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Spirit Caravan, Beaver

Der Messias kommt! Metal lebt!
Mit Spirit Caravan kommt in persona ihres Sängers und Gittaristen Wino gleich die gesamte Geschichte des Doom Metal und Stoner Rock ins Conne Island. Mit Sicherheit ein Jahrhundertereignis.
Daß die totale Sonnenfinsternis ein gerißener Trick der Optikerindustrie war, dürfte sich zumindest an Elster und Pleiße mittlerweile rumgesprochen haben. Vom rationalen Menschenverstand aus bleibt es unverständlich, daß die Beobachtung des Helligkeitsunterschieds von grau und ein bißchen mehr grau die Menschenmassen in hiesiger Provinzmetropole in Hysterie ausbrechen ließ als erschiene der Messias. Selbst gut bezahlte Büroangestellte, Akademiker und Bankkauffrauen wollten plötzlich profane Dachdecker sein, rangelten wild geworden um einen Platz auf Leipzigs Dächern und starrten wie hypnotisiert auf eine geschlossene Wolkendecke. Aber die Entdeckung des Himmels blieb ihnen verwehrt, die Weltformel bleibt weiterhin unentdeckt, der Verkünder erschien nicht.
Wenn aber wirklich mal einer vorbeischaut, dann schert sich niemand darum. Keine Extraausgaben von Geo, keine teuren Spezialanfertigungen für die Sinnesorgane, keine erwartungsfrohe Hektik – alles bleibt ruhig.
Machen wir die Probe auf's Exempel. Nach der Verkündigung des nächsten Satzes bleiben tausende nichtsahnende Leserinnen und Leser des News Flyers ruhiger als bei der Betrachtung ihres aktuellen Kontoauszugs:
Gitarristen, 9.5k Wino kommt nach Leipzig, ins Conne Island.
Und? Nichts?
Sag ich doch.
Außer den Mitgliedern einer kleinen eingeweihten Doom Metal Gemeinde bekommt jetzt niemand schockbedingte Erstickungsanfälle, keiner fällt in Ohnmacht oder schwört bis zum Tag der Ankunft des Verkünders, und nichts anderes bedeutet der besagte Satz, keine einzigste Minute mehr nüchtern zu bleiben. Macht nichts. Auch die Sekte der Christen bestand anfangs nur aus einigen wenigen Liebhabern. Und außerdem verzichteten Doom Rocker schon vor der antinationalen Linken auf populistische Massenanbiederung.
Aber vielleicht möchte ja doch jemand demnächst zu dem Kreis der Verschworenen dazugehören? Vielleicht gibt es auch so was wie eine aufklärerische Verantwortung. Obwohl, das klingt zu sehr nach Blasphemie. Nennen wir es lieber Verantwortung zur Offenbarung, die besagt, daß die Hard-Rock-Freunde von heute nicht im dunklen Verließ der Geschichtslosigkeit alleine gelassen werden dürfen?
Also gut. Wenn man vor seinem geistigen Auge einen Stammbaum harter Rockmusik entstehen ließe, an dessen verzweigten Enden solche Bezeichnungen wie Stoner- oder Wüstenrock auftauchen würden, und dessen Blätter mit Bandnamen wie Kyuss, Queens of the Stone Age, Beaver usw. beschrieben sind (auf einem zarten grünen Blättchen steht auch schon Soundmaschine Sued), dann müßte man zwangsläufig, auf Stamm und Wurzel ganz fett The Obsessed und St. Vitus pinseln. Bei beiden Doom Metal-Formationen, den Doom-Bands schlechthin, spielte Wino eine prägende Rolle, die ihn in Insiderkreisen in den Status einer Legende erhoben.
Der spezifisch schleppende Sound, der seit Ende der 70er allen Entwicklungen der Rockmusik zum Trotz, in einer leicht überschaubaren Szene bis in die späten 90er – besonders rund um das Hellhound-Label – überlebte, der sich auch nicht von dem Schneller des Speed- , dem Düsterer des Black- und dem Breiter des Bombast-Metal anstecken ließ, ist auch die stilistische Grundlage für die heute so gehypten Formationen des Wüstenrockdings.
Wer diese neumodischen Hardrockgeschichten faszinierend findet, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dem Spirit von Wino's Karawane erliegen. Seine neue Band verkörpert im Prinzip die reinste, schnörkellose und zeitgeistunabhängige Form harter Rockmusik, sie ist nichts anderes als die Wiederauferstehung nicht tot zu kriegender muskalischer Wahrheiten im Urzustand.
Wer allerdings dem ganzen Hard Rock-Zeugs nichts abgewinnen kann, wer sich nicht von fetten Gitarrenklängen, der Aussicht auf's Headbangen in verständnisvoller Gemeinschaft, einem guten Bierrausch und dem geilen Anblick alter tätowierter Rocker ködern läßt, wem selbst die Aussicht auf die eine oder andere herzzerreisende Ballade kalt läßt, den kann man eigentlich nur noch mit der Möglichkeit, eine profunde Rockgeschichtsstunde mit Zeitzeugen zu erleben, ködern. Na und wenn das auch nicht verfängt, ist man eh ein Fall für die Love Parade.
ulle

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last modified: 28.3.2007