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Die eigentliche Bewegung ist und bleibt die Revolution

Marx’ Kritik an Hegel plus ein paar Bemerkungen zur Realisierung von Kritik

„Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ (Hegel)

Nach Hegel ist der Unterschied zwischen Idee und Wirklichkeit der Unterschied zwischen der abstrakten Vernunft des Bewusstseins und der sinnlichen Welt. Alle anderen Widersprüche sind nur der Schein dieses einzigst interessanten Widerspruchs zwischen ‘an sich’ (Vernunft) und ‘für sich’ (sinnliche Welt). Das wesentliche Dasein des Denkens, also der Vernunft, ist die Abstraktion, die sinnliche Welt dessen Erscheinung und damit Entfremdung des Denkens. Sinnliche Wirklichkeiten, wie der Staat und das Recht, sind Hegel zufolge deshalb aber nicht abzulehnen, sondern in ihrer Eigenschaft als Erscheinungen des Denkens, Bestätigungen und Selbsterzeugung des Denkens. Denn in der hegelschen Logik gilt das dialektische Prinzip, welches allgemeines Entwicklungsprinzip ist. Dialektik heißt, dass sich Entwicklungen durch Gegensätze vollziehen.
Stell dir, lieber Leser, vor, es gäbe nur Dich auf dieser Welt. Du könntest nicht sagen, ob du groß oder klein, dick oder dünn, weiblich oder männlich, Hetero oder Homo, links oder rechts, Tier oder Mensch, wissend oder unwissend, ich oder du wärst. Diese Aufzählung ließe sich unendlich erweitern und keine bestimmbare Eigenschaft wäre demzufolge auszumachen. Du hättest keine Ahnung, weil du keine Ahnung von dir selbst hättest. Du wärst nichts. Erst in der Auseinandersetzung mit Anderem kannst du Dich selbst begreifen.
Auseinandersetzung im dialektischem Sinne bedeutet einerseits, sich durch seinen Gegensatz bestimmen zu können, sich durch ihn zu bestätigen und andererseits gegen ihn zu sein, um sich zu legitimieren. Die Anerkennung des Anderen, um selber anerkannt zu werden, bedarf gleichzeitig einer negative Bestimmung des Anderen, um sich selbst zu bestätigen. Dieser Widerspruch erzeugt Bewegung, die Entwicklungen zur Folge hat.
Identität bedarf Nicht-Identität. Das Absolute ist die Einheit von Beidem. Die Entwicklung der Menschheit ist laut Hegel der Selbstvollzug der absoluten Vernunft. In dem menschlichen Organismus treffen Wirklichkeit und Vernunft aufeinander, sie vermitteln sich dialektisch miteinander. Wenn die absolute Vernunft (in der Vulgärhegelschen Sprache als Weltgeist bekannt) das Absolute ist, bedarf es in diesem Ganzen eine Bewegung von Identität und Nichtidentität, die in der Bewegung von Theorie (theoretische Vernunft, Intelligenz) und Praxis (praktische Vernunft, Wille) stattfindet. Die theoretischen Ideen stehen der wirklichen Welt gegenüber. In der Gestaltung der Ideen werden die Ideen selber Wirklichkeit. Doch Defizite treten nach der Umsetzung zu Tage, mit denen sich nun theoretisch neu auseinandergesetzt werden muss. Dieser Prozess bringt die absolute Vernunft hervor. Die subjektive Vernunft ist das Subjekt der Bewegung der zu sich selbst kommenden Vernunft.
Diese Bewegung ist nur möglich, weil der Mensch sich eine Nichtidentität gegenüber stellt, in dem er in einen Stoffwechselprozess mit der Natur tritt. Der Mensch verwirklicht sich in der Natur und wird sich dadurch selber bewusst. Sowohl die vom Menschen gestaltete Wirklichkeit als auch die subjektive Vernunft sind Entfremdungen der absoluten Vernunft, die aber nur in der dialektischen Bewegung dieser entfremdeten Gestalten sich zu sich selbst bewegen kann.
Im Widerstreit zwischen dem was ist und dem, was der Willkür nach sein soll, liegt das Bedürfnis, das Rechte kennen zu lernen. Dabei muss sich die Philosophie laut Hegel gegen den Zeitgeist wenden, der Theorien gegen das Daseiende stellt und als notwendig und richtig erscheinen lässt.
Diese Zufälligkeit des Meinens egalisiert sowohl die gesamte Menschheitsgeschichte, in der die Vernunft zu sich selbst kommt, als auch tausendjährige Philosophiegeschichte, in der die Vernunft zum Begriff gedrängt hat.
Die Aufgabe, die Hegel der Philosophie stellt ist, die Entfremdung aufzuheben, indem die bloße Anschauung der sinnlichen Welt im reinen Denken aufgehoben wird, „um den inneren Puls zu finden“ (Hegel, G.W.F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse). Hegel möchte zum Bewusstsein vordringen, indem die Selbstentfremdung des Menschen durch die Auseinandersetzung mit der gegenständlichen Welt zu Gunsten des abstrakten Denkens entschieden wird, um das Wesen der Vernunft, das Substrat der Vernunft, welches sich überall zur Geltung bringt, in der gegenständlichen Welt entdecken zu können. Das Ganze, was für die Philosophie in der Wirklichkeit zu erkennen galt, war für Hegel ein Werden der Vernunft und nichts feststehendes. Deswegen war das Gegenwärtige für ihn nicht kritisierbar, da es das Werden der Vernunft beinhaltete und weit mehr zur Reife gelangt war, als eine Theorie aus einem einzelnen Kopfe.
Konkret wird die Philosophie Hegels bezüglich dem Staat, der nämlich „die reiche Gliederung des Sittlichen in sich“ ist und in dem „es die Vernunft ist, welche in der Tat in diesem Elemente sich zur Kraft und Gewalt“ verwirklicht, und zum zweiten bezüglich dem Recht, in welchem dem Menschen „seine Vernunft (...) entgegenkommen“ (ebd.) muss.
Staat, Gesetz und Recht waren für Hegel sozusagen reifende Früchte der werdenden Vernunft. Das Ganze gelangt durch die Beziehung der Teile untereinander zu sich. Dieses dialektische Prinzip ist für Hegel, um es zu wiederholen, allgemeines Entwicklungs- und Gestaltungsprinzip. Auch die Erkenntnismethodik muss sich diesem Prinzip anpassen, indem nicht die Teile allein zu studieren sind, sondern auch die Beziehungen der Teile. Hegel untersucht von den Begriffen und deren Beziehungen ausgehend die Wirklichkeit. Er setzt die in der Vernunft erdachten Begriffe voraus, um von diesen in die Wirklichkeit zu dringen.
Die Spekulation (im Sinne von Ausschau) ist der Ausgangspunkt für Metaphysik. Das heißt, der Verstand spekuliert und betrachtet dann durch die erdachten Begriffe die Wirklichkeit.
„Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen. [...] Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft.“ (ebd.)
Die Grundaussage, die hier von Hegel rüber kommen sollte, ist erstens, dass Hegel im Werden der menschlichen Gesellschaft ein vernünftiges Prinzip vermutet, zweitens, dass dieses dialektisch zur Reife gelangt und drittens, dass die Aufgabe der Philosophie ist, die Vernunft in der Welt zu erkennen und nicht rumzumäkeln.

Revolution
„Wenn diese Gelegenheit vorüber geht ohne benutzt zu werden..., dann können wir ruhig einpacken mit unseren revolutionären Siebensachen...“ (Karl Marx in einem Brief an Engels, 1866)
Neben der Tatsache, dass Marx in diesem Zitat nicht ganz so cool davon ausgeht, dass die antibürgerliche Revolution zwangsläufig die befreite Gesellschaft bringt, wird ziemlich klar, dass Marx auf jeden Fall Bock darauf hatte. Das seines Erachtens das Wirkliche nicht automatisch das Vernünftige wiederspiegelt, weiß man.
Marx wollte eine Kritik der Wirklichkeit, und das auf der Höhe der Zeit.
Und da die deutschen Zustände schon zu Marxens Zeit rückständig waren, hat er die Kritik an der abstrakten Fortsetzung deutscher Zustände geübt. Und die abstrakte Fortsetzung war die deutsche Philosophie. Deren Genius war Hegel. Marx bezeichnet die spekulative Rechtsphilosophie Hegels als „abstrakte(s) überschwängliche(s) Denken“ (Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie).
Marx knüpft an den Begriff der Entfremdung an, indem er Hegel zugesteht, erkannt zu haben, dass der Widerspruch zwischen Sein und Sollen, in der Entfremdung des Menschen zu betrachten ist. Allerdings besteht Marx zufolge das Wesen der Entfremdung nicht in der Vergegenständlichung des menschlichen Wesens an sich („Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als ein Gattungswesen.“ Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Die entfremdete Arbeit), sondern in der unmenschlichen, weil im Gegensatz zu sich selbst stattfindenden Entfremdung des Menschen. (Der Entfremdungsbegriff bei Marx ist ein schwieriger, da er eine positive Anthropologie voraussetzt, die in den Frühwerken von Marx ausgeprägter als in den Spätwerken erscheint. Ich beziehe mich auf die Anthropologie, die Marx im Kapitel „Feuerbach“ der Deutschen Ideologie und in der „Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt“ in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ schildert, weil ich mit dieser ziemlich konform gehen würde.)

„Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen.“
Der Mensch ist nach Marx nicht reiner Geist, sondern „unmittelbar Naturwesen“. Das heißt „die Gegenstände seiner Triebe existieren außer ihm, als von ihm unabhängige Gegenstände; aber diese Gegenstände sind Gegenstände seines Bedürfnisses, zur Betätigung seiner Wesenskräfte unentbehrliche, wesentliche Gegenstände.“ (Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt) Der Mensch kann also nicht autark überleben, er muss sich die Gegenstände seiner Triebe in der Natur besorgen. Doch das würde ihn noch nicht zu einem Gattungswesen machen, welches sich vom Tier unterscheidet. „Er ist menschliches Naturwesen; d.h. für sich selbst seiendes Wesen, [...] als welches er sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen und betätigen muss. [...] Weder die Natur – objektiv – noch die Natur subjektiv ist dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden.“ (ebd.) Wenn der Mensch einerseits nicht nur Teil der Natur ist, andererseits auch nicht vollkommen außer ihr ist, ergibt sich noch keine Antwort über die Herkunft des Teils vom Menschen, der nicht objektiv Natur ist. Dazu sagt Marx: „Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen.“ (ebd.)
Und hierraus leitet sich her, welcher der grundlegende Unterschied zwischen Marx und Hegel ist. Marx geht von einer Natur im Menschen aus, die sich in Trieben äußert, während Hegel die Natur nur als Mittel zum Zweck betrachtet: der Zweck ist die Vernunft als Ausgangs- und Endpunkt menschlichen Daseins. Für Marx gibt es außer der Naturhaftigkeit des Menschen noch den Unterschied, der ihn vom Tier unterscheidet. Dem das menschliche Wesen ist, wie Marx es in seiner 6. Feuerbach-These erklärt, das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Ohne diese Einsicht ist man gezwungen, „von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren“ und „ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen“. Eben dieser geschichtliche Verlauf ist für Marx aber nicht die zu sich selbst kommende Vernunft des Bewusstseins, sondern im Falle der bisherigen Geschichte einer, der sich gegen die Menschen gewandt hat. Marx versteht die Geschichte der Menschheit beginnend mit drei Voraussetzungen. Erstens: die Befriedigung von Bedürfnissen. Dabei werden nicht die Bedürfnisse eines abstrakten Geistes, sondern die der Natur des Menschen, also zum Beispiel atmen, essen, und trinken zu müssen nicht erfrieren zu wollen etc., befriedigt. Diese grundlegende Lebensbewältigung führt zu neuen Bedürfnissen, womit wir bei Zweitens wären: eben jene Errungenschaften, die entwickelt wurden, um zu überleben, werden neue Bedürfnisse. So ist dann die Lanze, die zum Erlegen von einem Tier, welches als Nahrung das Bedürfnis nicht zu hungern befriedigt, selbst ein Bedürfnis der Menschen geworden. Heute sind es Heizungen, Computer etc. Drittens: Die Menschen pflanzen sich fort (kannte der scheinbar heterosexuelle Marx keine Verhütung oder warum nennt er das so?).
Diese angeführten Punkte sind laut Marx und Engels „drei ‘Momente’, die vom Anbeginn der Geschichte und seit den ersten Menschen zugleich existiert haben und sich noch heute in der Geschichte geltend machen. – Die Produktion des Lebens, sowohl des eigenen in der Arbeit, wie des Fremden in der Zeugung, erscheint nun schon als ein doppeltes Verhältnis – einerseits als natürliches, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis – gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, [...] verstanden wird.“ (Feuerbach-Kapitel in: Deutsche Ideologie) Dieses Zusammenwirken ist in Marx seinem Verständnis nicht als bloße Organisation der Produktion wegen zu verstehen, sondern selbst Produktivkraft.
Der vierte Moment ist nach Marx die Form des Zusammenwirkens der menschlichen Individuen, der selbst als Produktivkraft und damit als geschichtliche Kraft wirkt.
Auf der Ebene dieser Erkenntnis schildert Marx die Entstehung von Bewusstsein, welches demzufolge nicht Ursprung sondern das Produkt von Gesellschaft ist. Das existierende Bewusstsein ist die Sprache, welche aus der Notdurft, mit anderen Menschen zu verkehren, entstanden ist. Erst durch die benutzte Sprache existiert für die anderen Menschen und mich selbst Bewusstsein. Und erst aus dem Gebrauch von Sprache emanzipiert sich der Mensch zum gesellschaftlichen Wesen, nachdem das Bewusstsein an Stelle des Instinkts den Menschen mit der Natur und seiner Umgebung vermittelt. Das Bewusstsein ist im Marxschen Sinne, also nicht im Hegelchen Sinne, als abstraktes vorausgesetztes Ursprungsprinzip von Gesellschaft zu verstehen, da es selber Produkt und somit nicht über den eigenen Erzeuger, die Geschichte, transzendieren kann. Das Bewusstsein entwickelt sich auf der Höhe der Geschichte der Menschen. Die Arten des Zusammenwirkens, der Produktionsverhältnisse (worunter auch Wissen und Organisation des Stoffwechsels mit der Natur gefasst sind) und der Bedürfnisse, spiegeln sich im Bewusstsein wieder. An dieser Stelle kritisiert Marx dann auch das Denken der deutschen idealistischen Philosophen als abstrakt, überschwänglich und als eine Art Religion. Denn die kritisierte Philosophie begreift Denken als autonomen Vorgang. Dieser Irrglaube entstand, so vermutet Marx, aufgrund der Teilung von Kopf- und Handarbeit. Erst dann konnten sich die geistig Arbeitenden einbilden, ihr Denken sei losgelöst von der sinnlichen Welt.
Während Hegel also die Menschheitsgeschichte als Vernunftgeschichte begreift und der Mensch demzufolge Vernunft verkörpert, ist Marx nach der Mensch Naturwesen, welches Triebe hat und geschichtliches Wesen, weil sich aus der Geschichte Gesellschaft und damit auch der Mensch in seiner spezifischen geschichtlichen Daseinsweise entwickelt.

Die Entfremdung
Eine Grundlage menschlicher Entwicklung ist der Stoffwechselprozess des Menschen mit der Natur. Und hier kommen sich Hegel und Marx in der Fokussierung dieses Prozesses als Produktion menschlichen Seins sehr nahe – ohne jedoch den gleichen Schluss daraus zu ziehen.
Schon bei Hegel ist der Mensch als selbstbewusstes Wesen Produkt seines Eingreifens in die Natur (s.o.). Diese Dialektik der Bewegung durch Negativität ist bei Hegel Prinzip, weil in ihr Selbsterzeugung geschieht. Negativ ist der Gegenstand, weil er als Entäußerung zugleich Entfremdung bedeutet. Jegliche Vergegenständlichung ist Entfremdung des Bewusstseins. Deswegen begreift Hegel die Wiederaneignung des Gegenstandes als notwendige Aufhebung und Negierung der Entfremdung.
Da Marx aber von der „Geschichte als Naturgeschichte des Menschen“ ausgeht und das Werden des Menschen nicht im Schoß der absoluten Vernunft verortet, tritt an die Stelle des Geistes die Tätigkeit als Subjekt der Dialektik.
„Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbstständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt die Idee nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ (Das Kapital, Bd.1, Nachwort zur zweiten Auflage)
In dem organischen Lebensvollzug der Menschen entwickelt sich die Gesellschaft. Er betrachtet daher den Stoffwechselprozess des Menschen nicht als totale Bewegung des Bewusstseins zu sich selbst, sondern als Dialektik des Werdens der Menschen. Nun tritt aber die Gesellschaft im Zustande des Kapitalismus dem Menschen nicht mehr als selbstgemachte sondern als übermächtige gegenüber. Der Mensch begreift sich nicht mehr als Produzent von Geschichte, weil er keinen sinnlichen Bezug zu seinem Lebensvollzug mehr herstellen kann. Anstatt unmittelbar bedürfnissorientiert sein Leben zu gestalten, sich von der Gewalt, schuften zu müssen zu emanzipieren, geht der Mensch auf Arbeit, um zu arbeiten und verschwindet gegenüber der Produktion, die im Kapitalismus nicht anders sein kann, als profitorientiert. Das Kapitalverhältnis degradiert den Menschen zum Träger und Untertan der Selbstbewegung des Kapitals, abstrahiert den Menschen zu einem Arbeitstier und stellt sich dem Menschen gezwungenermaßen naturwüchsig dar. Der Mensch wird sich in dieser Gesellschaft seiner Eigenart, die Geschichte selber zu gestalten, nicht bewusst. Deswegen begreift Marx die bisherige und aktuelle Geschichte auch als Vorgeschichte der eigentlichen Menschheitsgeschichte.
Da sich Geschichte demzufolge nicht automatisch vernünftig entwickelt, sondern im Falle der bisherigen Geschichte unmenschlich, weil trotz immenser technischer Entwicklung Hunger und Unfreiheit herrschen, „die Menschen gegenüber der Arbeit verschwinden“, „Die Zeit alles ist“ und „der Mensch nichts mehr“ (Marx, Das Elend der Philosophie) und die Menschen ihren Untergang bei Beibehaltung kapitalistischer Zustände entgegensteuern, gehört diese kritisch untersucht. Um zu zeigen, daß der Zustand nicht das Gelbe vom Ei ist und abgeschafft gehört, ist es Marx wichtig, die Geschichtlichkeit des Zustandes und dessen Wirkung gegen den Menschen nachzuskizzieren. Der Nachweis der Geschichtlichkeit des Zustandes soll zugleich den Irrglauben, die bürgerliche Ökonomie und das bürgerliche Subjekt als natürlich und überhistorisch anzuschauen, entzaubern. Deswegen beschreibt er einerseits den geschichtlichen Entwicklungsprozess bis zum Kapitalismus, um dann im Kapital die Logik des Kapitalverhältnis zu analysieren. Das Kapitalverhältnis ist demzufolge ein Automatismus, der nicht mehr vom Menschen gemacht wird, sondern aus sich selbst heraus fortschreitet und Mensch und Natur zurichtet beziehungsweise platt macht. Seine Kategorieanalyse wendet die dialektische Methode an und daher ist es wichtig, Marx’ Kritik der politischen Ökonomie als Kritik am Ganzen zu verstehen. Er kritisierte schon zu Lebzeiten diejenigen, die versucht haben, die Kategorien der Ökonomie neu zu synthetisieren. So schreibt er über Proudhon: „Da er mit bürgerlichen Gedanken derart operiert, als wenn sie ewig wahr wären, sucht er die Synthese dieser Gedanken, ihr Gleichgewicht, und sieht nicht, dass die Art und Weise, wie sie sich gegenwärtig das Gleichgewicht halten, die einzig mögliche Art und Weise ist. [...] Von dem Wunsch beseelt, die Widersprüche zu versöhnen, stellt sich Proudhon nicht einmal die Frage, ob nicht eigentlich die Grundlage dieser Widersprüche umgewälzt werden muss.“ (Brief an Annenkow, 1846) Die Begriffe, die sich der Mensch von der Gesellschaft macht, entstammen nicht irgend einer absoluten Vernunft, sondern der Erfahrung. Diese Kategorien „sind nur die theoretischen Ausdrücke, die Abstraktionen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer Produktionsverhältnisse gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen. Somit sind diese Ideen, diese Kategorien, ebenso wenig ewig, wie die Verhältnisse, die sie ausdrücken.“ (Marx, Das Elend der Philosophie) Konkret heißt das, dass auch der real existierende Sozialismus schon ab dem Punkt Mist gebaut hat, als nicht erkannt wurde, dass Kategorien wie Tausch, Geld und (da hat Marx etwas rumgeeiert) Arbeit Scheiße sind. Denn die Kategorien, die Marx aus der Realität abstrahiert, befinden sich in Wechselwirkung und gehören zu ein und demselben Verhältnis, welches abgeschafft gehört.
Marx und Hegel begreifen also beide den Stoffwechselprozess mit der Natur als Hervorbringungsprinzip des Menschen. Während Hegel allein diese Tatsache allerdings schon als (notwendige) Entfremdung der absoluten Vernunft begreift, kritisiert Marx Entfremdung als etwas, worunter Menschen leiden. Deshalb möchte er die Geschichte der Menschheit und die Logik des Kapitalismus nachvollziehen, um Kritik daran zu üben. Dem Kapitalismus stellt er allerdings nicht eine Idee gegenüber, die er verwirklichen möchte, sondern Kritik.

Kritik vs. Theorie und Praxis
Worum es Marx letztendlich geht, sei hier noch mal gesagt: „Die Kritik der Religionen endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, ...“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie)
Wenn die Theorie selber aus den Verhältnissen resultiert, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit von Kritik. Heißt dies, sich dann doch aus den Verhältnissen hervorzuheben, um überhaupt kritisieren zu können? Erst mal muss klar gestellt werden, dass die Debatte „Kritik vs. Politik“ nicht analog „Theorie vs. Praxis“ bedeutete.
In der Veranstaltungsankündigung zu „Kritik oder Politik“ am 3. März 2001 in der Braustraße war dies geschehen: „Benötigt es einer perfekten Theorie bevor praktische Politik angegangen werden kann? Ist praktische Politik derzeit immer nur Reformismus und trägt damit zur Verbesserung des bestehenden herrschenden kapitalistischen Systems bei?“
VertreterInnen der Gruppe „la fin du cercle“ (das Ende des Kreises) versuchten, dieses Missverständnis auf der Veranstaltung aus dem Weg zu räumen: „Der aufgemachte Gegensatz zwischen Theorie und Praxis ist Ideologie. Die Theorie, die glaubt, sich von Praxis lösen zu können, ist Spinnerei. Theoretisches Denken bildet sich immer aus einer materiellen Praxis heraus. Da derzeit nicht die Entwicklung eines revolutionären Subjekts abzusehen ist und die gegebene Praxis eine rein kapitalistische ist, in der sich keine konkreten Alternativen aufzeigen, macht es wiederum notwendig, auf Kritik zu bestehen. Was die Antifa sich aber nicht eingesteht ist, dass es momentan gar keine Praxis zu einer radikalen Gesellschaftskritik gibt.“
Marx’ Verhältnis zu Theorie war kritisch. Theorie, die sich nicht als abstraktes Pendant der Praxis begreift, verschleiert Verhältnisse und ist nicht in der Lage, emanzipatorisch einzugreifen. Marx machte den Begriff der Kritik stark, in dem Theorie und Praxis, mit der Absicht die gesamten Verhältnisse zu revolutionieren, zusammengedacht werden. Dass heißt zugleich, die Bewegung innerhalb der Gesellschaft zu begreifen und nicht in einem Wunschdenken als revolutionär zu mystifizieren („Revolutionärer Antifaschismus“ sei hier als Stichwort benannt). Und wenn die Wirklichkeit nicht zum Gedanken drängt, bleibt besser die Kritik der Wirklichkeit im Elfenbeinturm gefangen, anstatt auf dem Boden der Tatsachen zu symbolischer oder reformistischer Politik zu verderben. Anstatt also die Kritik an der Wirklichkeit zu messen, sollte die Wirklichkeit an der Kritik gemessen werden. Das Kritik Aufgaben stellt, die nur in der Wirklichkeit gelöst werden können, bleibt trotzdem Tatsache. Der Funke, der ein revolutionäres Bedürfnis entlädt, welches die politisch-ökonomischen Zustände zu menschlichen Zuständen umwälzt, muss Ergebnis von Kritik sein. Daß hierbei konkretes Leiden Ausgangspunkt und dessen Abschaffung Ziel von Kritik sind, bedeutet nicht, eben diesem Leiden selber den Funken zur Umwälzung anzudichten. Demzufolge muss Kritik darüber hinaus gehen, Leiden zu erkennen und zu benennen, in dem sie die Genese dieser scheiß Gesellschaft verdeutlicht, ihre unmenschliche Bewegung analysiert und diese radikal angreift. Das konkretes Eingreifen in Gesellschaft schlecht ist, sei hiermit nicht gesagt, doch sollte man dieses nicht mit dem Adjektiv ‘revolutionär’ belegen.
„Wie ist eigentlich kritisches Denken möglich, wenn uns der Wert alle im Würgegriff hat?“ (Kritik2, BGR, CEE IEH #78)
Dazu bedarf es keiner Transzendenz. Es geht nicht darum, über die Geschichte hinaus Theorien zu entwickeln, sondern vom aktuellen Standpunkt aus Geschichte und Gesellschaft zu räsonieren. Das heißt besonders, sich Begriffe von Gesellschaft zu machen, anstatt blind-links drauflos zu hämmern bzw. Politik zu betreiben. An diesem Punkt stellt sich dann die Frage nach Sinnigkeit von diversen Formen, Gesellschaft anzugreifen: Kleiner Lesezirkel oder große Demo. Langweilige Referate oder geile Action. Dickes Buch oder scharfer Molli.
Diese Fragen will ich nicht einseitig auflösen, aber zumindest will ich die Antworten daran messen, ob sie im Sinne radikaler Kritik die Leute hinsichtlich des Gegensatzes von dem jetzigen unmenschlichen System und der Hoffnung auf eine befreite Gesellschaft aufrütteln, bezüglich ihrer selbst als bürgerliche Subjekte als auch Gesellschaft allgemein, oder nur kleine beziehungsweise falsche Brötchen backen.
Hannes

Anmerkung: Dieser Text basiert auf einem Referat, welches im Rahmen des offenen Marx-Lesekreises „Kritischer Materialismus“ (jeden Sonntag, 15.00 Uhr, Braustraße 20) gehalten wurde.


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last modified: 28.3.2007