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Negation als Kritik oder Kritik als Negation

Zum Ideologiebegriff bei Marx
von Ralf

Die Tradition der Philosophie Marx steht mit seinem gesamten Lebenswerk, das zuvorderst ein philosophiekritisches und kein ökonomiekritisches ist, in der grundlegenden philosophischen Tradition der Metaphysik, die seit Aristoteles’ Kritik an Platon in der Antike die Philosophie als die erste Philosophie, als Mutter aller Philosophie überhaupt, begreifen läßt. Die Suche nach dem Wesenhaften der Dinge, die sich aus der Logik des Denkens als Einheit von Bewußtsein und Sprache – der Analytik – ergibt, vermag die Unterscheidung von Stoff und Form vorzunehmen. Stoff als die Materie und die Form als das Denken und die Kraft bilden in der Verbindung die Wirklichkeit. Die Wesenheit des einzelnen Dings und die des allgemeinen Wesens aller Dinge, so das Hauptmotiv der Metaphysik, müssen in einem Verhältnis zueinander stehen. Welches dies ist, bestimmt sich zuvorderst über das Wesen des Allgemeinen aller Dinge. So ist das Wesen das, was das einzelne zu dem macht, was es ist – als Verbindendes zwischen den Dingen. Es geht um die Bestimmung der Meta-Ebene, welche in Gänze das Wesen des Seins ausmacht. Statik und Bewegung bedingen dabei einander, denn die Statik als Ausdruck des allgemeinen Wesens ist die Ursache der Bewegung und die Bewegung die Voraussetzung der Bestimmung des Wesens.
Erkenntnis ist nach Aristoteles Entdeckung von Formen, die jedes Ding als ein bestimmtes kennzeichnen – als Zusammenkommen von Materie und Form. In dieser Weise kommt den Dingen Wahrheit in der Erkenntnis zu, wobei Erkenntnis charakterisiert wird als Streben des Erkennens nach der Wirklichkeit: „Von etwas, das ist, zu sagen, daß es nicht ist, oder von etwas, das nicht ist, daß es ist, ist falsch; während von etwas, das ist, zu sagen, daß es ist, oder von etwas, das nicht ist, daß es nicht ist, wahr ist.“
Dieser metaphysische Wahrheitsbegriff wurde in der christlichen Philosophie zum a priori – zum bewußten Verzicht auf jeden Versuch der Wirklichkeitserkenntnis. Erst Immanuel Kant sprach in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ dieser durch nichts äußeres getrübten Gedankenwelt jegliches Vermögen der Erkenntnis von Wirklichkeit ab. Das bloße Spekulieren ohne Anspruch auf Wahrheit der Wirklichkeit fand bei Kant dergestalt sein Ende, als daß er die dem Denken entsprungene Idee einer ganzheitlichen Wirklichkeit unterwarf. Er setzte somit gegen die Idee nicht die eine reine Idee, sondern das, was er als Wirklichkeit erkannte. Dadurch legte Kant den „Keim der historischen Dialektik“ (Alfred Schmidt), denn er rekurrierte erstmals auf eine allgemein menschliche Subjektivität, auf die „transzendentale Subjektivität“ der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung. Johann Gottlieb Fichte war es, der daraus das „absolute Ich“ formulierte, das als Figur den Weg von Kants Idealismus zur Strömung des deutschen Idealismus eröffnete, die Marx und Engels später von der „Deutschen Ideologie“ reden ließ. („Die Deutschtümelei ist aus den Menschen in die Materie gefahren, und so sahen sich eines Morgens unsere Baumwollritter und Eisenhelden in Patrioten verwandelt.“) Friedrich Wilhelm Schelling trieb das absolute Ich noch über Fichte hinaus, in dem er die Einheit von Realem und Irrealem, von Subjekt und Objekt zum Absoluten erklärte. Hegel, als kritischer Idealist, schlug sich in der Schrift „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie“, in der auch sein berühmter Begriff von „Identität der Identität und Nicht-identität“ erstmals auftauchte, auf die Seite Schellings. Indem er dessen Vorstellung vom Absoluten als Geist an und für sich übernahm, behielt er dennoch von Fichte dessen dialektische Schrittfolge von These-Antithese-Synthese bei. Daraus ergibt sich seine spekulative Grundfigur des absoluten Geistes, zu dem man sich hauptsächlich durch das Negative hinbewegt. Als ein „Zurückkommen aus der Natur“ ist die Scheidung des Begriffes, der Idee, von der Natur hervorzuheben, „weil in der Natur der Begriff seine vollkommene äußerliche Objektivität hat“ (Hegel). Die Idee vom Weltgeist als „Demiurg des Wirklichen“ (Karl Marx) wird von der Weltgeschichte hervorgebracht. Diese wirkliche Idee des Ganzen ist das Wahre des Seins, das die „bürgerliche Gesellschaft“ dann ist, wenn der absolute Geist zu sich selbst gekommen ist. Idee und Natur, so erkennt Hegel, fallen also auseinander. Und nur auf dieser Basis wird die Entäußerung aufgehoben und der Begriff mit sich identisch. Hegel, „als Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft“ (Alfred Schmidt), wird von Marx bekanntlich „umgestülpt“, das heißt, „vom Kopf auf die Füße gestellt“, so daß „das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“ ist.
Auch Marx hielt an der Gültigkeit des weiter oben zitierten metaphysischen Wahrheitsbegriffes fest. Die idealite Übereinstimmung von Sache und Begriff als weitestgehende Versöhnung von Mensch und Natur entzieht sich dabei keineswegs der Metaphysik. Sein Verständnis vom „realen Humanismus“ bemißt sich an der zu verwirklichenden Idee der „menschlichen Gesellschaft“ und ist der Kern seiner metaphysischen Gesellschaftskritik. Die Synthese von allgemeiner Menschheit und besonderem Menschen verkörpert für ihn das Reich der Freiheit.
Das Sein der Menschen, so übernimmt Marx von Hegel, ist ein gesellschaftlich produziertes. Das Zusammentreten – die Verbindung –, nicht aber das Ineinanderaufgehen von Stoff und Form macht das Ganze der Wirklichkeit aus. Vor diesem Hintergrund entwickelt Marx seinen dialektischen Materialismus, in dessen Zentrum bekanntlich der Arbeits- und Praxisbegriff stehen. In diesem Sinne ist bei ihm das Bewußtsein, und das ist der Kern der Umstülpung Hegels, nicht die bloße Reproduktion der Wirklichkeit, sondern immer schon Produkt dieser erkannten und erfaßten Wirklichkeit. Das heißt also, daß der dialektische Materialismus grundlegend davon ausgeht, daß die Erkenntnis nicht die Wirklichkeit hervorbringt, sondern die Wirklichkeit die Erkenntnis. Denn nicht der Geist ist das Subjekt, zu dem der Mensch strebt, sondern umgekehrt, der Mensch ist das Subjekt, zu dem der Geist strebt: „Die Kritik des Himmels verwandelt sich so in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (Marx)

Herkunft des Begriffes Ideologie
Die Lehre von den Ideen, die Ideologie, gilt als solche, seit sie wissenschaflichen Anspruch als philosophische Strömung erhebt. Ende des 18., anfang des 19. Jahrhunderts übten Ideologen wie Destutt de Tracy – auf den der Begriff zurückgeht – Condillac, Cabanis und andere in Frankreich einen bedeutenden politischen Einfluß aus. Diese Einflußnahme bezog sich insbesondere auf das Aufstellen von praktisch wirksamen Regeln für Erziehung und Ethik. Der Einfluß der politischen Ereignisse um 1789 in Frankreich verfehlte auch in der Philosophie seine Wirkung nicht. Die Wissenschaft von den Ideen abstrakter Begriffe sollte in der Rückbindung an das Materielle der politischen Realität deren Entstehung untersuchen und so zu ihrer vollständig entfalteten Darstellung verhelfen. Die materiellen Verhältnisse boten dafür nur den Erfahrungshorizont der wissenschaftlichen Untersuchungen, nicht aber den Grund für die Gedankenbewegung der untersuchten Begriffe. Es handelte sich also bei der politischen Philosophie der Ideologie um den Versuch, die abstrakten Begriffe und Ideen auf der Grundlage eines an der erfahrenen Realität ausgerichteten Erklärungsmodells herzustellen. Insofern ist der Begriff der Ideologie keineswegs kritisch zu verstehen, sondern vielmehr eine Art idealistischer Bildungs- und Ethikauftrag für die französische Republik von 1789.
Besondere Popularität gewann der Begriff von der Ideologie dadurch, daß er von Napoleon Bonaparte als Kampfbegriff gegen seine philosophischen Gegner Verwendung fand. Er war es, der die Ideologen in negativer Bestimmung – nämlich gegen ihn zu sein – zu einer historischen Philosophie-Strömung zusammenfaßte. Er sprach ihnen rundweg jegliche Bestrebungen der Fortführung des Erbes der Philosophie der Aufklärung ab, in dem er sie als realitätsferne Spinner beschimpfte.
Die negative Wendung des Ideologiebegriffes bestimmte nun fortan seinen Charakter. Erst durch Marx und Engels aber bekam er die Bestimmung als Wirklichkeitsferne im Sinne des dialektischen Materialismus.

Marx’ Begriff
Die Entfremdung des Menschen ist bei Hegel die Entfremdung von Gott als Idee, als absoluter Geist. Daran knüpft Marx in negativer Weise an, in dem er die Kritik der Religion „zur Voraussetzung aller Kritik“ erklärt. Die Hegelsche Entfremdung von etwas äußerlichem wird bei dem Versuch der materialistischen Wendung durch Feuerbach zur „Selbstentfremdung“ des Menschen. In der Schrift „Deutsche Ideologie“, zu der Marx und Engels erklären, „in der Tat mit unserem ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen“, übernehmen sie zwar den Feuerbachschen Begriff der „Selbstentfremdung“, üben aber scharfe Kritik an der „Herrschaft der Gedanken“, die bei den Junghegelianern vorherrsche. Einst selbst wie Feuerbach, Max Stirner oder Bruno Bauer ihnen zugehörig, erklären sie nun: „Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.“
Die auf den Begriff gebrachte Kritik der Wirklichkeit und deren Entfremdung durch die Anonymität der Verhältnisse bürgerlicher Herrschaft ist „die eigene Tat des Menschen“, die „ihm zu einer fremden gegenüberstehenden Macht“ wird, welche „ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht.“
Der Grad dieser Selbstentfremdung knüpft sich an die Basis der Produktionsverhältnisse, bei denen die politische Ökonomie als „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ zu begreifen ist, und welchen „bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.“ Dieser in der M/L-Terminologie als Basis-Überbau-Schema der Staatsableitung verkürzte Ausdruck gesellschaftlicher Dialektik mündet in dem Verständnis von der Wirklichkeit des menschlichen Wesens als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“.
Die Aufhebung der Selbstentfremdung obliegt dem „Werk der Wirklichkeit“. Die „versteinerten Verhältnisse“, die man „dadurch zum Tanzen zwingen“ muß, in dem „man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt“, also mittels methodischem Zugang vom „einzelnen zum allgemeinen“ aufsteigt, werden so einer Kritik unterzogen, in der „nicht (...) der Gedanke zur Verwirklichung drängt, sondern die Wirklichkeit (...) selbst zum Gedanken (...)“. Das Wesentliche der Verhältnisse und nicht das scheinbare des menschlich-individuellen Bewußtseins als losgelöste selbständige Form steht dabei im Mittelpunkt. Denn der „Schein der Selbständigkeit“ des Menschen verbirgt das Wesen der Verhältnisse, denen die Arbeitsteilung zugrundeliegt – „die Teilung der materiellen und geistigen Arbeit“. Dieser Zustand hält solange an, wie „die Spaltung zwischen den besonderen und gemeinsamen Interessen existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist“ und der „Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums (...) und dem gemeinschaftlichen Interesse aller Individuen, die miteinander verkehren, gegeben“ ist.
Die materialistische Objektivität des Denkens ist bei Marx keine übersinnliche Idee, sondern Produkt der materiellen Verhältnisse, die schon immer gedacht sind, so daß „der Erzieher“, wie Marx in den Thesen über Feuerbach schreibt, irgendwann „selbst erzogen werden“ mußte. Pures Denken oder der Ursprung des Gedankens ist nicht zu denken. Denn Denken setzt immer schon Gedachtes als konkretes Produkt der allgemeinen Ganzheit der jeweiligen Verhältnisse voraus. Die objektive Wirklichkeit als das im Menschenkopf Umgesetzte, Reflektierte, gebährt den Gedanken und nicht der Gedanke die objektive Wirklichkeit.
Marx’ Anspruch an Philosophie ist Erfüllbarkeit ihrer Verwirklichung in der Praxis. Allerdings nicht von der Philosophie selbst, sondern von der Wirklichkeit. Die Notwendigkeit ihrer Verwirklichung hat als Ziel das Ende ihrer Notwendigkeit.
Ideologie ist bei Marx und Engels alles, was die „wirklichen Verhältnisse“ des menschlichen Seins nicht zur Grundlage macht; egal ob Theorie, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft oder Philosophie. Wer alles Tun und Denken nur vom reinen „Umdenken“, dem reinen puren Geist der Menschen abhängig macht, vertritt eine Ideologie, ist Ideologe.
Der marxsche Ideologiebegriff läßt sich auf die Formel des notwendig falschen Bewußtseins bringen. Oder, wie Engels es definierte, als „Beschäftigung mit Gedanken als mit selbständigen, sich unabhängig entwickelnden, nur ihren eigenen Gesetzen unterworfenen Wesenheiten“ fassen.
Das menschliche Bewußtsein ist dabei das „bewußte Sein“ als „ihr wirklicher Lebensprozess“, als ein von vornherein ausschließliches „gesellschaftliches Produkt“.
Der berühmte Ausspruch aus dem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, daß „es nicht das Bewußtsein (ist), daß ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, daß ihr Bewußtsein bestimmt“, rekurriert auf die materiellen Lebensverhältnisse. Bewußtsein von Moral, Religion oder Metaphysik ist so nur scheinbar selbständig. Vielmehr muß man also vom „leibhaftigen wirklich tätigen Menschen“ ausgehen.
Sprache ist für Marx, ganz in der Tradition der Metaphysik, „das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst existierende, wirkliche Bewußtsein.“ Sie entsteht aus der „Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen“. Dieser „Logozentrismus“ (Derrida) verfällt nicht der Suche nach einem neuen Idealismus (Christoph Türcke), welcher in der „Ur-Schrift“ der Höhlenmalerei (Derrida) die angebliche Irrung der Metaphysik begründet sieht.
Gerade weil Marx auf den metaphysischen Wahrheitsbegriff rekurriert, ist er in der Lage, eben nicht, wie vordem durchaus üblich, die Behauptung des Falschen einfach als Pendant zu richtigen Aussagen zu setzen. Vielmehr vermag er auf Grund seiner materialistischen Dialektik sich an einem Begriff der Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zu messen, der eine bisher nicht gekannte kritische Selbstreflexion seiner eigenen „Entmenschung“ und Entfremdung zuläßt. So bestimmt sich Wahrheit eben nicht alleinig in der Idee, sondern zuallererst in der Praxis: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage“, weil jede Form von Sinnlichkeit „praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit“ ist.
Die Bestimmung des falschen ist jedoch nicht „voraussetzungslos“. Da das Bewußtsein selbst über keine Wirklichkeit verfügen kann, muß man vom wirklichen Leben ausgehen, um so auf das Bewußtsein zu stoßen. Diese Voraussetzung ist aber gerade nicht geschichtslos, weil ja „die Umstände ebensosehr die Menschen machen, wie die Menschen die Umstände.“ Damit grenzt sich Marx von der bisherigen Geschichtsauffassung ab, die diese „immer nach einem außer ihr liegenden Maßstab geschrieben hat.“ Genau diesem in der Deutschen Ideologie formulierten Anspruch jedoch ist er zeitlebens niemals ausreichend gerecht geworden. Weil er mit der Entdeckung der Klasse der Arbeiter gleichzeitig die geschichtliche Determinierung vorgenommen hat, unterlief er selbst mit der Hypostasierung der Arbeiterklasse an vielen Stellen seines Werkes die erst gegenwärtig unschätzbar werdende Erkenntnis der Subjektwerdung des Werts. Nur folgerichtig mußte sich daraus die Errichtung einer Diktatur des Proletariats ergeben, denn die von ihm nachgezeichnete Totalität des Kapitals als gesellschaftliches Verhältnis läßt sich für ihn nur in dieser Form als Sturz der materiellen Gewalt durch materielle Gewalt begreifen, um so die vordeterminierte Befreiung der Arbeiterschaft von einer „Klasse an sich zu einer Klasse für sich“ als ihr eigenes Werk darzustellen.
Die Voraussetzung seines bekannten kategorischen Imperativs, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, besteht darin, den „wirklichen empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen“ nicht durch reine Spekulation zu ideologisieren. Deshalb schreckt er auch nicht vor der Methode als dem Zugang zum Gegenstand zurück, denn ohne Methode ist Kritik gänzlich unmöglich. Die Kritik des sicheren Standpunktes, den die Methode wiederum nur wählen kann, um sich dem Gegenstand anzunähern und ihn zu erfassen, systematisiert. Die Kritik der sytematisierenden Methode genauso wie die der methodischen Systematisierung sträubt sich nicht gegen die einfache Wahrheit, das das Denken immer schemenhaft erfolgt. Als immer gesellschaftliches Produkt und gleichzeitige Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse nun muß dieses Denken ebenfalls der Kritik unterzogen werden. Doch auch dafür bedarf es wiederum einer Systematisierung, eines Schemas. Die immerwährende Kritik, will man auf sie nicht verzichten, benötigt so auch in ihrer negativsten Form immer die Methode des gesicherten Standpunktes, um sodann diesen erst in Frage stellen zu können.
So ist auch Dialektik als Methode für Marx nach Hegel das Aufsteigen vom abstrakten zum konkreten. Marx setzt dabei die Methode nicht absolut. Er verzichtet darauf, sie zur „einzigsten, höchsten, unendlichen Kraft“ (Hegel) zu erklären, auch wenn Engels ihm dies in seinen Nachrufen auf Marx nur allzugern unterschieben wollte. Und so findet sich dann in der Einleitung Zur Kritik der politischen Ökonomie auch der weiter oben schon zitierte Ausspruch, daß wer ihm „überhaupt folgen will, sich entschließen muß, von dem einzelnen zum allgemeinen aufzusteigen“.
Gegen die ideelle Spekulation Kants oder Hegels geht es der materialistichen Dialektik nach Marx „um die Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen.“ Das falsche Bewußtsein der Menschen führt sich so geschichtlich auf die Teilung der Arbeit, die Trennung von materieller und geistiger, zurück. Und dieses Bewußtsein der geteilten Arbeit ist etwas anderes als das „Bewußtsein der bestehenden Praxis“, der wirklichen Verhältnisse. Auf dieser Basis erst entwickelten sich Philosophie, Theologie oder Moral.
Marx’ Menschenbild vom „Ensemble der gesellschafltichen Verhältnisse“ ist kein wahres des Menschen schlechthin. Als Produkt der Verhältnisse ist der Mensch ein zur Veränderung fähiges Wesen. Ohne Geschichte ist es nicht denkbar. Die Notwendigkeit, auf die Marx rekurriert, ist für ihn in diesem Sinne die geschichtliche Entwicklung, die die Menschheit durchmachen mußte, um zum jeweiligen gesellschaftlichen Stand zu kommen. Sie ist „die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“. Diese historische Bestimmung läßt sich nur als „rückwirkende Kraft“ begreifen. Und so schwankt Marx zeitlebens zwischen einem gesetzlosem Geschichtsbild und einem deterministischen hin und her. Für ihn steht fest, daß die Menschen zwar „ihre eigene Geschichte“ machen, aber nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten Bedingungen. Unter diesen Umständen kann sich Geschichte „das eine mal als Tragödie, das andere mal als Farce“ wiederholen.
In Abhängigkeit vom Stande der umfassenden Produktionsverhältnisse entfaltet sich notwendig das gesellschaftliche Bewußtsein. Dadurch ergibt sich, daß das „Reich der Notwendigkeit“, das die Basis für das „Reich der Freiheit“ darstellt, welches erst da beginnt, „wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“, mit der Freiheit notwendig kollidieren muß. Diese Negativbestimmung der befreiten Gesellschaft zeigt deutlich, welche Kraft die von Hegel erstmals erfaßte Negativität besitzt und welche Dynamik sie freisetzen kann. In diesem Sinne der Negation kann Marx wie auch Engels als grundsätzlich ideologiekritisch verstanden werden, zumal aus ihrem durchaus gerade gegen den M/L zu verteidigendem Basis und Überbau-Denken sich jener Zeitkern gesellschaftlicher Entwicklung als Ausdruck grundsätzlich offener Entwicklung herausschälen läßt, der zwar nicht die inneren Gesetzmäßigkeiten des Funktionierens des Kapitalismus in Abrede stellen läßt, wohl aber die angeblichen seiner notwendigen Abschaffung.

Die Ideologie des Marxismus/Leninismus
Nicht zuletzt wegen der als gesetzmäßig begriffenen Entwicklung hin zur Revolution, zum Sieg der Arbeiterklasse als Etappe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft, verkam der Ideologiebegriff im M/L zur allgemeinen Beschreibung zweier Weltanschauungen: der bürgerlichen und der sozialistischen. Versuchte der Neomarxismus im Westen noch den Spagat zwischen Ideologiekritik und Affirmation des Begriffs, in dem der Ideologie ein „Doppelcharakter“ attestiert wurde, „sie (...) allgemein, spekulativ und abstrakt auf der einen Seite, auf der anderen Seite repräsentativ für bestimmte begrenzte und partikulare Interessen“ sei (Henri Lefebvre), wurde der Marxismus als Weltanschauung von Lenin schon zur „sozialistischen Ideologie“ erklärt. So wurde der Ideologiebegriff zum plumpen Ausdruck des Klassenkampfschemas von Arbeiterklasse auf der einen und Bourgeoisie auf der anderen. So galten die „wahren Interessen“ der Arbeiterklasse als sozialistische Ideologie und die „falschen“ als bürgerliche. Die Betonung des grundsätzlichen Klassencharakters von Ideologie, der sich aus der Stellung zu den Produktionsmitteln ergeben würde, setzte Ideologie identisch mit Klassenbewußtsein. Dem M/L ging es dabei um die Kennzeichnung des unversöhnlichen Kampfes der beiden Ideologien. So müßte die sozialistische Ideologie durch die Partei der Arbeiterklasse in die Arbeiterklasse hineingetragen werden, wobei die Überlegenheit der sozialistischen Ideologie aus der „wissenschaftlichen Begründung“ abgeleitet wurde.

Was tun?
Ein kritischer Materialismus, der gar nicht anders kann, als an die Marxsche Ideologiekritik anzuknüpfen, sollte bedenken, daß Marx nur schwerlich das Auseinanderfallen und Unversöhnliche von Idee und Wirklichkeit erkennen konnte, weil bei ihm der Akzent – und das macht den materialistischen Zeitkern präsent – gegen die verfehlte Philosophie des Elends (Proudhon) auf dem „Elend der Philosophie“ lag. Die Wirklichkeit aber auf das Wesentliche der Verhältnisse und nicht auf das der Ideen zurückgeführt zu haben, ist das große Verdienst von Marx. Zumal in dem Widerspruch der Idee zur Wirklichkeit sich wiederum erst die gesellschaftliche Bewegung ergibt, die für Marx und Engels den Kommunismus ausmachen, der so also „nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe“ ist, sondern „die wirkliche Bewegung, welche den Zustand aufhebt“.
Die auf den Begriff gebrachte Idee ist immer die Abstraktion von der Sache. Denn Sache und Begriff sind unversöhnlich. Und dennoch wohnt dem Begriff die Wahrheit inne. Daß sie nicht die vollkommene ist, diese Erkenntnis steht in der Tradition der Metaphysik. Genau wegen dieser Relation muß sie einer Ideologiekritik zugrunde liegen. Die Metaphysik von Stoff und Form ist genau deshalb auch zu verteidigen. Wer aus Angst vor dem Widerspruch von konkret und abstrakt aber zum reinen Pragmatismus der Kritiklosigkeit übergeht, verzichtet auf die Kraft der Negation als Quell jeglicher Kritik und verfällt der Affirmation des Bestehenden. Erkenntniskritik ohne Erkenntnis ist schier unmöglich. Und so setzt Kritik als ausschließliche Negation immer den Gegenstand der Kritik voraus.
Das Allgemeine als das Wesentliche ist die objektive Wirklichkeit. Also schaffen eben nicht Begriffe und Diskurse Realität, sondern sind Ausdruck von ihr und somit eben genauso die Realität selbst. Genau das hat Marx erkannt. Als reale Abstraktionen verkörpern sie die Wirklichkeit und geben der Wirklichkeit Körper. Wer demzufolge diesen wesentlichen Unterschied zwischen dem Ganzen und der auseianderdividierten Welt sich nicht aneignet, glaubt daran, daß sich Verhältnisse und Ideologien wechselseitig bedingen würden, ohne das Ganze ohnehin zur Voraussetzung zu haben. So wird das Ganze statt zusammengedacht in genau jene Einzelteile zerlegt, wie es die bürgerliche Gesellschaft dem Subjekt aufnötigt. Genau diese Auseinanderdividierung eines Ganzen zusammenzusetzen statt mit zu zerpflücken ist die ideologiekritische Herausforderung in der Tradition von Marx.

(Dem Text liegt ein Referat zugrunde, das der Autor im Rahmen eines regelmäßig stattfindenden offenen Seminares zum kritischen Materialismus gehalten hat. Das Seminar wird jeden Sonntag ab 15 Uhr in der Leipziger Südvorstadt, Braustraße 20, abgehalten. Neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind jederzeit willkommen.)


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last modified: 28.3.2007