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Krass, die Geschichte!

Buchcover, 15.8k

Harry Mulisch:
Siegfried.
Eine schwarze Idylle

Carl Hanser Verlag: 2001,
ISBN: 3-446-20090-8

Der Grass der Niederlanden, Harry Mulisch, hat sich mit seinem neuesten Roman „Siegfried“ im Krebsgang an das gleichnamige Pamphlet(1) des Vertriebenenverbandes, äh nein, des größten und krassesten deutschen Schriftstellers aller Zeiten angenähert. Die inhaltliche Übereinstimmung der beiden Bücher – die weniger eine der Handlung ist, sondern vielmehr der Perspektive, aus der ein Blick auf die deutsche Geschichte, das Dritte Reich, geworfen wird – überrascht. Mulisch war im Gegensatz zu Grass bislang dafür bekannt, gute Bücher zu schreiben. Mit dem Buch „Das Attentat“ hatte Mulisch 1982 einen der besten Romane über das Dritten Reich verfasst. Und nun das! Besichtigung eines Dilemmas.

Herter, der Erzähler und Hauptheld des Romans, ist ein berühmter niederländischer Schriftsteller, dessen Ähnlichkeiten mit Mulisch nicht an einer Hand abzuzählen sind. Herter ist Mulisch oder Mulisch ist Herter(2), ein Trick, der vielerorts als besonders gelungen gelobt wird, allerdings zum schriftstellerischem Handwerk gehört, wenn einem nichts anderes mehr einfällt. In seinem Buch „Die Zukunft von gestern“ gibt Harry Mulisch noch Auskunft darüber, wie er daran gescheitert ist, einen Roman über das Dritte Reich zu schreiben. Nachdem er als einziger Schriftsteller am Eichmann-Prozess in Jerusalem teilgenommen hatte, versuchte Mulisch, den „Konjunktiv des Konjunktivs zu erfinden“(3): ein Schriftsteller in Germania (die Deutschen hatten den 2. Weltkrieg gewonnen, so die Fiktion) überlegt sich, wie die Welt aussähe, wenn Deutschland besiegt worden wäre. In dieser Fiktion kam dann wiederum ein Schriftsteller namens Harry Mulisch vor... Mulisch sah sich aber nicht in der Lage, das Buch zu verfassen.
In „Siegfried“ hingegen ist alles weniger verschachtelt und verzweifelt. Herter ist ein arrogantes Arschloch, welches sinnlose Lebensweisheiten von sich gibt, sich narzistisch im Ruhm, der ihm zuteil wird, sonnt und seine 30 Jahre jüngere Freundin wie ein Baby behandelt, obwohl sie ihn ob seiner Gebrechlichkeit pflegt. Mulisch schildert dies aber nicht selbstironisch, sondern gibt im ersten Teil des Buches mit stolz geschwellter Brust Auskunft über sich selbst. Er inszeniert sich als Genie; andere dürfen an seinen intellektuellen Brosamen teilhaben, sofern sie sie schlucken und verdauen können. Die Welt ist so eingerichtet, und das sei gut so.
Im zweiten Teil des Buches geht es um das neue Projekt von Herter: Hitler. Über ihn seien schon tausend wissenschaftliche Studien geschrieben worden, die es aber alle nicht geschafft hätten, das Phänomen zu erklären. „Vielleicht ist Fiktion das Netz, in dem er gefangen werden kann“, sinniert Herter. Er will sich eine Geschichte über Hitler ausdenken, die ihn endlich und endgültig begreifbar macht. Allerdings kommt Herter ein älteres Ehepaar zuvor, die sich als die HaushälterInnen von Hilters Anwesen auf dem Obersalzberg outen und Herter erzählen, dass Hitler mit Eva Braun ein Kind hatte, welches erst versteckt werden musste und schließlich auf Anweisung Hitlers umgebracht wurde. Herters geplante Fiktion wird von der Realität übertroffen, doch die Realität ist eben nur die Fiktion von Harry Mulisch, der also meint, mit seiner Fiktion die letztendliche Wahrheit über Hitler gesagt zu haben.
Mulisch spürt aber instinktiv, dass er mit dem Kind nicht viel aussagen kann. Schliesslich sind uneheliche Kinder und Kindsmord weder die Erfindung noch das Markenzeichen von Hitler. Dass er seinen Sohn Siegfried schliesslich umbringen ließ, hatte insofern einen „rationalen“ Kern, dass Himmler aus Machtgründen das Ahnenzeugnis von Eva Braun fälschte und Hitler annehmen musste, sein eigner Sohn hätte „jüdisches Blut“: „Angenommen (...) Siggi wäre mein Nachfolger geworden, dann wäre das der allergrößte Coup des Judentums gewesen: Dann hätte das jüdische Blut die Weltherrschaft erobert und die menschliche Zivilisation vernichtet“.
Deswegen lässt Mulisch Herter über Hitler philosophieren und daran zu Grunde gehen. Über mehr als zwanzig Seiten zieht sich ein Monolog, der Hitler zum „Nichts“ erklärt – als Endpunkt einer philosophischen Strömung von Plato, über Kant, Hegel, Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Nietzsche und Schopenhauer.(4) Hitler könne man nicht begreifen, weil man das „Nichts“ nicht begreifen könne. Hitlers Embryo habe Nietzsche in den Wahnsinn getrieben und Hitlers Geist Herter in den Tod, usw. Große Gedanken werden beiläufig und bis zur Unkenntlichkeit komprimiert dahingeworfen, oder: kleine Gedankenspiele
Gedenkstein, 26.5k
"Den Toten im Osten": Gedenkstein des "Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge" in Berlin – Siegfried wäre auch ein Mitglied...
als große Gedanken getarnt. Das bekommt man nicht so richtig raus. Man fühlt sich wie in einem Artikel von Ralf – und nicht wohl dabei.
Was bleibt also vom Roman, wenn wir das Philosophische abziehen, weil es in der Form keinen Erkenntnisgewinn bringt? Die Tagebücher von Eva Braun, die unvermittelt am Ende dokumentiert werden. Und die Geschichte von Siegfried, die detailgetreu von den HaushälterInnen berichtet wird. Diese beiden Teile sind der absolute Gegensatz zu allem, was Mulisch bislang geschrieben hat. In „Das Attentat“ geht es um die Ausweglosigkeit und Irrsinnigkeit des Nationalsozialismus – aus der Perspektive der „Opfer“. Berichtet wird von Widerstand und Anpassung, von Verzweiflung und der Unmöglichkeit von menschlichem Handeln. In „Siegfried“ lernen wir das Dritte Reich aus der Sicht der „Täter“ kennen. An dieser Perspektive sind drei Sachen falsch: Hitler und Eva Braun waren nicht die einzigen Täter. Eine Täterperspektive muss den Standpunkt von Goldhagen einnehmen und die „normalen Deutschen“ untersuchen. Zweitens ist es falsch, Hitler als das absolut Böse zu mystifizieren,(5) der über die Deutschen gekommen sei. Nicht Hitlers fiktives Kind ist von Interesse (die Geburt von Siegfried am 9.11.1939 soll Auslöser für die antisemitischen Pogrome in Deutschland gewesen sein – Hitler wollte wieder ganz Mann sein, eine Eigenschaft, die durch das Kind in Frage gestellt schien), sondern sein Antisemitismus. Dieser wiederum lässt sich weniger psychologisch oder metaphysisch erklären, sondern mehr politisch, gesellschaftskritisch. Drittens ist die Täterperspektive immer eine verstehende, entlastende. Wir lernen im Roman, dass Hitler auch nur Opfer der Himmlerischen Intrigen war, Siegfried ein netter Bursche, der leider sterben musste, und Eva Braun eine arme Frau, die sehr unter ihrem Geliebten gelitten hat. Wenn nicht Hitler, so tun einem am Ende doch immerhin Eva Braun und Siegfried leid und man fühlt mit dem Haushälter mit, immerhin ein bekennender Nationalsozialist, der durch den Befehl, Siegfried umzubringen, in Gewissensnöte gestürzt wird.(6)
Die Ursache für das Ärgernis ist bei Mulisch allerdings älteren Datums. Zum Abschluss seiner Artikelserie über den Eichmann-Prozess schrieb Mulisch 1961: „Ich sehe sowohl ihn (Eichmann), mich selber als auch andere in grellerem Licht. Und das Merkwürdige dabei ist, daß die Konturen darin unschärfer geworden sind. Es gibt verschwommene Übergänge zwischen ihm und mir, den anderen und ihm, mir und den anderen, aber auch zwischen ihm und den Toten, den Toten und mir, den anderen und den Toten...“(7) Diese vermeintliche und für ihn erschreckende Ähnlichkeit führt nun in Siegfried nicht dazu, nach den Unterschieden zu suchen und sie hochzuhalten, sondern die Gemeinsamkeiten zu betonen: den Hitler in uns aufzuspüren und das Menschliche in Hitler. In „Siegfried“ wird Mulisch erst zu Herter, der wiederum zu einem Hitler en miniature. Die erster Metamorphose ist unspannend, die zweite unsäglich.
Wäre nun Mulisch ein deutscher Schriftsteller, sein Buch würde gefeiert werden und fände reißenden Absatz. So aber, sei es, weil er Ausländer ist oder eigentlich eine antifaschistische Grundhaltung vorzuweisen hat, nörgelt das Feuilleton an ihm rum: „So wolkig-blumig, so ausweichend nebulös ist (in Deutschland) zuletzt während der Stunde Null über Hitler gemunkelt worden. ... Er (Mulisch) fällt dabei auf einen Bewusstseinsstand zurück, den wir seit einem halben Jahrhundert hinter uns gelassen haben“ – so Tilman Krause in „Die Welt“(8). Dass er (und die meisten seiner Landsleute) den Bewusstseinsstand noch lange nicht hinter sich gelassen hat, beweist er prompt mit seinem direkt darauf folgenden Satz: „Wer sich für ‘Hitlers Geheimnis’ interessiert, ist bei Machtan besser bedient“. Dazu muss man wissen, dass Machtan Hitler „auf die Spur kommt“, indem er seine vermeintliche Homosexualität ergründet.(9)
In den Niederlanden hingegen ist „Siegfried“ ein Bestseller. Damit sind sie sicherlich besser bedient als die Deutschen mit ihrem „Krebsgang“. In beiden Fällen sei aber die Lektüre von „Das Attentat“ empfohlen. Berta

Fussnoten

(1) Kritische Besprechung von Günter Grass: „Im Krebsgang“: Jungle World 09/2002, S. 24-25; konkret 03/2002, S. 46-48
(2) Dies wird schon daran deutlich, dass Mulisch in einem Interview mit einer niederländischen Tageszeitung all die Sachen als seine Gedanken wiederholt, die er in „Siegfried“ Herter angedichtet hat. (http://www.nrc.nl/W2/Nieuws/2001/02/02/Vp/cs.html+)
(3) http://www.schreibheft.de/docs/rezensionen/harry_mulisch.html
(4) Dieser historisch-philosophische Ansatz besitzt ja einige Plausibilität, wie Jens Jessen in „Die Zeit“ schreibt, allerdings: „Bei Mulisch tritt jetzt aber (... der) Ansatz als Karikatur auf, als geisteskranke Parodie und Wahn“ (http://literaturbeilage.zeit.de/show_article_premium? artikel_id=200141_Das_Gift_wirkt_weiter& rubrik_id=98&rubrik_name=Roman))
(5) „Hitler in sexueller Erregung, das ist eine in höchstem Maße widerliche Vorstellung. (...) Harry Mulisch (...) zwingt uns diese Szene auf, die allerdings auch schon die unangenehmste seines neuen Buches (...) ist.“ – so beginnt die Rezension der Berliner Zeitung (http://www.berlinonline.de/kultur/lesen/belle/.html/belle.200139.01.html). Als ob das das Verbrechen von Hitler wäre: Sex gehabt zu haben...
(6) Nachdem Herter die Geschichte von Siegfried gehört hat, sagt er: „Noch nie habe ich eine schrecklichere und unbefriedigendere Geschichte gehört.“
(7) zit nach: http://www.schreibheft.de/docs/rezensionen/harry_mulisch.html
(8) http://www.diewelt.de/daten/2001/11/03/1103lbel293035.htx
(9) Siehe auch: „Schwule Verschwörung“ von Tjark Kunstreich, in: konkret 12/2001, S. 60


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last modified: 28.3.2007