Ende der 70er Jahre In einer anarchischen und nihilistischen Explosion wirbelt Punk die friedlich
entschlummernde Musikwelt durcheinander. So schnell Punk als neues
Lebensgefühl da war, so schnell wars damit auch vorbei. Das musikalische
3-Akkorde-Schema des Punk ließ sich nicht beliebig weit auswälzen.
Zurück blieb ein bis dahin unerreichtes Provokationspotential. Punk wollte
nichts verändern, im Sinne eines Weges zu einem besseren Leben, Lust an
Wandervögel, 1913 |
Zerstörung (auch des eigenen Körpers) war das eigentliche Bindeglied.
Erstarrung und das Runterbeten von Floskeln auf der einen Seite und die offene
Hinwendung zu faschistoiden Verhaltensweisen auf der anderen waren das Ende
(ein guter Teil der ersten Faschoskins kam direkt vom Punk).Mitte der 80er Jahre
In den USA, wo die Subkultur des Punk relativ spät ankam, entwickelt sich
ein neuer unerhörter Musikstil Hardcore (am Beispiel Black Flag ist
diese Entwicklung rein soundtechnisch sehr gut nachvollziehbar). Aus der Lust
an der Zerstörung des Punk entwickelt sich über mehrere Stationen das
anfängliche Use your Head des Hardcore. Ultrabrutale
Gitarrenssounds, ein zum Teil relativ vertrackter Beat bis hin zu
Metaleinflüßen und Texte, die anklagend und nie auch nur mit einem
Funken Humor waren, machten diesen Stil aus. Die Ausdifferenzierung in allerlei
Substile setzte von Anfang an ein. Die Bandbreite reichte von extrem politisch bis zu völlig beliebig.
In den 90ern wird Hardcore schließlich zu einem der absoluten
Konsensstile in der Musikindustrie. RnR war HC immer, mit allen
seinen unangenehmen Begleiterscheinungen. Middleclass RocknRoll
Auf dem Weg der Ausdifferenzierung des HC kam es zu einigen Blüten. Eine davon war/ist Straight Edge.
Ausgehend von der Ablehnung der selbstzerstörerischen Komponente des Punk
(extremer Saufkult, Drogen etc.) wurde anfangs ein Verzicht auf harte Drogen
gepredigt. Im Laufe der Zeit wurde diese Ablehnung auf alle Rauschmittel und
solche, die dafür gehalten werden, ausgedehnt. Dieser Ansatz zur
Führung eines selbstbestimmten Lebens ging/geht so weit, daß auch
eine recht verlogene Asexualität in den Wertekanon aufgenommen wurde. Eine
Suche nach der absoluten Reinheit, die weit weg von Use your Head
in religiöse Gefilde abdriftet. Ein Teil der Protagonisten konvertierte zum Krishna-Kult (Shelter, 108).
Ein weiteres Standbein dieser Ideologie ist ein relativ aggressiv vorgetragener
Vegetarismus/Veganismus, der weit über eine ethisch begründete
Ablehnung des Fleischverzehrs hinausgeht. Das Weltbild, das hier aufgebaut
wird, ist nicht anders als biozentristisch und quasi-religiös zu
bezeichnen. Splittergruppen wie Frontline/Hardline gehen in ihrem Wahn so weit,
beispielsweise die Aidsepedemie in Afrika als nützlich zum Abbau einer
Überbevölkerung zu erklären. In Fanzines, auf T-shirts etc. wird
die industrielle Verwertung von Tieren als Mord und Holocaust, entsprechende
Fabriken als Tier-KZs bezeichnet. Auf Grund dieser
Lebensschützerattitüde wird auch Abtreibung als Mord amungeborenen Leben verdammt.
Faßt man diese Ansichten zusammen, wird die Ähnlichkeit zu
tiefkatholisch bis neurechten Theoremen mehr als deutlich, wenn man sich dann
noch die soziale Struktur der HC-Szenerie vor Augen führt, fast
ausschließlich weiße männliche Mittelstandskids, kann einem
schon recht mulmig werden. Zumal sich die meisten auch links
verorten. Middle Class Fantasies. Soundtrack für die
Einfamilienhäuser. Ökologisch und angeblich politisch korrekt.
Diese heitere Ruhe... verdanken wir unserem Leben in und mit der
Natur... Entseelte Arbeit macht die meisten unserer Brüder und Schwestern
zu Werkzeugen... entseelter und entseelender Genuß kommen hinzu.
Die Kritik der zumeist aus der Mittelschicht stammenden Jugendlichen
entzündet sich an Elternhaus, Schule und Universität. Man kultiviert
einen nonkonformistischen Lebensstil: Wandervögel fallen durch zu lange
Haare und ungewöhnliche Kleidung auf; gesucht wird die unmittelbare
Erfüllung in der Gemeinschaft. Diese reichlich profanen Anliegen werden
nun zu einer Weltsicht aufgeplustert: Der untergehenden mechanischen und
spätkapitalistischen Zivilisation mit ihren oberflächlichen
materiellen Werten soll eine spirituelle Haltung entgegengesetzt werden.
Diese Analyse der Wandervogelbewegung anfang des Jahrhunderts passt wie die
Faust aufs Auge auch zu der gesamten Bandbreite der SE-Bewegung. Lediglich der
beschriebene Kleidungsstil ist anders. In Abgrenzung zum dreckigen
Punk kleidet man sich heute bewusst adrett und sauber, und aus der, wie
auch immer persönlich zu begründenden Ernährungsweise, werden
Weltbefreiungstheorien gebastelt. Die Grenzen zu esoterischen, neurechten bis
hin zu faschistischen Lösungsvorschlägen und Ideologien sind wie
damals, 1913, fließend. Sind die einen auf Reinheit mit einem
rassistischen Hintergrund bedacht, fehlt dieser offenkundige Rassismus auf der
anderen Seite. Wie lange noch...? Als kleines Entwicklungsbeispiel sei die von
Vegetariern 1893 gegründete Edenkolonie genannt, die von anfänglich
emanzipatorischen Ansätzen schnell ins Völkische abdriftete. (1)
Die Kritik an der kapitalistischen Verwertung von Tieren wird nur allzu oft mit
Begriffen gespickt, die in diesem Zusammenhang einen relativierenden Subtext
erhalten. Tier-KZ, Auschwitz etc. Ein für alle Mal: Wer eine
Hühnerfabrik mit Auschwitz vergleicht, bei aller Achtung der ethischen
Beweggründe dafür, verhöhnt die Opfer des Holocaust und spielt
bewußt oder unbewußt den Kräften des Geschichtsrevisionismus
in die Hände. Wer Anti-Abtreibungssticker oder solche, auf denen Rassismus
und Tierrechte gleichgesetzt werden trägt, wird sich auch künftig auf
harte Nachfragen einstellen müssen. Die Nachfrage nach den ideologischen
Grundlagen der Bands die hier spielen, werden gleichfalls genauer und
härter werden. Use your Head! Kay Literatur: - Martin Büsser If the Kids are United
- Jutta Ditfurth Entspannt in die Barbarei
- René Freund Braune Magie
- Testcard #2 Artikel von H.J. Walter Das deutsche Woodstock
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