home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[83][<<][>>]

Barbier in Sevilla

Was manch ein Fußballfan bisher in der „dritten Halbzeit“ trieb, ist längst kein Geheimnis mehr. Das zur Schau stellen von Emotionen war ebenso Bestandteil wie das spieltägliche Auslaufen der Spieler. Dass es für selbige erst nach den 90, scheinbar kraftraubenden, Minuten auf dem Platz so „richtig zur Sache gehen“ sollte, war faktisch unvorstellbar. Doch was hat sich nicht alles geändert seit den Vorfällen vom 11. September 2001. An Treu und Glauben orientiert man sich seit langem nicht mehr, die Feste werden eben gefeiert, wie sie fallen.

Kürbis-Frau, 23.7k Halloween, dieses amerikanische Verkaufsfest, das immer Anfang November unter Zuhilfenahme dicker Kürbisse schreckenerregende Ergebnisse liefert, hat sich zu einem globalen Ereignis entwickelt. Irgendwie ist die Sache nicht aufzuhalten. Was mit den Liebesgrüßen vom Valentinstag nie geklappt hat, wurde bei Halloween ein transatlantischer Marketingerfolg: Wo man hinschaute, glotzten Kürbisse zurück, Schaufenster als Schreckensbilder, Millionen von Kindern in grusliger Kostümierung. Ganz Europa von Halloween besetzt. Ganz Europa?
Nein! Eine kleine Schar von unbeugsamen Fußballern hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten – und beweist, daß man an Halloween keine Kürbis-Masken oder Kostüme tragen muß, um seine Umwelt zu erschrecken. Es geht auch, wenn man gar nichts trägt. Wir sind nicht in Gallien, sondern in Spanien, wo das „Halloween von Betis Sevilla“ zum Wort der Woche geworden ist. Es begann damit, daß die Mannschaft von Betis, als Aufsteiger zwischenzeitlich sogar an die Tabellenspitze der Primera Division vorgestoßen, beschloß, das Fest gemeinsam zu feiern. So etwas schafft Mannschaftsgeist, dagegen ist nichts zu sagen. Dennoch hatten Präsident und Trainer ein dummes Gefühl bei der Sache. Weil sie nicht eingeladen wurden. Ein ebenso nicht willkommen geheißener Ersatzspieler wurde schließlich redselig und verschaffte seinen Kameraden mithin eine Bescherung, welche genaugenommen ein paar Wochen zu früh kam. Darüber, ob sein Status als Auswechselspieler nunmehr der Vergangenheit angehört, ist nichts bekannt. Auch im Festlegen des Strafmaßes mit all seinen Variationen ist man bekanntlich in Sevilla nationale Spitze.
Zu vorgerückter Stunde jedenfalls begehrten die jetzt doch Verdacht schöpfenden Verantwortlichen Einlass ins Mannschaftsquartier. Und fanden ihre bezahlten Herren in deutlicher Unterzahl gegenüber bezahlten Damen vor. Nach grober Zählung sollen rund dreißig Gewerbetreibende das Trainingslager aktiv geteilt haben. Um spielerischer Auszehrung vorzubeugen, brachen die „Offiziellen“ die Soiree augenblicklich ab. „Zuhause wär’s billja“, reimte einst ein Gassenhauer, der einem dazu in den Sinn kommt: Doch man will nach Sevilla. Am nächsten Tag stand alles in der Zeitung. Funktionäre packten Geldstrafen aus und Spielerfrauen ihre Paella-Pfannen. Man kann sich das routinierte Unschuldsbeteuern der Heimkehrer vorstellen: Das war kein Foul, Schatz, nicht mal berührt; die simulieren doch! Sozusagen Schwalben, so heißt das im Fußball, wenn jemand sich freiwillig hinlegt.
Allein, es half nichts. Drei Tage später gab’s gleich noch mal Prügel, beim 0:1 gegen Real Saragossa. Die Fans wurden böse, die Konkurrenz lachte sich kaputt. Der Brasilianer Denilson, einst teuerster Fußballer der Welt, mußte als Halloween-Folge gar seine Hochzeit verschieben. Am Mittwoch danach gab es noch mehr Häme, als er mit Brasilien in Bolivien 1:3 verlor. Ansonsten wurde er frenetisch gefeiert. Freilich nicht aufgrund seiner fußballerischen Leistungen, vielmehr wurde so ein weiteres Exempel statuiert, dass den „Ballzauberern vom Zuckerhut“ das so heißgeleibte Europa noch schmackhafter zu machen scheint. Nun müssen die Brasilianer zwar bangen, dass sie nicht die Weltmeisterschaft verpassen, zum ersten Mal seit 1930. Seit damals, als alles noch in Ordnung war im sittenstrengen Fußball. Seit damals, als der erste Torschütze der WM-Geschichte, der Franzose Lucien Laurent, wie er sich als über Neunzigjähriger erinnerte, seinen historischen Treffer wo feierte? Richtig, in einem französischen Bordell in Montevideo. Damals kannten sie ja noch kein Halloween.
Teewald



home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[83][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007