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INHALT #271

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Alles ist viel zu anstrengend
• kulturreport: Gedicht
• position: Nieder mit Erdogan! Zum Angriff auf DITIB, seiner Rezeption und dem Racheakt in Connewitz
• doku: »Islamophobie«, das Kopftuch und westliche Linke
Mark Fisher – Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig
• review-corner buch: Pizza mit Ketchup und Mayo
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Der Beitrag erschien im Original in: The Visual Artists’ News Sheet, 21. Juli 2014. Überarbeiteter Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Edition Tiamat aus: Mark Fisher, k-punk. Ausgewählte Schriften (2204–2016), übers. v. Robert Zwaerg, Berlin 2020, S. 443–446.

Mark Fisher – Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig

Einer der spannendsten und provokativsten Beiträge über Politik und Kultur in diesem Jahr war der Text »We Are All Very Anxious« vom Institute of Precarious Consciousness (der Essay wurde breit rezipiert, nachdem er auf der Website von Plan C wiederveröffentlicht wurde).(1) Darin heißt es, dass das wichtigste Problem des Affektkapitalismus die Angst ist. Früher, in der Ära des Fordismus, war Langeweile der »vorherrschende, reaktive Affekt«. Repetitive Arbeit am Fließband produzierte Langeweile, die sowohl die wesentliche Form der Unterwerfung als auch die Quelle neuer oppositioneller Politik war.

Man könnte behaupten, dass das Scheitern der traditionellen Linken mit ihrer Unfähigkeit zusammenhängt, sich mit dieser Politik der Langeweile, die nicht von den Gewerkschaften oder Parteien ausging, sondern von den Situationisten und den Punks, angemessen auseinander zu setzen. Es waren die Neoliberalen, nicht die organisierte Linke, die am besten die Kritik der Langeweile absorbiert und instrumentalisiert haben. Flink assoziierten sie die fordistischen Fabriken sowie die Stabilität und Sicherheit der Sozialdemokratie mit Eintönigkeit, Vorhersehbarkeit und Top-Down-Bürokratie. Dem stellten die Neoliberalen Aufregung und Unberechenbarkeit gegenüber – aber die Kehrseite dieser neuen, dynamischen Verhältnisse ist permanente Angst. Angst ist der emotionale Zustand, der mit (ökonomischer, sozialer, existenzieller) Prekarität korreliert, die das neoliberale Regime normalisiert hat.

Das Institute of Precarious Consciousness hat recht, wenn es darauf hinweist, dass ein Großteil der antikapitalistischen Politik an Strategien und Perspektiven festhält, die aus der Zeit stammen, als der Gegner noch die Langeweile war. Ebenso richtig ist, dass der Kapitalismus im Grunde das Problem der Langeweile gelöst hat und dass es wichtig ist, dass die Linke einen Weg findet, um die Ängste zu politisieren. Neoliberale Kultur – deren Aufstieg begann, als die Antipsychiatriebewegung an Dynamik verlor – hat Depression und Angst individualisiert. Oder anders gesagt, viele Fälle von Depression und Anspannung sind ein Effekt jener erfolgreichen neoliberalen Tendenz, politische Antagonismen in Krankheiten zu verwandeln.

Zugleich bin ich der Meinung, dass die Analyse der Langeweile differenziert werden muss. Es stimmt, dass man bei dem Gedanken an die alte Langeweile fast nostalgisch werden könnte. Die trostlose Leere der Sonntage, die nächtlichen Stunden, nachdem im Fernsehen nichts mehr kam, selbst die sich endlos ziehenden Minuten in der Schlange für den öffentlichen Nahverkehr: Für alle, die ein Smartphone haben, gibt es diese leere Zeit im Grunde nicht mehr. Im 24/7-Leben des kapitalistischen Cyberspace darf das Gehirn nicht mehr faulenzen; stattdessen wird es überschwemmt mit einer unablässigen Zufuhr von niedrigschwelligen Reizen.

Und trotzdem war Langeweile immer ambivalent; es war nicht einfach ein negatives Gefühl, das man loswerden wollte. Für Punk war die Leerstelle, die die Langeweile lässt, eine Herausforderung, eine Aufforderung und eine Möglichkeit: Wenn wir gelangweilt sind, dann ist es an uns, etwas zu produzieren, das die Leerstelle füllt. Aber es ist genau diese Forderung zur Teilnahme, mit der der Kapitalismus die Langeweile neutralisiert hat. Statt ein befriedendes Spektakel zu installieren, setzen kapitalistische Unternehmen heute alles daran, uns zur Interaktion aufzufordern, unseren eigenen Content zu generieren und an der Diskussion teilzunehmen. Es gibt weder eine Entschuldigung noch eine Gelegenheit dafür, gelangweilt zu sein.

Die zeitgenössische Form des Kapitalismus hat zwar die Langeweile abgeschafft, nicht jedoch die Gelangweilten. Im Gegenteil – man könnte sagen, das Langweilige ist omnipräsent. Wir haben zum größten Teil die Erwartung aufgegeben, von Kultur überrascht zu werden – und das gilt für die »experimentelle« Kultur so sehr wie für die populäre. Egal, ob es die Musik ist, die wie vor 20, 30 oder 40 Jahren klingt, Hollywood- Blockbuster, die alte und veraltete Ideen, Figuren und Tropen wiederkäuen oder die erschöpften Gesten der zeitgenössischen Kunst, das Langweilige ist überall. Nur ist niemand gelangweilt – denn es gibt kein Subjekt mehr, das gelangweilt sein könnte. Langweile ist ein Zustand der Absorption – ein Zustand der höchsten Vertiefung, weswegen es sich um ein so erdrückendes Gefühl handelt. Langeweile nimmt unser ganzes Sein ein; wir haben das Gefühl, dass wir ihr nie entkommen. Aber es ist gerade diese Fähigkeit zur Vertiefung, die derzeit aufgrund der konstanten Zerstreuung, die für den kapitalistischen Cyberspace zentral ist, unter Beschuss genommen wird. Wenn Langeweile eine Form der leeren Vertiefung ist, dann bilden positive Formen der Absorption das effektive Gegenmittel. Anstatt uns zu verschlingen, lenken sie uns von der Langeweile ab.

Das wohl eindrücklichste Merkmal unseres derzeitigen Zustandes ist eine Mischung aus Langeweile und Zwang. Obwohl wir wissen, dass sie langweilig sind, fühlen wir uns trotzdem gezwungen, noch ein weiteres Facebook- Quiz zu machen, noch eine weitere Buzzfeed-Liste zu lesen, irgendwelchen Prominentenklatsch über jemanden, der uns egal ist, anzuklicken. Wir bewegen uns ständig im Langweiligen, aber unser Nervensystem ist so überreizt, dass wir nie den Luxus haben, uns zu langweilen. Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig.

Anmerkungen

(1) Plan C, We are all very anxious, 4. April 2014, https:// www.weareplanc.org/blog/we-are-all-very-anxious/.

12.05.2022
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