Das Konzept der deutschen Arbeit war und ist antisemitisch
konnotiert. In seiner Abgrenzung von einer vermeintlich jüdischen
Arbeit vereint es Produktivitätswahn und Haß auf die
Zirkulation.
Von Ulrike Becker*
Die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden fand
statt unter der Losung Arbeit macht frei. Angebracht war
diese Inschrift an den Eingangstoren der Konzentrationslager Auschwitz, Dachau,
Flossenbürg, Sachsenhausen und Ravensbrück. Daniel Jonah Goldhagen
hat in seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker die zentrale
Bedeutung der Kategorie Arbeit bei der Vernichtung der
Jüdinnen und Juden betont. Die Deutschen waren von einem
ideologischen Drang besessen, Jüdinnen und Juden zur Arbeit zu
zwingen. Der Arbeitseinsatz zielte dabei auf die Vernichtung der
Jüdinnen und Juden, nicht auf die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft.
Wie der Alltag der Jüdinnen und Juden aussah, nachdem sie von den
Deutschen durch das Lagertor mit der Aufschrift Arbeit macht frei
in die Konzentrationslager getrieben worden waren, schildert ein
Überlebender: Die Häftlinge hatten keinerlei sinnvolle Arbeit zu
verrichten. Jeder Tag begann mit einem stundenlangen Appell, bei dem viele halb
totgeschlagen wurden. Danach ging es zur Arbeit. In unseren
Holzschuhen wurden wir mit Stockschlägen in eine Ecke des Feldes gejagt
und mussten einmal unsere Mützen, ein andermal unsere Jacken mit Steinen,
nassem Sand oder Matsch füllen, mit beiden Händen festhalten und im
Laufschritt unter einem Hagel von Schlägen zur gegenüber liegenden
Ecke bringen, und so weiter. Ein Spalier von brüllender SS- und
Häftlingsprominenz, bewaffnet mit Stöcken und Peitschen, ließ
die Schläge auf uns herunterhageln. Es war die
Hölle.(1)
Die Vernichtung der Jüdinnen und Juden war Kriegsziel und wurde gegen
jeden ökonomischen Zweck durchgesetzt. Als im Herbst 1942 die in der
Rüstungsindustrie beschäftigten Juden und Jüdinnen aus dem
Reichsgebiet in die Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek deportiert
wurden, waren die kalkulierten Einbußen in der kriegswichtigen Produktion
dafür kein Hindernis. Der Arbeitseinsatz war für die jüdischen
Häftlinge eine reine Schikane, sollte sie demütigen, quälen und
schließlich töten. Arbeits- und Unterbringungsbedingungen waren
katastrophal, und die Häftlinge waren den Grausamkeiten des Wachpersonals
ausgesetzt. Auf dem Weg zurück ins Lager zogen die Kommandos eine
Menge Leichen auf Schlitten mit sich; die Lebenden wurden an den Armen
geführt; überließ man sie dann hinter den Toren sich selbst, so
krochen sie auf Händen und Füßen über den vereisten
Versammlungsplatz; wenn es ihnen gelang, die Baracken zu erreichen, versuchten
sie, sich mit Hilfe der Wand aufzurichten, aber lange stehen bleiben konnten
sie nicht.(2)
Die Deutschen vergaben an die Jüdinnen und Juden fast ausschließlich
völlig zwecklose Arbeiten. Es gab kaum maschinelle Hilfe; selbst das
Werkzeug war oft in schlechtem Zustand, so dass die Arbeitskraft leisten
musste, was üblicherweise längst Arbeitsmittel erledigten. Ein
Beispiel hierfür ist die Straßenwalze, die zum Beispiel in Dachau
zur Planierung des Lagergeländes benutzt wurde. Sie wurde von einem
Gespann mehrerer Häftlinge gezogen. Gleiche Walzen wurden
später auch in den anderen Lagern benutzt. Dem SS-Wachpersonal kam es
darauf an, die jüdischen Häftlinge ununterbrochen arbeiten zu sehen.
Wer schlapp machte, wurde mit Schlägen angetrieben. Goldhagen hat darauf
hingewiesen, dass die Behandlung der verschiedenen Häftlingsgruppen bei
den Arbeitseinsätzen zum Teil sehr unterschiedlich war. Den jüdischen
Häftlingen erging es am schlechtesten. Der ideologische Drang, Juden
zur Arbeit zu zwingen, entfiel bei anderen Völkern, selbst bei den Sinti
und Roma, die die Deutschen ebenfalls völlig entmenschlichten und
massenweise vernichteten.(3)
Adolf Hitler hat seinen Antisemitismus direkt aus dem Arbeitsbegriff
entwickelt. Arbeit von Juden und Arbeit von Deutschen waren für ihn
absolute Gegensätze. Über die jüdische Arbeit
erklärte er 1920 in einer Rede in München: Wir wissen, dass
diese Arbeit einst bestand im Ausplündern wandernder Karawanen und dass
sie heute besteht im planmäßigen Ausplündern verschuldeter
Bauern, Industrieller, Bürger usw. Und dass sich die Form wohl
geändert hat, dass aber das Prinzip das gleiche ist. Wir nennen das nicht
Arbeit, sondern Raub.(4)
Die schaffende Arbeit bildete für Hitler dagegen das Bollwerk
gegen den jüdischen Raub und
jüdisch-materialistischen Geschäftsgeist. Diesen Gedanken
hielten die Nationalsozialisten für so entscheidend, dass sie ihm ihr
zentrales Symbol, das Hakenkreuz, widmeten: Als Nationalsozialisten sehen
wir in unserer Flagge unser Programm. Im Rot sehen wir den sozialen Gedanken
der Bewegung, im Weiß den nationalistischen, im Hakenkreuz die Mission
des Kampfes für den Sieg des arischen Menschen und zugleich mit ihm auch
den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch
war und antisemitisch sein wird.(5)
Die Vorstellung dieses Gegensatzes von raffender jüdischer und
schaffender deutscher Arbeit war 1933 nicht neu. Sie war
längst Bestandteil deutscher Kultur und ist älter als der moderne
Antisemitismus. Man kann davon ausgehen, dass sich hinter dem Selbstbild von
schaffender deutscher Arbeit und hinter der Parole Arbeit
macht frei Spuren verbergen, die auf ein spezifisches, antisemitisches
Arbeitsethos in Deutschland hinweisen.
Arbeitsdienst bei Martin Luther
Diese Tradition begann mit Martin Luther, dem deutschen Reformator, der von
1483 bis 1546 lebte. Nach 1530 bestimmte ein starker antisemitischer Hass
Luthers Schriften. Gleichzeitig hat Luther das Bild vom ehrlich arbeitenden
Deutschen und die Überzeugung, dass Juden keiner produktiven und
ehrlichen Arbeit nachgingen, popularisiert. Er erweiterte die
antijüdischen Stereotypen zum Bild vom arbeitsscheuen,
faulen und ausbeuterischen Juden. In dieser Zeit war
ein Tiefpunkt der jüdischen Geschichte in Deutschland erreicht. Die
jüdischen Gemeinden waren zerschlagen, die Familien auseinandergerissen,
ihnen blieb nur die ständige Migration von Stadt zu Stadt. Doch Luther
schrieb: Jawohl, sie halten uns Christen in unserem eigenen Land
gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen,
sitzen sie dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen,
fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns
und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und
speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein ... sind also
unsere Herren, wir ihre Knechte.(6)
Nach der Zeichnung dieses verschwörungstheoretischen Bildes, in dem die
Christen im Nasenschweiß arbeiten, schlug Luther vor, die Juden zu
berauben und zu vertreiben. Doch vorher sollten sie zur sauren
Arbeit gezwungen werden. Luther forderte: Erstlich, daß man
ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will,
mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen
Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich... Zum anderen, daß man auch ihre
Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre, denn sie treiben eben
dasselbe darinnen, was sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie
etwa unter ein Dach oder einen Stall tun, wie die Zigeuner... Zum sechsten,
daß man ihnen den Wucher verbiete und nehme alle Barschaft und Kleinod an
Silber und Gold und lege es beiseite zu verwahren. Das ist die Ursache: alles
was sie haben, haben sie uns gestohlen und geraubt durch ihren Wucher... Zum
siebten, daß man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in die Hand
gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brot
verdienen im Schweiße ihrer Nasen wie Adams Kindern auferlegt
ist...(7)
Luthers Arbeitsverständnis war ein antisemitisches es war im
Gegensatz zu jüdischem Wucher konzipiert, und (arbeitende)
Christen und ihre Güter waren durch diesen Wucher gefangen. Es
hat im Verlauf der Jahrhunderte viele antisemitische Schriften gegeben. Luthers
Texte aber hatten eine viel schwerwiegendere und weitreichendere Bedeutung als
alle anderen vergleichbaren Äußerungen seinerzeit. Luther war der
erste erfolgreiche Reformator und Kirchenbegründer. Seine Lehre wurde in
vielen deutschen Fürstentümern zur Staatsreligion und wirkte somit
unmittelbar in den politischen Bereich hinein. Durch seine
Bibelübersetzung wurde Luther zudem zum Begründer der deutschen
Schriftsprache. Das von ihm gezeichnete Judenbild wurde das bestimmende
für die nächsten Jahrhunderte. Der Begriff jüdischer
Wucher beinhaltete für Luther die Ausbeutung der ehrlich
arbeitenden Christen durch die Juden und damit den Gegensatz zwischen
Jude und Arbeit. Dieses Denkmuster setzte sich in den
deutschen Ländern durch. Dabei wurde Wucher im allgemeinen Sinn eines
Gewinns aus Verleihgeschäften nicht notwendigerweise als negativ
verstanden und war auch nicht verboten. Juden-Wucher dagegen wurde
ein klar negativ konnotierter Begriff. Er beinhaltete nicht nur
überhöhte Zinsen, sondern implizierte den Ruin von Bürgern und
Bauern.
Antisemitischer Protest und Revolte die Zünfte
Die ehrbaren Bürger des Mittelalters und der Frühen
Neuzeit waren in Zünften und Gilden organisiert, die aus christlichen
Bruderschaften entstanden waren. Die Zünfte wurden seit dem Mittelalter in
den Städten die Hauptträger des Antisemitismus. Juden wurden seit der
Formierung der Zünfte aus allen Handwerksberufen ausgeschlossen. Immer
wieder, seit dem 13. Jahrhundert bis weit über das Mittelalter hinaus,
standen die Zünfte an der Spitze der Vertreibungsforderungen. Gleichzeitig
vertraten die in den Zünften organisierten Handwerker eine besondere
Verherrlichung von ehrlicher Arbeit, die immer als
gegensätzlich zur jüdischen Nichtarbeit angesehen
wurde.
In Worms überfielen 1614 Zunftbürger die Judengasse und vertrieben
ihre BewohnerInnen aus der Stadt. Zur gleichen Zeit kam es in Frankfurt zu
einem Pogrom unter der Führung des Lebkuchen-Bäckers Vinzenz
Fettmilch: Zunftangehörige belagerten das Ghetto und plünderten die
Häuser. Die Proteste, die sich auch gegen die herrschenden Patrizier
richteten, führten zu den schlimmsten antisemitischen Ausschreitungen im
Frankfurt der Frühen Neuzeit. Die Stimmung gegen beide Gruppen
artikulierte sich in dem Vorwurf der kriminellen Bereicherung auf Kosten
ehrbarer Bürger. Die Zünfte waren antijüdische
Organisationen. Antisemitismus war ihr Programm. Obwohl es vordergründig
um einen Protest gegen zu hohe Zinsen, also Wucherzinsen ging, standen von
vorneherein die Juden als Angriffspunkt fest, obwohl die obrigkeitliche
Reglementierung die Einkünfte der Juden steuerlich rigoros
abschöpfte. Mitleid oder gar Solidarität mit den in
äußerster Armut lebenden Jüdinnen und Juden stand
außerhalb des Denkbaren. Im Fettmilchaufstand übernahmen die
Zünfte vorübergehend die Macht in Frankfurt, bis sie vom Kaiser zur
Räson gebracht wurden. Ihre Rädelsführer erhielten die
Reichsacht, sie wurden festgenommen und hingerichtet; die Jüdinnen und
Juden durften zurückkehren. Schon im 17. Jahrhundert war der
Antisemitismus der Zünfte revolutionär, der Protest
antisemitisch motiviert. Die ehrliche Arbeit revoltierte gegen den
Wucher.
Als 1810/11 die Allgemeine Gewerbefreiheit in Preußen eingeführt
werden sollte, stellten sich die Zünfte gegen diese Reform. Die
Stein-Hardenbergschen Reformen sollten Strukturschwächen im
Wirtschaftssystem ausgleichen und damit einen Ausweg aus der
Modernisierungskrise bahnen. So sollte Preußen Anschluss an
die wirtschaftlich fortgeschritteneren Länder England und Frankreich
gewinnen. Zunftmitglieder schrieben zahlreiche Beschwerden gegen die
Gewerbefreiheit. Besonders krass fiel die gleichzeitige Feindschaft gegen die
gewerbliche Niederlassung von Juden und gegen die Ausbreitung des
Hausierhandels auf (der ebenfalls stark als jüdisch
identifiziert wurde). Das Emanzipationsedikt für jüdische Bürger
wurde gleichzeitig mit den wirtschaftlichen Reformen eingeführt und von
den Zunftmitgliedern ebenfalls mit französischem Einfluss in Verbindung
gebracht. Eine deutsche Welt schien zusammenzubrechen. Die protestierenden
Handwerker prognostizierten nicht nur schlechtes Bier und
verdorbenes Fleisch infolge fehlender Qualifikation. Der
Gewerbefleiß sei in Gefahr und das Ende von
Zivilisation und Kultur sei nah. Der Terminus
deutsche Qualitätsarbeit ist zum Eckpfeiler des Kampfes gegen
undeutsche Einflüsse geworden.
Die Nationalisierung der Arbeit
Im 19. Jahrhundert wurde die deutsche Arbeit zum konstituierenden
Moment des deutschen Nationalstaatsmythos und zu einem Hauptpfeiler der
deutschen Identität. Es ist die nationale Arbeit, durch welche wir
unsere Volkspersönlichkeit behaupten und fortbilden, schrieb dazu
der Publizist Wilhelm Heinrich Riehl in seinem Buch Die deutsche
Arbeit (1861) ein Buch, das ausgesprochen breit rezipiert
wurde.(8)
Die Überzeugung, dass sich das Schicksal des deutschen Volkes
in der Arbeit entscheide, wurde im 19. Jahrhundert zum nationalen Konsens. Im
Gegensatz zu Frankreich definierten die Deutschen das Nationale weniger
über politisch-konstitutionelle Institutionen, sondern mehr über den
Ausdruck gemeinsamer Lebenserfahrungen, wobei die Arbeitserfahrungen neben dem
völkischen Denken zentral waren. Der Unterschied zum
Arbeitsverständnis in Frankreich lag außerdem darin, dass in
Frankreich die Arbeit in den Dienst der politischen Ideale der Revolution
gestellt wurde. Dagegen mussten die Deutschen die Arbeit nicht in den Dienst
von irgend etwas stellen. Es verselbständigte sich die Vorstellung von der
Ehre der Arbeit. Außerdem wurde der Zustand der
Arbeitsfreude von den Deutschen als erstrebenswert empfunden.
In den Jahren stockender Wirtschaftsentwicklung zwischen 1874 und 1878 erregte
die Verarmung der großstädtischen ArbeiterInnen und ihre zunehmende
Entfremdung von Kirche und Staat Besorgnis. Die soziale Frage wurde
zum Thema der Zeit. Die Diskussion darüber war bestimmt durch einen
antisemitischen Grundton. Man kämpfte gegen das sogenannte
Manchestertum, womit zum Beispiel der wirtschaftliche liberale Kurs
der Nationalliberalen bezeichnet wurde. Gleichzeitig funktionierte die Formel
Manchestertum aber auch als antisemitischer Code, der von den
Deutschen der Zeit verstanden wurde als Ausdruck aller abgelehnten und als
jüdisch identifizierten Wirtschaftspraktiken. Otto Glagau hatte diesen
Begriff popularisiert. Er rief alle arbeitenden Menschen dazu auf, sich
gegen Ausbeutung und Erniedrigung ihrer Arbeitskraft und vor allem
gegen die Dominanz einer fremden Rasse zu vereinigen. Daraus
folgernd prägte er die Losung: die soziale Frage ist die
Judenfrage. Diese Losung wurde bald zum Eckstein des deutschen
Antisemitismus.
Gegen das Manchestertum und den entfesselten
Kapitalismus wurde wieder die Idee von deutscher Arbeit
gesetzt. So tat es zum Beispiel der Hofprediger Adolf Stoecker. Die
erklärten Ziele seiner 1878 gegründeten antisemitischen
christlich-sozialen Partei waren die Verringerung der Kluft zwischen arm
und reich und die Herbeiführung einer größeren
ökonomischen Sicherheit.(9) Im Parteiprogramm wurde
außerdem eine Börsensteuer gefordert und die Wiedereinführung
von Wuchergesetzen. Der wirtschaftlich liberale Kurs wurde für die
negativen Seiten des Kapitalismus verantwortlich gemacht und diese wiederum
wurden auf jüdische Geschäftspraktiken
zurückgeführt.
Stoeckers Partei forderte in ihrem Programm die Deutschen aber auch zu
Hochhaltung der Berufsehre auf.(10) Stoecker übte
eine große Anziehungskraft auf die Menschen aus und galt eine Zeitlang
als populärster Mann Berlins. Deutlich konzentrierte Stoecker allen Hass
auf Jüdinnen und Juden. Dagegen setzte er den christlich-deutschen
Arbeitsgeist und das innere Wesen unseres Volkstums, das
unter anderem aus sittlicher Arbeit bestehe. Um die sozialen
Übelstände, die das Judentum mit sich bringe, zu heilen, so
Stoecker, müsse das Missverhältnis zwischen jüdischem
Vermögen und christlicher Arbeit festgestellt werden, um dann zu
mehr germanischem Rechts- und Wirtschaftsleben zurückkehren zu
können.
Stoecker erklärte 1878: Und hier stellen wir unsere dritte
Forderung. Das moderne Judentum muss an der produktiven Arbeit teilnehmen. ...
An der Arbeit der Handwerker sind sie fast gar nicht, an der Fabrikation wenig
beteiligt. Daraus folgt, dass sie an der Arbeit keine Freude, für die
deutsche Arbeitsehre keine Sympathie haben. Die Devise billig und
schlecht kommt zum guten Teil auf ihre Rechnung ... Für mich gipfelt
die Judenfrage in der Frage, ob die Juden, welche unter uns leben, lernen
werden sich an der gesamten deutschen Arbeit, auch an der harten und sauren
Arbeit des Handwerks, der Fabrik, des Landbaues zu beteiligen. Stoecker
droht: Sonst wäre eine Katastrophe unausweichlich.
Ähnlich wie Luther fordert Stoecker, Juden an der sauren
Arbeit zu beteiligen. Wie die Zünfte schimpft er gegen billige
und schlechte jüdische Ware (in der der Gegensatz zur
deutschen Qualitätsarbeit impliziert ist).
Zehn Jahre später schien der Antisemitismus im öffentlichen Leben
Berlins zu dominieren. Eduard Bernstein beschrieb in seiner Geschichte
der Arbeiterbewegung die Situation in Berlin 1888 so: Es war wie
eine Sturzwelle judenfeindlicher Reaktion. Eine ganze Presse, die ihr Ausdruck
gab, schoss ins Leben. Antisemitische Flugblätter gegen alles, was
jüdisch oder jüdischer Sympathien verdächtig war, wurde in
Massen verbreitet ... Alles natürlich unter der Phrase der Verteidigung
des deutschen Idealismus gegen jüdischen Materialismus und des Schutzes
der ehrlichen deutschen Arbeit gegen jüdische
Ausbeutung.(11)
Diese Realität muss Stoecker als Triumph empfunden haben. Aber nicht nur
er: Auf dem Höhepunkt seines Triumphes bekam Stoecker Anerkennung von
höchster Stelle. Der Kaiser gewährte Stoecker am Vorabend seines
Geburtstages eine Audienz und zeigte mit dieser anerkennenden Geste, dass er
seine Arbeit würdigte. Übereinstimmung mit dem Stoeckerschen
Programm, zumindest was den Antisemitismus angeht, konnte sich aber auch
unauffälliger äußern, wie zum Beispiel im Parteiprogramm der
konservativen Regierungspartei. Dort hieß es: Wir fordern ein
wirksames Einschreiten der Staatsgewalt gegen jede gemeinschädliche
Erwerbstätigkeit und gegen die undeutsche Verletzung von Treu und Glauben
im Geschäftsverkehr.(12)
Der Begriff deutsche Arbeit war am Ende des 19. Jahrhunderts
längst zu einem antisemitischen Code geworden. Er beinhaltete den
Gegensatz zu jüdischer Arbeit, ohne dass dies ausgesprochen
werden musste. Antisemitische Codes wie deutsch, Volk
und ehrliche Arbeit prägten die deutsche Kultur. 1933 konnte
sich die NSDAP auf diesen Antisemitismus stützen.
Es gehört zu den Charakteristika des modernen Antisemitismus, dass der
Kapitalismus wahrgenommen wird in zwei voneinander getrennten Sphären: die
Sphäre der Produktion wird als konkret empfunden und häufig
verherrlicht, die Sphäre des Tausches, der Finanzen wird als abstrakt
empfunden und für alle negativen Folgen des Kapitalismus verantwortlich
gemacht. Mit der abstrakten Seite des Kapitalismus werden im antisemitischen
Denken die Jüdinnen und Juden in Verbindung gebracht. In dieser
allgemeinen Form ist Antisemitismus, mehr oder weniger verbreitet, auch in
anderen Ländern zu finden. Trotzdem spielt es eine Rolle, welche
Zuschreibungen es genau zu jeder der Sphären gibt. Nicht in allen
Ländern, in denen Antisemitismus verbreitet war, wurde die Arbeit so stark
mit der eigenen nationalen Identität verknüpft.
Für Deutschlands ersten Arbeiter, wie man Hitler gerne nannte,
war das Verhältnis zur Arbeit zentral. In seiner grundlegenden Rede
über den Antisemitismus mit dem Titel Warum sind wir
Antisemiten denunzierte er - auf deutsche Art - im vollbesetzten
Hofbräuhaus 1920 die jüdische Arbeit: sie sei der Wunsch
nach dem Leben im Paradies. Juden sähen Arbeit nur als Strafe an. Hitler
kommentierte: Hier trennt uns schon eine ganze Welt; denn wir können
Arbeit nicht als Strafe auffassen. ... Ich muß gestehen: Ich könnte
nicht ohne Arbeit sein, und Hunderttausende und Millionen würden
vielleicht 3, 5 Tage, 10 Tage aushalten, könnten aber nicht 90 oder 100
Tage leben ohne Tätigkeit.
Wenn es wirklich dieses Paradies gäbe, dieses sogenannte Schlaraffenland,
es würde unser Volk darin nicht glücklich werden.(Rufe: Sehr
richtig!) Wir suchen unbedingt eine Möglichkeit zur Betätigung und
wenn der Deutsche keine andere Möglichkeit hat, so schlägt er sich
zum Mindesten zeitweilig gegenseitig den Schädel ein.
(Heiterkeit)(13)
Die deutsche Revolution
Der Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion schuf die Voraussetzungen zur
Erreichung der deutschen Utopie, der judenfreien Welt. Ein Schritt
dahin war die Errichtung des Lagersystems. Im nationalsozialistischen Lager
sollte jeder die Form von Arbeit leisten, die ihm seinem Wesen nach
zustehe. Dafür steht die Parole Arbeit macht frei. Den
Jüdinnen und Juden stand keine Arbeit zu. Sie, die in der Vorstellung der
Deutschen nie gearbeitet hatten, sollten zu harter, körperlicher,
erniedrigender Arbeit gezwungen werden und ihre Arbeitskraft bis zu
ihrem Tode zwecklos verausgaben. Dieses Arbeitsverständnis hat sich aus
der langen Geschichte der antisemitischen deutschen Tradition entwickelt. Doch
das Arbeitsverständnis entwickelt sich nicht nur aus Ideen und
Vorstellungen. Eine entscheidende Rolle für die Herausbildung von
identitätsstiftenden Vorstellungen, wie der von deutscher
Arbeit, bildet die konkrete Praxis hier diejenige des
Arbeitsprozesses. Wichtige Erkenntnisse hat hier der amerikanische Soziologe
Richard Biernacki geliefert. In einer vergleichenden Studie hat er die
nationalen Unterschiede bei der Entwicklung der Produktion in Fabriken in
Deutschland und England und die damit zusammenhängenden Konzepte von
Arbeit untersucht.(14) In Großbritannien und Deutschland hatten
sich im 19. Jahrhundert zwei völlig unterschiedliche Konzepte von Arbeit
entwickelt. Im Mittelpunkt des Produktionsprozesses stand in
Großbritannien das Produkt in Deutschland die Arbeitskraft. Die
britischen Unternehmer orientierten sich außerdem stärker am Markt
als die Deutschen sie ließen ihre ArbeiterInnen z.B.
Bußgelder zahlen, wenn sich deren Produkte am Markt als nicht
verkaufsfähig erwiesen. Es war dagegen unwichtig, wie ein Produkt
produziert wurde der konkrete Arbeitsprozess war eher in Deutschland
wichtig. Hier gab es AufseherInnen, die die Arbeitskraft überwachten und
zum Beispiel das Aus-dem-Fenster-Gucken bestraften. Britische
ArbeiterInnen konnten sich Vertretungen selbst organisieren, ihr Lohn war viel
stärker vom Verkauf auf dem Markt abhängig als in Deutschland. Sie
definierten sich zum Teil selbst als SubunternehmerInnen (ihre
deutschen KollegInnen fühlten sich bekanntermaßen wie
Rädchen im Getriebe). Diese Selbstdefinitionen, die auf
Erfahrungen der konkreten Praxis in der Produktion beruhten, können zur
Erklärung beitragen, warum die Ablehnung der Distributionssphäre in
Deutschland so viel stärker ausgeprägt war als in
Großbritannien. Doch das muß in weiteren Arbeiten erst noch genauer
untersucht werden.
Fussnoten
(1) Joseph Schupack: Tote Jahre. Eine jüdische Leidensgeschichte.
Tübingen 1984, S. 318. Zitiert nach Goldhagen, 1996, S. 348.
(2) Daniel Johah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz normale
Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996, S. 348. Goldhagen zitiert aus: Edward
Gryn und Zofia Murawska: Majdanek Concentration Camp, Lublin 1966, S. 34 f.
(3) Goldhagen, 1996, S. 370
(4) Adolf Hitler: Rede in München, 13. August 1920. Zitiert nach
Goldhagen, 1996, S.333.
(5) Adolf Hitler, zitiert nach Daniel Jonah Goldhagen, S. 337.
(6) Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen. Geschrieben
1542-43. In: Luther, Martin, Ausgewählte Werke. Ergänzungsreihe
dritter Band, Schriften wider Juden und Türken. Herausgegeben von H.H.
Borcherdt / Georg Merz, zweite, veränderte Auflage Berlin, München,
1936, S. 187.
(7) Ebenda, S. 187.
(8) Wilhelm Heinrich Riehl: Die deutsche Arbeit, Stuttgart 1861, S.
57/58.
(9) Zitiert nach Massing: Vorgeschichte des politischen
Antisemitismus, Frankfurt am Main 1959, S. 26.
(10) Adolf Stoecker: Christlich-Sozial. Reden und Aufsätze.
Zweite Auflage, Berlin 1890, S. 21.
(11) Eduard Bernstein: Geschichte der Berliner
Arbeiterbewegung. Berlin 1907-1910, Bd. II, S. 59.
(12) Fritz Specht/Paul Schwabe (Hg.): Die Reichstagswahlen von 1867
bis 1903. Eine Statistik der Reichstagswahlen nebst den Programmen der Parteien
und einem Verzeichnisse der gewählten Abgeordneten. Zweite Auflage, Berlin
1904, S.333.
(13) Hitler, zit. n. Phelps, a.a.O., S. 404.
(14) Richard Biernacki: The Fabrication of Labor. Germany and Britain,
1640-1914. Berkeley and Los Angeles, London 1995.
*) Ulrike Becker ist Mitautorin des Buches Goldhagen und die deutsche
Linke
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