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Zur Kritik der “Neuen Deutschen Wertkritik”

Referate einer Veranstaltung mit wildcat am 10.Juli 2001 im Conne Island Leipzig

I.
Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wurde der Sieg des Kapitalismus und das Ende der Geschichte verkündet und allerorten bekundet, dass wir in der besten aller Gesellschaften leben würden. Diese Rechnung ging nicht auf. Spätestens mit Seattle 1999 meldete sich ein neues Bedürfnis nach Antikapitalismus zu Wort, ein Bedürfnis, das deutlich ausdrückte, dass gerade die kapitalistische Zivilisation eine Zumutung darstellt. Diesem Bedürfnis entspricht auch die Suche danach, wie wir uns diese Gesellschaft erklären können. Der Kapitalismus steckt in einer tiefen Krise und reformistische Besserungsperspektiven wirken absurd; so ist auch klar, dass antikapitalistische Theorie nicht mehr nur Symptome beschreiben will, an denen man rumspielen kann. Eine der Gesellschaft angemessene Theorie muss aufs Ganze zielen.
Hierzulande verspricht dies eine Theorie einzulösen, die wir “Neue Deutsche Wertkritik” nennen.
Dazu ist die Nürnberger Gruppe Krisis zu zählen, ebenso die Freiburger Initiative Sozialistisches Forum (ISF) oder die antideutsche Publikation bahamas aus Berlin. Wertkritik ist in. Von der Wochenzeitung jungle World über diverse Artikel in den Blättern des iz3w bis zu Organen wie bahamas gehört Wertkritik zum guten Ton. Sie gibt dabei vor, einen radikalen und destruierenden Blick auf die herrschenden Verhältnisse einzunehmen und sie fasziniert aufgrund ihrer scheinbaren Radikalität. Wertkritik ist jedoch so, wie sie aktuell verhandelt wird und zur Ideologie geronnen ist, mehr eine Haltung, die Bekundung, zu einer bestimmten Gruppe dazuzugehören. Mit Wertkritik markieren - meist akademische - Linke ihr Revier und haben damit eine Theorie ihrer Identität als Intellektuelle im Kapitalismus gefunden. Die neuen deutschen Wertkritiker meinen, sich auf Marx berufen zu können. Dabei ist die neue deutsche Wertkritik in dieser Hinsicht ein altes Phänomen, das oft hinter den Erkenntnissen von Marx zurückbleibt. In der Auseinandersetzung, die Marx mit den Junghegelianern führte, wurde diese Position als “Kritische Kritik” bezeichnet. Wer sich Texte der wertkritischen Linken ansieht, entdeckt Ähnliches: Man hat etwas gegen Bewegung und setzt gegen die Bewegung, die als amorphe Masse vorgestellt wird, der man nur das schlimmste zutraut, den Geist. Auf der Seite der Theorie und der Kritik steht der Geist, das Selbstbewusstsein - auf der Seite der sogenannten Masse sind Phlegma, egoistische Unzufriedenheit und Biedermänner anzutreffen. So Bruno Bauer 1844, Joachim Bruhn von der Freiburger ISF heutzutage und mit ihm die ganze Szene der antideutschen Wertkritiker. Kritische Bewegung ist in diesen Kreisen nur als Denkrevolution erlaubt.
Marx selbst hat diesem Denken eine ganze Schrift gewidmet: die “Deutsche Ideologie”. Hier kritisiert er jegliche Versuche, sich von der Wirklichkeit zu entfernen, die Wirklichkeit aus Hegelschen Begrifflichkeiten abzuleiten. Er wendet sich dagegen, die deutschen materiellen Besonderheiten in der Theorie zu verallgemeinern und eben nur noch deutsche Theorie und Ideologie zu betreiben. Die neue deutsche Wertkritik bleibt in ihrem Massenhass, den sie zu bekunden nicht müde wird, noch geprägt von der Geschichte ihrer Vertreter in diversen westdeutschen K-Gruppen der 70er Jahre. Damals liebte man die Massen, wollte sie in den Kommunismus führen, und verkannte, dass “Masse” eine reaktionäre Kategorie ist, der jeder emanzipatorische Inhalt fehlt.
Vom Begriff der Klasse mussten diese Vertreter der neuen deutschen Wertkritik auch abrücken. Das hat mehrere Gründe: zum einen hingen sie selbst in ihren K-Gruppen einem Klassenbegriff an, der mit den realen Arbeiterinnen und Arbeitern nichts zu tun hatte, sondern eine Mischung aus 20er Jahre Reminiszenz und intellektuellem Wunschdenken war. An diese Phase der leninistischen Arbeiterumwerbung möchte man heutzutage nicht mehr erinnert werden. Zum zweiten kann die Kategorie der Klasse bei der neuen deutschen Wertkritik nicht auftauchen, weil die Arbeiter nur als vereinzelt Einzelne, als Tauschagenten gedacht werden. Um diese Sichtweise mit der Marxschen Ökonomiekritik kompatibel zu machen, die auf ganz anderes, nämlich die Denunziation des Kapitalismus als zerbrechliche und historisch vorübergehende Klassengesellschaft zielt, muss die Kritik bewusst auf die pure Warenkritik verkürzt werden. Auf den ersten 100 Seiten des “Kapital” geht es noch nicht explizit um die große Industrie, das Klassenverhältnis, die Kooperation, also die Totalität des Kapitals - ohne die der Begriff der Ware eine formale und inhaltsleere Kategorie bleibt. Aber in der neuen deutschen Wertkritik wird gerade diese abstrakte Form zum Universalschlüssel, um alles zu erklären (statt zu zeigen, dass sich die Abstraktheit und Allgemeinheit dieser Form erst aus verwickelteren Verhältnissen begreifen lässt!): ArbeiterInnen sind dann genausogut wie Kapitalisten pure Konkurrenzsubjekte - und auf der Ebene der Konkurrenz ist in der Tat der Antagonismus nicht auszumachen.
Die neue deutsche Wertkritik predigt eine Kritik der Ware und des Werts, bei der das Faktum der Ausbeutung noch nicht einmal erwähnt wird - als wäre Ware als allgemeine Form denkbar, ohne Träger von Mehrwert, als bloß verschleierte Zirkulationsform des Kapitals zu sein. Die Neue Deutsche Wertkritik meint im Gegenteil, dass sie mit ihrer Kritik der Ware über die angeblich verkürzte Ausbeutungskategorie hinausgehen würde.
Hierfür ein bezeichnendes Zitat von Roswita Scholz aus dem Krisis-Kreis: “Gemäß diesem Verständnis [gemeint ist das Verständnis der Wertkritik der Krisis-Gruppe] steht nicht erst der sogenannte Mehrwert, das heißt die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital im Zentrum der Kritik, sondern bereits die ökonomische Wertform selbst, das heißt der gesellschaftliche Charakter des warenproduzierenden Systems und damit die Tätigkeitsform der abstrakten Arbeit. Das hat zur Folge, dass im Gegensatz zum Arbeiterbewegungsmarxismus nicht bloß die ungleiche Verteilung, sondern viel grundsätzlicher das System der selbstzweckhaften Arbeit an sich radikal in Frage gestellt wird.”
Besonders auffallend ist hieran, dass die Ausbeutungskategorie für Roswita Scholz lediglich eine ungleiche Verteilung anklagt. Die Tatsache, dass in dem Zitat die Entfremdung des Tauschverhältnisses und die Mehrwertabpressung gegeneinander ausgespielt werden, verweist auf die Fixierung auf die Zirkulationssphäre, die die gesamte Wertkritik kennzeichnet. Kapitalismus wird als Martwirtschaft, als Tauschverhältnis kritisiert.
Hier ergibt sich auch die Begeisterung für die Kritische Theorie, deren Ökonomiekritik auch lediglich die Tauschverhältnisse aufs Korn nimmt. Was die Neue Deutsche Wertkritik an der Kritischen Theorie besonders zu faszinieren scheint, ist deren Pessimismus. Theodor W. Adorno meinte, dass “das Gesetz, nach dem die Fatalität der Menschen abrollt, (...) das des Tausches” sei. Mit diesem Statement sind zwei Momente benannt, die Kritische Theorie und NDWK teilen: zum einen der Pessimismus in der Behauptung der Fatalität, der zum zweiten wesentlich aus der Vorstellung des verdinglichenden Tausches resultiert.
Die Kritische Theorie, die weniger von Robert Kurz und der Krisis-Gruppe, mehr von der ISF und der bahamas - also den antideutschen Wertkritikern - gepflegt wird, zeichnet sich durch einen Mangel an Ökonomiekritik aus. Die Kategorie des Tausches, an der Adorno/[[opthyphen]]Horkheimer ihre Kritik der Gesellschaft entwickeln, ist vollkommen unspezifisch und überhistorisch: in der “Dialektik der Aufklärung” wird der Tausch in der kapitalistischen Gesellschaft mit Vorformen des Tausches in naturwüchsigen Gesellschaften zusammengeschmissen. An der Figur des Odysseus soll moderne Subjektivität und instrumentelle Vernunft erläutert werden und gerade damit wird nicht klar, ob Odysseus jetzt Grundherr oder Bürger ist, er ist Repräsentant zweier grundlegend verschiedener Gesellschaftsformen - nur der Tausch soll beide miteinander verbinden.
Der Tausch wird als ewiges Schicksal bejammert. In ihn sind die einzelnen Menschen hoffnungslos als “Charaktermasken” eingespannt. Auch hier bleibt Adorno auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaftsauffassung stehen. Er kann die Leute nur als Teilnehmer am Tauschverkehr wahrnehmen. Die Menschen, die Adorno vor Augen hat, sind die Bürger nach ihrem eigenen Selbstverständnis, als Käufer und Verkäufer, als Warenhüter. Dabei wird wie in aller bürgerlichen Ideologie übersehen, dass die Universalität des Tausches das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit voraussetzt.
Adorno kann mit seiner Kritik des überhistorischen Tausches nicht den Kapitalismus kritisieren, der auf der Arbeitskraft als Ware beruht, die dem Kapital als besonderer Gebrauchswert, nämlich als Quelle von Mehrwert, gegenübertritt. Die Abstraktion vom Ort der Ausbeutung teilt die Kritische Theorie mit der Wertkritik der Freiburger ISF und der nicht sonderlich adornitischen Krisis-Gruppe. Sie alle verbindet die “Kritik an Zirkulationssphänomen”, als Kritik des Marktes und der Abstraktion des Tausches.
Diese Kritik theoretisiert nur ein Unbehagen am Kapitalismus, sie artikuliert eine antikapitalistische Sehnsucht und ein Leiden, das an die Romantik erinnert. “Auf dass der Bann sich löse” - auch eine Formulierung von Adorno - bleibt ein frommer Wunsch, ein kulturpessimistisches Jammern. Damit ist die “Ideologiekritik” der Neuen Deutschen Wertkritik selbst Ideologie.

II.
Die Neue Deutsche Wertkritik liefert keine Kritik des Werts, sondern behauptet nur ihre Feindschaft zum Wert. Sie teilt mit der bürgerlichen Wissenschaft die Vorstellung, der Kapitalismus sei eine Marktwirtschaft - oder, wertkritisch ausgedrückt, eine “Warengesellschaft”. Der Unterschied ist nur die Einstellung dazu: während die bürgerliche Ideologie die Marktwirtschaft toll findet und in ihr den Garant der Demokratie und Freiheit der Menschen sieht, ruft die Wertkritik zur Ablehnung der Waren- oder Marktgesellschaft auf. Beide Seiten sehen in der Allgemeinheit der Warenform und des Tauschprinzips das Wesen unseres heutigen gesellschaftlichen Zusammenhangs. Die Auseinandersetzung damit soll in drei Schritten erfolgen:
1. Was ist der Wertbegriff und was müsste seine Kritik bedeuten?
2. Welche menschliche Praxis liegt der Kategorie “Wert” zugrunde? Eine kurze historische Skizze.
3. Was verbirgt sich demnach hinter dem Schein der “Warengesellschaft”?

zu 1.
Wert ist kein besonderer Begriff der Linken oder der Marxisten, sondern er ist eine Kategorie des Denkens in der kapitalistischen Gesellschaft. Obwohl die bürgerliche Ökonomie sich heute von einer besonderen Werttheorie verabschiedet hat, kommt sie nicht ohne diesen Begriff aus; immer wieder können wir von “Wertschöpfung”, “Wertpapieren”, “Wertberichtigung”, “Wertanalyse” usw. lesen. Hilfreich ist es, kurz das historische Auftauchen des Wertbegriffs zu betrachten:
Die Diskussionen über den Wert und die Herausbildung einer eigenen Wissenschaft dazu, nämlich der politischen Ökonomie, vollzieht sich etwa seit Beginn des 18. Jahrhunderts und findet ihren Abschluss in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In diesen Diskussionen gerät mehr und mehr ein völlig neuer Gegensatz ins Blickfeld. Alltagssprachlich wurde und wird “Wert” sowohl für eine subjektive Wertschätzung im Sinne der Nützlichkeit verwandt (“noch nie war er so wertvoll wie heute”), wie für eine objektive Zuschreibung eines abstrakten, geldlichen Werts (“das Auto ist doch keine 2000 Mark wert”). Die Unterscheidung zwischen Wert und Reichtum, zwischen Tauschwert und Gebrauchswert, zwischen einer abstrakten Wertgröße und der Fülle stofflichen Reichtums bildet sich in diesem Zeitraum allmählich heraus, wobei beide Seiten immer wieder durcheinandergeworfen werden. Denn sie existieren nur zusammen, in einer widersprüchlichen Einheit: etwas, was einen Wert in Geld ausgedrückt hat, muss auch irgendeine Nützlichkeit haben.
Dass beide Seiten mehr und mehr getrennt werden, beruht nicht auf irgendeiner besonderen Erkenntnisleistung, sondern auf einem materiellen historischen Prozess, in dem beide Seiten sich nicht nur trennen, sondern in einen scharfen Gegensatz zueinander treten. Die Streitfragen sind z.B.: welche Gesellschaft oder Nation ist reicher, diejenige, die viele Güter produziert, oder diejenige, die über viel Geld verfügt? Mit Beginn des 19. Jahrhunderts tritt der Gegensatz schlagend in den ersten industriellen Krisen hervor: Menschen hungern, nicht weil wie in früheren Agrarkrisen zu wenig Lebensmittel produziert worden sind, sondern weil zu viele produziert worden sind, die daher nicht mehr den erforderlichen Wert - als Preis - auf dem Markt erzielen. Heute haben wir uns an diese Paradoxie der kapitalistischen Krise schon gewöhnt. Damals war sie der schlagende Ausdruck dafür, dass Reichtum auf einmal zwei völlig unterschiedliche Bedeutungen haben konnte.
Der Begriff des Werts, in seiner scharfen Abgrenzung zum Gebrauchswert unterstellt einen historischen Prozess, in dem diese beiden Größen in einen wirklichen Gegensatz zueinander geraten sind. Erst dann kann auch im Kopf, im Denken dieser Gegensatz festgehalten und bestimmt werden. Begriffe wie “Wert” sind daher gesellschaftlich gültige, objektive Gedankenformen - sie enthalten nicht einfach eine falsche Vorstellung von der Welt, sondern drücken wirkliche Verkehrungen aus. Einmal etabliert, lässt sich der Begriff des Werts streng analytisch schon an der Ware als der elementaren Form dieser gesellschaftlichen Widersprüchlichkeit festmachen - aber vorausgesetzt und immer schon bewusst-unbewusst mitgedacht ist dieser ganz praktische, historisch entstandene Trennungsprozess
Im Alltag und in den pragmatisch orientierten Wissenschaften verschwindet die menschliche Praxis als Grundlage, die uns überhaupt Begriffe so oder so bilden lässt; wir brauchen nicht zu wissen, warum wie mit Abstraktionen wie “Wert” oder “Arbeit” hantieren können, wir tun es. Solche Abstraktionen geraten uns zu naturhaften Kategorien, wir nehmen sie einfach als gegeben hin. Es ist ein Kennzeichen des Kapitalismus, dass uns die praktischen Verhältnisse, aus denen solche Kategorien erwachsen, undurchsichtig bleiben. Das heißt nicht, dass sie früher durchsichtiger waren, im Gegenteil. Sie waren vor dem Kapitalismus SO undurchsichtig, dass sie nur durch ein höheres Wesen, Gott, “verständlich” gemacht werden konnten.
Kritik bedeutet, diese naturhaften Kategorien wieder auf das zurückzuführen, woraus sie entstehen: auf menschliche Praxis. Es gilt ihren Zusammenhang mit dem, was wir tun, aufzuzeigen, statt unser Tun aus diesen Kategorien zu erklären. Genau an diesem Anspruch von Kritik scheitert die neue Wertkritik: sie will die wirklichen Verhältnisse aus solchen Kategorien erklären, statt die Naturhaftigkeit der Kategorien ausgehend von der menschlichen Praxis zu kritisieren.

zu 2.
Waren und Geld gibt es sehr viel länger als den Kapitalismus, aber erst mit der Entwicklung des Kapitalismus, um genauer zu sein: des industriellen Kapitalismus, rückt der Begriff des Werts ins Zentrum der Diskussionen. Dies ist bereits ein Hinweis darauf, dass es nicht ausreichen kann, die Kategorie des Werts an Ware oder Geld festzumachen. Im Gegenteil, Abstraktionen wie Tausch, Ware oder Geld abstrahieren gerade davon, was der jeweilige historische Inhalt dieser Kategorien ist, also was das Bestimmte dieser Abstraktion ist. Wir sprechen zwar von Geld im Mittelalter so gut wie von Geld heute, aber die dahinterstehende Praxis ist eine völlig andere - und auch das jeweilige Geld! Wir werden noch sehen: Waren in vorkapitalistischen Gesellschaften haben vielleicht einen Tauschwert, aber keinen Wert. Daher gibt es dort auch kein “Wertgesetz” als regulierendes Prinzip der Produktion.
Welcher historische Prozess, welche menschliche Praxis liegt der Kategorie des Werts zugrunde? Zurecht wird von der Wertkritik darauf hingewiesen, dass es nicht einfach um Ware, sondern um die Allgemeinheit der Warenform geht. Die gesamte Reproduktion des Lebens ist von der Warenform der Produkte abhängig geworden. Aber nicht “die Ware” ist der Grund für diese Abhängigkeit, die Allgemeinheit der Warenform drückt nur in verdrehter Weise aus, wie wir unser Leben produzieren.
Der große Umschlagprozess, der vom Anfang des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und Amerika zu dieser allgemeinen Abhängigkeit führt, ist mit drei eng verzahnten “Revolutionen” verbunden: einer kommerziellen Revolution Anfang des 18. Jahrhunderts, einer Agrarrevolution, die zuerst in England in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stattfindet und die dann die Basis für die dort etwa 1770/80 einsetzende industrielle Revolution bildet.
Nur um vorab den Stellenwert dieser historischen Skizze klarzumachen: Es ist da keine historische Logik am Werke, es gibt keine Zwangsläufigkeit der Prozesse. Es ist das, was in einer recht einmaligen und teilweise rätselhaften Konstellation passiert ist, was die Menschen getan haben. Von heute aus können wir darin die historischen Voraussetzungen des weltweiten Kapitalismus erkennen, aber daraus ergibt sich keine Kausalität oder ein Determinismus. Dieser Prozess hat noch weiter zurückliegende Voraussetzungen, vor allem die Herausbildung eines Weltmarkts seit dem 16. Jahrhundert – aber keine dieser vielfältigen Voraussetzungen kann für sich logisch erklären, warum es dann seit dem 19. Jahrhundert ausgehend von einem singulären Prozess in England zur Dominanz und Durchsetzung des Kapitalismus kommt oder hätte kommen müssen.
Die wesentlichen Entwicklungen, die sich in diesem Umschlagsprozess abspielen sind folgende:
- durch die Agrarrevolution entsteht erstmals in der Menschheitsgeschichte eine Situation, in der nicht mehr 80 Prozent der Bevölkerung mit der unmittelbaren Produktion ihrer Lebensmittel beschäftigt sind, sondern “freigesetzt” werden für andere Formen der Produktion. Diese Freisetzung bedeutet vor allem, dass sie von ihren unmittelbaren Produktionsbedingungen, dem Boden, getrennt werden. Die Agrarrevolution umfasst beide sich ergänzende Momente: die Steigerung des Ertrags durch grundlegend neue Methoden und Werkzeuge und die Vertreibung eines Teils der Produzenten von ihrem Boden.
- diese Trennung bildet die Basis der industriellen Revolution, die vor allem bedeutet, dass die Produktivität zunehmend von vergangener Arbeit abhängig wird. Maschinen und Fabriken zu bauen bedeutet für eine Gesellschaft, einen beachtlichen Teil des jährlichen Gesamtprodukts dem Jahreskonsum vorzuenthalten, ihn gewissermaßen “aufzusparen”, in der Hoffnung auf eine Steigerung der Produktion in der Zukunft. Damit entsteht auch eine völlig neue, ausgeweitete Form der Arbeitsteilung: die Landwirtschaft produziert Lebensmittel und Rohstoffe für die Industrie, die Industrie produziert Hilfsmittel und Werkzeuge für die Landwirtschaft, und vor allem produziert die Industrie völlig neue Güter, historisch vor allem Baumwollstoffe und Gerätschaften aus Eisen. Während in Agrargesellschaften die Produktion für den eigenen Bedarf (Subsistenz) dominiert, tritt nun die Produktion für andere in den Vordergrund. Es entsteht eine allseitige, von Anfang an weltumspannende Abhängigkeit der einzelnen Produktionen in einem umfassenden System der Arbeitsteilung. Die Produktion wird hier erst gesellschaftlich im modernen Sinne des Wortes, aber diese Gesellschaftlichkeit existiert in einer widersprüchlichen Form:
a. die Arbeit wird zu einer Totalität von Arbeiten, die alle zusammenhängen, aber es ist keine gemeinsame Arbeit, sondern nur ein durch die Arbeitsteilung und die allseitige Entäußerung (Verkauf) der Produktion vermittelter Zusammenhang. Aufgrund dieser Widersprüchlichkeit des gesellschaftlichen Charakters der Produktion kann sich ihre Gesellschaftlichkeit nur als abstrakte Allgemeinheit ausdrücken, als Geld. In Bezug auf die Totalität der arbeitsteiligen Arbeiten wird Geld zur unmittelbaren und notwendigen Existenzweise der gesellschaftlichen Arbeit. In diesem Gesamtzusammenhang der Arbeiten erhalten die jeweiligen Arbeiten eine doppelte Bedeutung: sie sind zugleich konkret nützliche Arbeiten und bloßer Teil dieser Totalität der Arbeit, d.h. abstrakt menschliche Arbeit. In dieser zweiten Eigenschaft ist die Arbeit Grundlage von Wert. Aber als Wert ist sie schon vergegenständlichte Arbeit. Und dass diese vergegenständlichte Form der abstrakten Arbeit als Wert auftritt, unterstellt einen bestimmten Gegensatz zwischen vergegenständlichter und lebendiger, prozessierender Arbeit, ohne den die Kategorie Wert gar nicht auftauchen könnte.
b. Dies ist das zweite Moment von Widersprüchlichkeit der Vergesellschaftung: der tatsächliche, stoffliche Reichtum ist nicht mehr von vorgefundenen Naturbedingungen abhängig, sondern in erster Linie von der aufgewandten Arbeit - allerdings in doppelter Weise: direkt von der unmittelbaren Arbeit in der Produktion, indirekt von der in den Arbeitsmitteln vergegenständlichten Arbeit. Die in den Produktionsbedingungen vergegenständlichte Arbeit existiert aber abgetrennt und als Gegensatz zu den ProduzentInnen in der Produktion. In dieser Abgetrenntheit werden die Produktionsbedingungen “Kapital”. Der Gegensatz von toter zur lebendigen Arbeit ist der begriffliche Kern des Kapitals.
In ihrer zugespitzten und bestimmenden Form existiert diese Abgetrenntheit als Fabrik oder als industrielle Produktion. Die Abgetrenntheit muss ständig neu reproduziert werden und der ganze despotische, knechtende Charakter des Produktionsprozesses, mit all seinen Zwängen, Disziplinierungen, Aufsehern und Strafen ist die notwendige Existenzweise dieser Abtrennung. In diesem Gegensatz zu den Produktionsbedingungen, in ihrer Unterordnung unter die Diktate des Kapitals, die in die gesamte Gestaltung der Maschinerie, der Technologie und der Arbeitsorganisation einfließen (es gibt keine “neutrale Technik”!), wird die Arbeit auch ganz handgreiflich “abstrakte Arbeit”, deren Inhalt den einzelnen ArbeiterInnen gleichgültig wird und die sie als Raub an ihrem Leben erfahren.
Auch “Kapital” ist eine dieser objektiven Denkkategorien, deren Ursprung im praktischen Verhalten der Menschen von der Kritik erst mühsam freigelegt werden muss. Das Kapital ist kein Ding, sondern es ist der dinghafte Ausdruck für das Verhältnis, das die Produzenten in ihrer Produktion zu ihren Produktionsbedingungen und zu ihrer eigenen Kombination und Gesellschaftlichkeit haben. Die tote, vergegenständlichte Arbeit wird zu einer Größe, die sie beherrscht. Die Kraft und Produktivität, die aus dem gesellschaftlichen, kooperativen Charakter ihres Zusammenarbeitens erwächst, tritt ihnen als Produktivkraft eines Dings, des Kapitals gegenüber. Das Kapital wird zu einem Fetisch, der vorgibt das zu tun und zu bewirken, was in Wirklichkeit nur die Kombination der ArbeiterInnen bewirkt. Es stellt sich in dieser fetischhaften Form als “automatisches Subjekt”, als “selbstverwertender Wert” dar. Im Vordergrund steht nicht mehr die Produktion ihrer Lebensmittel, sondern die Erhaltung und Vermehrung der aufgehäuften toten Arbeit.
Da das Kapital kein Ding ist, sondern unsere Weise zu produzieren in dinglicher Form widerspiegelt, kann es selber nichts tun. Die abgetrennten Produktionsbedingungen brauchen von Anfang an eine Personifikation, den Kapitalisten, der als der bewusste Wille der verselbständigten Produktionsbedingungen auftritt. Das bestimmte historische Produktionsverhältnis, das in der Kategorie “Kapital” zur dinghaften Form gerinnt, unterstellt historisch wie logisch immer schon ein bestimmtes Klassenverhältnis. Dessen Herausbildung umschließt eine Weltgeschichte - und wäre eine eigene Veranstaltung wert. Hier soll nur festgehalten werden, dass sich das Klassenverhältnis, also die bestimmte Beziehung zwischen den verschiedenen Menschen einer Gesellschaft, nicht aus den schon verdinglichten Kategorien wie Kapital oder Ware ableiten lässt (wie es in der Neuen Deutschen Wertkritik geschieht), sondern dass wir die Kategorie Kapital überhaupt nur festhalten und denken können, weil dieses praktische Verhältnis der Menschen zueinander als Klassen vorausgesetzt ist.

zu 3.
Der allgemeine Zwang zu kaufen und damit die Verallgemeinerung der Warenform kommt nicht aus “der Ware” als solcher hervor, sondern aus der Abtrennung und Gegensätzlichkeit der Produktionsbedingungen gegenüber den Produzenten; ihre prinzipielle Armut oder Eigentumslosigkeit zwingt sie dazu, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um sich durch Kauf die von ihnen selbst produzierten Lebensmittel wieder aneignen zu können. Das Lohnverhältnis, als welches sich diese Abtrennung darstellt, führt zur Verallgemeinerung des Warenverhältnisses - nicht umgekehrt. Und in dieser Verallgemeinerung ist die Ware nicht mehr einfach Ware, sie ist lediglich die verwandelte Form von Kapital. Das Wesen der Ware und das Rätsel des Werts können nur entschlüsselt werden, wenn der Schein der “einfachen Warenzirkulation” durchbrochen wird: alles was heute an Waren auf den Markt kommt, ist lediglich Durchgangsform des Kreislaufs des Kapitals - und nur in diesem Kreislauf des Kapitals existiert das, was wir Wert nennen.
In der Kategorie des Werts ist immer schon das Kapital- und Klassenverhältnis enthalten, auch wenn wir das nicht wissen. Es gehört zu den Merkmalen der kapitalistischen Vergesellschaftung, dass wir diesen Zusammenhang nicht wissen und sehen. Denn vom individuellen Standpunkt aus erscheint uns unser Bezug auf die Gesamtproduktion, die Gesamtarbeit der Gesellschaft zuallererst als Ware und Markt. Die Allgemeinheit der gesellschaftlichen Arbeit sehe ich der Milchtüte im Supermarkt nur an ihrem Preisschild an; dieser Geldausdruck verschleiert gerade die in ihr enthaltene widersprüchliche Totalität der Arbeiten und den damit verbundenen knechtenden Bedingungen der arbeitsteiligen Arbeit in der Milchfabrik und allen anderen Produktionen. Die Warenform der Produkte erzeugt so immer wieder selber den Schein einer Marktwirtschaft oder Warengesellschaft, in der uns unser Zusammenhang in der Form bloßer Tauschbeziehungen isolierter Individuen erscheint. Dabei ist es egal, ob ich das gut oder schlecht finde. Eine kritische Haltung zur Warengesellschaft oder Marktwirtschaft bestätigt nur diesen falschen Schein und führt zwangsläufig zu Illusionen darüber, wie sich dieser Zusammenhang aufheben lässt.

III.
Wie bereits ausgeführt wurde, leistet die Neue Deutsche Wertkritik entgegen ihrem Anspruch keine wirkliche Kritik der falschen, fetischisierten Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ein weiteres Beispiel dafür ist ihr Verständnis des Klassenverhältnisses als ein Verhältnis von Warenbesitzern. Die Kritik der politischen Ökonomie entschlüsselt die Form des Lohns als falsche Erscheinungsweise des darin enthaltenen, grundlegenden Klassenverhältnisses.
Wenn wir aber das Klassenverhältnis der Verallgemeinerung der Warenform und dem Kapital als vorausgehend betrachten, dreht sich das Ganze um: die Warenförmigkeit der Arbeitskraft und damit der Lohn ist so nur die Oberflächenform, in der der darunter liegende Klassenwiderspruch vermittelt wird. Dieser Widerspruch besteht eben darin, dass, um leben zu können, man sein Leben unter die Kontrolle des Kapitals zu unterwerfen hat. Dieses Klassenverhältnis gekennzeichnet durch
- eine sich ausweitende Gesellschaftlichkeit der Produktion einerseits
- und eine dem gegenüber stehende immer weitere Individualisierung der Mitglieder dieser Gesellschaft andererseits
Die Existenz der Menschen als bürgerliche Individuen ist allerdings nichts als eine Reflektion der Oberflächenformen, in denen die bürgerliche Gesellschaft sich organisiert: Waren, Wert, Geld. Darunter und im Widerspruch dazu liegt ein produktiver Zusammenhang, dessen Gesellschaftlichkeit sich seit dem Bestehen des Kapitals immer weiter ausgeweitet hat und das auch momentan tut. In diesem Widerspruch bewegt sich der Klassenkampf: es geht um die Aneignung dieser Kollektivität oder Gesellschaftlichkeit. Diese Aneignung der eigenen gesellschaftlichen Existenzweise ist ein Kampf gegen das Kapital, das ja nichts anderes ist, als die sich immer auf höherem Niveau reproduzierende Abtrennung der Arbeiter/innen von ihrer gesellschaftlichen Macht, ihr Leben selbst zu produzieren.
Der Neuen Deutschen Wertkritik geht es, wenn sie vom Klassenverhältnis redet, aber eigentlich ums Lohnverhältnis. Die Kategorie „Lohn“ enthält die Vorstellung, dass Arbeit gegen Geld getauscht wird. Darauf beruht dann die bürgerliche Vorstellung von Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheit beider Seiten. Dagegen einzuwenden, hier ginge es aber „ungerecht“ zu, wie es in der traditionellen Arbeiterbewegung üblich war (und ist), geht an der Sache vorbei und ist der unsinnige Versuch, die bürgerlichen Gerechtigkeitsvorstellungen gegen die bürgerliche Gesellschaft in Anschlag zu bringen. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, dass in dieser Form das Klassenverhältnis und die Aneignung fremder Arbeit, das Abpressen von Arbeit als sein Gegenteil erscheint. Der Antagonismus in der kapitalistischen Produktion erscheint als prinzipielle Harmonie - dies ist die ideologische Grundlage aller gewerkschaftlichen oder sozialrefomerischen Vorstellungen. Den Lohn (und damit den Kampf darum) in dieser Hinsicht zu kritisieren – also die Verhältnisse aufzudecken, die sich hinter diesen Formen verbergen – wäre eine richtige und notwendige Kritik der Arbeiterbewegung, die nie etwas anderes war als die im Rahmen des Kapitals vermittelte Form des Klassenkampfes.
Was aber tut die Neue Deutsche Wertkritk? Sie nimmt den Lohnfetisch für bare Münze und verkündet im Gleichklang mit der Vulgärökonomie, letztlich seien ArbeiterInnen und Kapitalisten gleichermaßen nur Käufer und Verkäufer in der Marktwirtschaft. Indem sie das Klassenverhältnis nur als eine besondere Form der Warenförmigkeit ansehen, hier eben der Ware Arbeitskraft, können sie eben auch die sprengende Komponente darin nicht erkennen – es erscheint ihnen nur noch als “Interessengegensatz”. Im “Interesse” erscheint ein Bedürfnis schon gesellschaftlich vermittelt, die Auffassung von “gegensätzlichen Interessen” setzt die Getrenntheit dieser Interessen voraus und verschleiert den inneren Zusammenhang (und damit übrigens das eigentlich Widersprüchliche an dieser Gesellschaft).
Die Abtrennung der ProduzentInnen von den Mitteln der Produktion stellt sich in der Existenz des Kapitals als äußerer Zwang der Verhältnisse oder als materielles „Ding“, als Drehmaschine, Hochofen, Fabrik oder Internet dar. Hier tritt den Menschen ihre eigene Arbeit als etwas Äußeres, ihnen Fremdes entgegen und unterwirft sie unter den Zwang, für ihre individuelle Reproduktion zu arbeiten. Die Feindschaft gegen das Kapital findet ihren Ausdruck deshalb in der Feindschaft gegen die Arbeit. Der Konflikt um das Auspumpen von Arbeit ist ein ständiger Konflikt, der nicht erst in irgendeinem Streik auftaucht, sondern die gesamte Gestalt des Produktionsprozesses bestimmt. Er ist grundsätzlich despotisch, ist Macht und Gewalt über die Körper und die Seele. Man muss schon von der gesamten konkreten Gestalt der Ausstattung und Organisation der kapitalistischen Produktion abstrahieren, um hier ein irgendwie geartetes Einverständnis oder gar eine Liebe zur Arbeit am Werke zu sehen: die konkrete Gestalt der Maschinerie, die hierarchische und zersplitternde Organisation der Arbeit und die Arbeitsteilung, das Heer von Aufpassern, Vorarbeitern, Meistern und Werkschützern, die im Hintergrund lauernden Knäste und Psychiatrien usw. - all diese Einrichtungen beweisen uns jeden Tag, dass mit den Tauschverhältnissen insbesondere mit dem Lohnfetisch als Vorstellung eines gerechten Tauschs zwischen Einkommen und Arbeitsleistung zwar falsche Vorstellungen über den gegensätzlichen Charakter der Gesellschaft erzeugt werden, dass diese aber alleine keineswegs hinreichen, um diesen Gegensatz zu kontrollieren.
Die kollektive Feindseligkeit gegen die Arbeit liegt dem zugrunde, was wir „Klasse“ nennen, die Klasse existiert also nur im täglichen Kampf um Aneignung oder Abtrennung der gesellschaftlichen Produktionsweise. Der Konflikt um die Aneignung des eigenen Lebens drückt sich an der Oberfläche als eine Vielzahl oft scheinbar unbedeutender Mikrokonflikte aus, als Lohnkampf, als Kampf um die Pausenzeiten - aber auch als Kampf um die Straße oder um Wohnraum, als Mietstreik oder andere Aneignungsbewegungen.
Was uns deswegen an einem Streik interessiert, ist nicht, dass es da um 50 Pfennige mehr oder weniger geht (wobei uns unverschämte Forderungen natürlich sympathischer sind als bescheidene), sondern dass diese Kämpfe dem Widerspruch zwischen der realen Gesellschaftlichkeit der Produktion des menschlichen Lebens einerseits und der permanenten Enteignung und Individualisierung der Produzenten andererseits entspringen. Weil dieser Widerspruch im Kampf gegen das Kapital zu seiner Auflösung - der Aneignung und der Kontrolle der Bedingungen des eigenen Lebens strebt. Das ist das, wonach wir in den Konflikten suchen, weshalb wir denken, es ist wichtig, sich mit den Prozessen sozialer Konfliktualität auseinanderzusetzen. Einerseits um sie zu verstehen, die Tendenzen offenzulegen, die zur Auflösung des Kapitalverhältnisses drängen. Anderseits um sich darin zu bewegen, sie zuzuspitzen, wo möglich. Unsere Ideen und Hoffnungen, unsere Wut und unsere Leidenschaft sind diesen Prozessen dabei nicht äußerlich: sie entspringen der gleichen Realität, den gleichen materiellen Bedingungen wie die Kämpfe selbst. In Bewegungen sozialer Rebellion radikalisieren sich unsere Ideen, weil in diesen Bewegungen oft die Möglichkeit eines anderen Lebens aufblitzt.
Aktuell gibt es einige Ebenen, auf denen sich eine neue Radikalität gegen das Kapital andeutet:
In den letzten Jahren hat es weltweit riesige Migrationsströme gegeben. Millionen von Menschen sind aufgebrochen unter dem stummen oder nicht so stummen Zwang der Verhältnisse, mit Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Angekommen sind sie in den Sonderproduktionszonen Asiens und Lateinamerikas, in den Sweatshops in Amsterdam oder Los Angeles. Die Architekten des Kapitals sprechen von einer jährlich “notwendigen” Einwanderung in die BRD zwischen 250.000 und einer halben Million. Alle Erfahrungen zeigen, dass hier nicht nur willfährige Arbeitermarionetten kommen werden.
Andererseits gibt es neue Auseinandersetzungen der ‘alten’ Arbeitskraft, eine Vielzahl von kleineren Konflikten, die oft gewerkschaftlich zugedeckelt werden und gar nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Die Arbeiter/innen der inzwischen schwer gebeutelten sogenannten ‚New Economy‘ werden zunehmend damit konfrontiert, dass sie ganz normale ‘Arbeitskraft’ sind - der ‘Unternehmer im eigenen Kopf’ beginnt zu bröckeln. In dem Maße, wie die Mythen vom ‚Ende der Geschichte‘ und vom immerwährenden Wachstum für alle sichtbar platzen, werden wieder kämpferische Töne angeschlagen.
Parallel dazu gibt es eine noch entstehende Bewegung vor allem junger Leute gegen ‘das Kapital’, die sich momentan vor allem in den verschiedenen Gipfelstürmen präsentiert.
Diese Ebenen durchziehen sich gegenseitig. So finden z.B. die Kämpfe immigrierter Arbeiterinnen in den USA in der Bewegung gegen die FTAA eine Vertiefung ihrer Anliegen und eine Radikalisierung ihrer Positionen. Die Prozesse, die sich hier abzeichnen, können wir nur verstehen, wenn wir uns zu ihnen in ein Verhältnis setzen, das darüber hinausgeht, sie von außen zu ‘beobachten’. Und nur wenn wir diese Prozesse verstehen, können wir uns hier auch erfolgreich einmischen.



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last modified: 28.3.2007