Raul Hilberg, der 1939 mit seinen Eltern in die
Vereinigten Staaten emigrierte, ist Professor für Politikwissenschaft an
der Universität Vermont/USA. Für das vorliegende Werk verwendete er
in jahrelanger Arbeit tausende von zeitgenössischen Quellen, die ihm nach
dem Zweiten Weltkrieg in amerikanischen Archiven und Bibliotheken zur
Verfügung standen. Er gilt wohl zu Recht als bester Kenner der Quellen.
Dabei hatte Hilberg schon bei der Veröffentlichung seiner Arbeiten in den
USA und Großbritannien mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Aufgrund des
Kalten Krieges stieß er mit seinen tabuisierten Ausführungen
über den Holocaust und die deutschen Täter auf Skepsis, Ablehnung und
Desinteresse. In Deutschland wurde er zunächst ignoriert, später
wurden seine Werke zwar in der Fachpresse rezipiert, fanden aber erst seit den
80er Jahren die Beachtung einer breiteren Öffentlickeit. Das hier
vorgestellte Werk wurde so in der BRD auch erstmals 1982 bei einem kleinen
Verlag veröffentlicht. Inzwischen wird er hierzulande gern als der
große Chronist gelobt, der und darin liegt wohl auch
der Grund dafür die Verwicklung und Beteiligung der
Führungseliten in Staatsverwaltung, Industrie und Wehrmacht bei der
Judenvernichtung mit Kühle und Präzision nachweist.
Aufgebaut sind die drei Bände nach der von Hilberg geprägten und
allgemein übernommenen Formulierung der Judenvernichtung als
unteilbarer, monolithischer und in sich geschlossener Prozeß mit
durchgängiger Struktur, die er folgendermaßen charakterisiert:
Zuerst wurde der Begriff Jude definiert; daraufhin traten
Enteignungsmaßnahmen in Kraft; es folgte die Konzentration in Ghettos;
schließlich folgte aus dem Entschluß, die Juden zu vernichten, die
Entsendung von mobilen Tötungseinheiten und die Deportationen in die
Vernichtungslager. Chronologisch gibt er in umfangreichen Kapiteln die
einzelnen, Schritt auf Schritt folgenden Operationen wieder: Von der
Übernahme vorhandener judenfeindlicher Tendenzen aus dem Mittelalter, die,
wenngleich theologisch motiviert, zusammen mit inzwischen antisemitischen
Vorurteilen der überwiegenden Bevölkerung im Kaiserreich und der
Weimarer Republik Grundlage für die Judenverfolgung bildeten und durch
erste gesetzliche Reglementierungen nach der Machtübernahme der Nazis die
Verfolgungen einleiteten. Großen Raum widmet er den
Arisierungen jüdischen Eigentums, der einsetzenden Emigration
und den groß angelegten Konzentrationen in den Ghettos Osteuropas. In
Band II zeichnet Hilberg den zweiten Teil des Vernichtungsprozesses nach. Hier
schildert er, ausgehend vom Entschluß der Endlösung der
Judenfrage das Wüten der mobilen Einsatzkommandos aus Polizei und SS
in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht in den eroberten Gebieten sowie die
einsetzenden umfangreichen Deportationen in die Vernichtungszentren: in die
Katastrophe von Auschwitz, Belzec, Kulmhof, Lublin, Sobibor und Treblinka. Band
III schließlich ist überzeichnet mit
Schlußfolgerungen: Es folgen Betrachtungen über die
Täter, Opfer, Widerstände, Prozesse und Wiedergutmachung.
Die Ausführungen bieten, abgesehen von der Aufzeichnung der Organisation
des Vernichtungsprozesses durch Bürokratie, Wehrmacht, Parteidienststellen
und Industrie, auch zahlreiche interessante Fakten und Aufklärung
über verfälschte Darstellungen. So erhält man Aufschluß
über die Situation in allen besetzten europäischen Staaten,
namentlich den Satellitenstaaten par exellance die Slowakei und
Kroatien, die angebliche Unwissenheit der deutschen Bevölkerung und die
Rolle der Wehrmacht im Vernichtungsprozeß: Hier wird klar, daß die
z.T. zögerliche Haltung der Wehrmachtsführung gegenüber
Judenpogromen und Erschießungen in den besetzten Gebiete nicht etwa einer
vielbeschworenen generellen Ablehnung als vielmehr dem Ansehen der
Truppe und dem Pogrom an sich als Alptraum aller militärischen
Verwaltungsexperten geschuldet war.(1)
Hilberg vermittelt mit seiner Gesamtdarstellung eine komplexe Abfolge der
Vorgänge. Er gibt aber, trotz seiner Ansätze zur Erklärung des
Tätertypus, durch die Fixierung auf die deutschen Behörden und
deren verantwortliches Personal keine gesellschaftstheoretische Analyse
des Holocaust und stellt nicht die Frage nach dem Warum?, wie das
z.B. Ausgangspunkt des Buches Hitlers willige Vollstrecker von
Daniel Goldhagen ist. Gleichsam blendet er die Teilnahme und Beurteilung der
deutschen Bevölkerung an der Shoa aus. Aber, und darin liegt der Verdienst
Hilbergs, die dargestellten und in ihrer Beispielhaftigkeit erdrückenden
Fakten bieten bei aufmerksamer Auseinandersetzung wenig Spielraum zu einer
relativierenden Einschätzung des Holocaust. Philipp
Anmerkung: (1) Mit der Rolle der Wehrmacht im Vernichtungskrieg werden sich
einige der nächsten Rezensionen ausführlicher beschäftigen.
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