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„Wehrmachtsverbrechen“ – Dokumente der nationalsozialistischen Besatzung der Sowjetunion

1997 wurde ein schon vor 10 Jahren erschienener Dokumentenband zu den Wehrmachtsverbrechen in der Sowjetunion neu aufgelegt. Innen ist er ganz der alte geblieben und spiegelt in Auswahl und Gliederung die Schwerpunkte sowjetischer, sozialistischer Faschismusanalyse wider. Nur das Vorwort wurde den neuen russischen Verhältnissen angepaßt und steht damit in krassem Widerspruch zum Rest des Buches. Dort darf nämlich ein Professor der Militärakademie davon schwafeln, daß „das Thema der Kriegsverbrechen“, die „im Namen Deutschlands im okkupierten Europa begangen worden sind“, „lange Jahre über ein Tabu in diesem freien und demokratischen Staat geblieben“ ist. Mitschuld daran hatte der „in hohem Grade undemokratische Nachbarstaat“, die DDR, dessen „Logik des staatlichen Antifaschismus die Aufdeckung und Entlarvung der Verbrechen von SS und Wehrmacht verlangte“ und die stalinistische Sowjetunion, die ebenfalls ganz schlimme Verbrechen begangen hatte. Jetzt war die Zeit aber für eine Neuauflage reif, da „eine neue Generation, die nicht belastet war von den Erinnerungen an den Terror und die Verbrechen des Nationalsozialismus“ herangewachsen ist und der deutschen Gesellschaft „eine größere Reife“ attestiert werden kann.
Abgedruckt sind zum Teil gekürzte Dokumente der Wehrmacht, der SS, dem SD, ziviler Besatzungsstellen, am Rande kommen auch Augenzeugenberichte (von Opfern) und Berichte von sowjetischen Kommissionen zur Schätzung der Kriegsverluste vor. Die einzelnen Dokumente sind nicht kommentiert, ihre Auswahl wird nicht begründet. Lediglich eine kurze Einleitung von Gert Meyer erläutert die Herkunft der Dokumente (ausschließlich sowjetische Archive) und gibt einen groben Überblick zur Einordnung der Dokumente.
Dieser Materialband ist also weder als Einstieg in die Materie geeignet, noch läßt sich mit ihm gut arbeiten, da er weder einen Index enthält noch die Bedeutung der einzelnen Dokumente erläutert. Nichtsdestotrotz gibt er einen guten Einblick über sachliche, deutsche Verwaltungssprache, die selbst den Massenmord in allen Details regelt, und die ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus, die in etlichen anderen Texten durchschimmern. Andere Anordnungen dagegen machen keine konkreten Vorgaben, sondern appellieren an den Erfindungsreichtum der Akteure. Symptomatisch dafür ist die Aufforderung „Vergeßt von Deutschland alles, außer Deutschland selbst!“ in den „12 Geboten für das Verhalten der Deutschen im Osten“. Deutlich wird der Spielraum, den die meisten Funktionäre auf tieferer Ebene und selbst einfache Soldaten hatten, eigene Entscheidungen völlig unabhängig von der Zentralgewalt zu treffen.
Ähnlich dem Ausstellungskatalog läßt sich in diesem Buch aber gut blättern und lesen, um ein (eher emotionales) Bild von den Verbrechen zu bekommen. Außerdem ermöglichen die Texte einen guten Überblick über die ökonomischen, geo- und bevölkerungspolitischen Strategien und Planungen der Nationalsozialisten, die weit über das Kriegsende hinausreichten. Die „Was wäre wenn“-Frage läßt sich mit hilfe des Buches leicht beantworten. Nach dem erfolgreichen Krieg hätte Deutschland im Osten die ihm hörigen „Pufferzonen“ Großfinnland, Baltenland, Ukraine und Kaukasien geschaffen, um den Einfluß „Rußlands“ auf Europa zu verringern. Rußland habe sich gen Osten zu wenden, Sibirien werden gute Qualitäten bescheinigt. In den Pufferzonen wären massiv Deutsche angesiedelt worden, die Zahl der lokalen Bevölkerung hätte durch Vertreibung, Ermordung und Geburtenbegrenzung gesenkt werden sollen. Sie mußte aber stark genug bleiben, um ein Gegengewicht zu Rußland zu bilden. Deutsch wäre Amtssprache geworden - so das Ergebnis ausgiebiger Volkstumsstudien.(12)
Sortiert sind die Dokumente nach den folgenden fünf Punkten: Allgemeines, Massenvernichtung der sowjetischen Bevölkerung, Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen, Sklavische Arbeitsbedingungen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und Massenverschleppung sowjetischer Menschen zur Arbeit nach Deutschland, Zerstörung und Plünderung nationaler Güter in den besetzten Gebieten der UdSSR. Daran ist die Schwerpunktsetzung schon abzulesen. Der Nationalsozialismus soll als höchste Form des Imperialismus vorgeführt werden, der zum Ziel hat, den Kommunismus zu vernichten und fremde Länder zu unterjochen sowie deren EinwohnerInnen hemmungslos auszubeuten. Der Holocaust an den Juden kommt da kaum vor und wenn, dann nur unter Punkt 5.(13)
cover, 8.4k Wehrmachtsverbrechen. Dokumente aus sowjetischen Archiven.
PapyRossa: 1997, 320 S.


„In den letzten Tagen sahen wir häufig große Gefangenenkolonnen. Wenn man diese Horden sieht, muß man sich immer wieder sagen, wie furchtbar es gewesen wäre, wenn diese tierische Soldateska in Deutschland eingefallen wäre (...) Diese Kerle in unserem schönen zivilisierten Deutschland würden wie von der Hölle in den Himmel kommen uns sicher alles zerstören und besudeln. Ganz abgesehen von der entsetzlichen Gefahr für unsere Frauen und Mädchen. – Aber diese Gefahr ist ja Gott sei Dank in letzter Minute abgewandt worden.“

(Gefreiter Werner F., 30.10.1941, vor Leningrad)


(12) Diese Ideen sind heute immer noch prägend für die deutsche Außen-, „Minderheiten-“, „Volkstum“- und Militärpolitik. Kein Wunder, daß die Bundeswehr dem Naziterroristen Manfred Roeder an der Führungsakademie über „Die Übersiedlung von Rußlanddeutschen in den Raum Königsberg“ referieren ließ und ihm dann – weil das Auswärtige Amt „dringendes Bundesinteresse“ bescheinigte – noch Militärfahrzeuge und Werkzeuge zur „Germanisierung des Ostens“ schenkte.

(13) So findet sich der Bericht über die Ermordung aller 35.000 Juden der Stadt Kiew unter der Rubrik „Zerstörung und Plünderung nationaler Güter...“. Wahrscheinlich sind damit nicht die Juden gemeint, sondern die Stadt, die dabei auch mit drauf gegangen ist.



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last modified: 28.3.2007