bis 1903. Eine Statistik der Reichstagswahlen nebst den Programmen der Parteien und einem Verzeichnisse der gewählten Abgeordneten. Zweite Auflage, Berlin 1904, S.333.
(13) Hitler, zit. n. Phelps, a.a.O., S. 404.
(14) Richard Biernacki: The Fabrication of Labor. Germany and Britain, 1640-1914. Berkeley and Los Angeles, London 1995.

*) Ulrike Becker ist Mitautorin des Buches „Goldhagen und die deutsche Linke“



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last modified: 28.3.2007