• Titelbild
• Editorial
• das erste: Die beste Sonntagsbeschäftigung
• Sophia Kennedy
• Flying Wheels Skateworkshop: Frauen- und Mädchen-Empowerment
• »The Great Connewitz Swindle« oder wie der Mythos nach Connewitz kam
• interview: »Die Fettnäpfchen sind uns egal. Nur wenn man die Dinge diskutiert, kommt man zum Kern.«
• review-corner buch: Historischer Materialismus der Computerspiele
• review-corner event: „Allein unter Briten“ – Lesung mit Tuvia Tenenbom
• position: »Das ist kein Antisemitismus...« – Warum #FreeGazaFromHamas immer noch heißen muss, auch die deutsch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen zu kritisieren
• doku: Redebeitrag des Bündnis gegen Antisemitismus
• doku: Antisemitismus im Postkolonialismus
• doku: Gedichte von Hilde Domin
• »Antizionismus ist Antisemitismus, und die Welt kann diese Tatsache nicht ignorieren«
Manche sagen Marx’ deterministische Geschichtsphilosophie, in der „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft […] die Geschichte von Klassenkämpfen [ist]"(1), habe sich durch das Scheitern des Sozialismus selbst widerlegt. Aber jedes Mal, wenn ich den Rechner hochfahre, erwecke ich sie wieder zum Leben. Während in manch anderen Strategiespielen Ressourcen von selbst oder mit Magie erschaffen werden, ist es bei den folgenden Spielen, wie in der echten Welt, die Aufwendung von Arbeitskraft. Die Aneignung der Natur schuf die Grundlage, um dem Naturzustand zu entkommen und Kultur zu schaffen, die über das Prinzip der Selbsterhaltung hinausging sowie um Produktivkräfte frei zu setzen. Aber sie machte den Verlauf der Geschichte nicht gerade unkomplizierter oder friedlicher. Ein gewagter Gang durch die materialistische Geschichte der Computerspiele. Im ersten Teil wird anhand meines Lieblingsspiels Age of Empires II der Weg der Urgesellschaft bis zur Feudalzeit hin zur Schwelle des Merkantilismus skizziert.
#Stammes- und Urgesellschaft: Age of Empires II#
#Dunkles Zeitalter#
Im niedrigsten Zeitalter von Age of Empires befinden sich die Menschen im Dunklen Zeitalter. Das Leben ist einfach und mühsam in der Urgesellschaft. Die Bedürfnisse zum Überleben stehen im Vordergrund und alles muss der Natur mühsam mit der Hand abgerungen werden, Beeren per Hand geerntet, Wildschweine und Rehe mit Bögen gejagt werden, immerhin kann man wilde Schafe domestizieren. Kunst und Kultur sind kaum ausgeprägt. Die Natur ist gefährlich. Dort lauern Wölfe, die den schnellen Tod für den/die einfache Dorfbewohner_in bringen kann (Es gibt angedeutet durch Menschen, oberkörperfrei in Hosen und mit langen Haaren in Kleidern, augenscheinlich zwei soziale Geschlechterkategorien, die sich in ihrer Arbeitskraft nicht voneinander unterscheiden. Auch Reproduktionsarbeit ist geschlechterunabhängig und wird automatisch im Dorfzentrum geregelt. Militäreinheiten sind aber immer männlich).
Die Menschen leben auf die einfachsten Bedürfnisse beschränkt. Die Arbeitsorganisation ist aufgrund der omnipräsenten Knappheit primitiv, mit wenig Ertrag und kaum Überschuss. Ressourcen reichen gerade aus, um neue Dorfbewohner_innen zu produzieren. Wichtig sind vor allem Holz und Nahrung, Waffen und Werkzeuge sind primitiv. Der Blick in die Umwelt ist durch Nebel versperrt, in dem wilde Tiere und fremde Späher lauern, denen man quasi schutzlos ausgeliefert ist. Lieber bleibt man in der Nähe des Dorfzentrums, welches in der Not Schutz bietet. Reproduktion geschieht wie von Geisterhand. Menschen werden als Dorfbewohner geboren, haben keine Kindheit oder Jugend und sterben durch wilde Tiere oder fremde Krieger. Es herrscht allgemeine Knappheit und Not.
Was treibt die Dorfbewohner_innen in ihrem leidvollen Leben an? Ist es Gott, das Ausgeliefertsein der eigenen Existenz oder ich, der sie mit raschem Linksklicken über die Karte jagt und ihnen keine Pause gönnt? Wiederholt drücke ich auf den Knopf, der automatisch untätige Dorfbewohner ausfindig macht, und schicke sie sofort zur Arbeit. Lohn wurde noch nicht erfunden, Freizeit auch nicht. Überleben ist das Ziel, dem alles unterzuordnen ist. Leben ist Arbeit und Arbeit ist Leben.
Die Menschen leben allerdings in ihrer Beschränktheit in scheinbarer Freiheit: Es gibt keinen Herren (außer mich hehe), nur den Zwang, der von der Natur an den Menschen herangetragen wird und dem er mit Mühe zu trotzen versucht. Hierarchien unter den Dorfbewohner_innen kann ich auf dem Bildschirm nicht erkennen (nicht mal zwischen den Geschlechtern) und würde das auch sofort unterbinden, sollte es die Produktivität meiner Arbeitskräfte mindern. Ihre primitive Arbeitsorganisation übernehme ich deswegen lieber gleich selbst, nicht dass sie noch auf die Idee kommen sich demokratisch zu organisieren und Rechte einzufordern – aber dafür sind sie sowieso viel zu beschäftigt. Feste gesellschaftliche Arbeitsteilung mit Spezialisierung existiert noch nicht. Die Dorfbewohner können unterschiedslos wechselweise zu gleicher Qualität als Jäger, Fischer, Beerensammler, Holz-, Stein- oder Bauarbeiter eingesetzt werden. Eigentum gibt es keines, alles wird kollektiv erwirtschaftet. die Weichen sind auf Fortschritt gestellt hat. Nach 12:40 Minuten und einer Population von ca. 20 Dorfbewohnern schreiten wir in eine Zivilisationsstufe voran.
Da die Dorfbewohner_innen kein Bewusstsein ausbilden und sich nicht als revolutionäres Subjekt begreifen können, verharren sie unter meiner Herrschaft, revolutionäre Umwälzungen bleiben aus.(2) Zum gesellschaftlichen Sprung verhelfe ich ihnen. Am Ende herrsche aber immer ich und bleibe Antagonist, entscheide über Leben und Tod und verfüge über Produktionsmittel. Noch waren wir mit uns selbst und dem Zurückdrängen der Natur beschäftigt, doch bald wird klar, dass der Mensch die größte Gefahr seiner Gattung ist: Homo homini lupus.(3)
#Feudalismus: Age of Empires II#
#Feudalzeit/Ritterzeit#
In der Feudalzeit haben sich die Dorfbewohner_innen in der Sesshaftigkeit eingerichtet. Felder werden bestellt und Technologien entwickelt, die die Arbeit produktiver machen. Weniger Arbeit oder ein entspannteres Leben könnte man denken, aber sie gewinnen dadurch nichts an Freiheit, denn ich bin es, der ihren Ertrag abschöpft und den gesellschaftlichen Fortschritt in eine größere Truppengröße ummünzt. Natürlich zum Schutz der Zivilbevölkerung. Die Gegner schlafen allerdings nicht und werden das Gleiche tun, nur mit schlechten Absichten. Sie planen aus Neid und Missgunst den Überfall. Da verstehe ich gar keinen Spaß: Der Angriff auf Eigentum ist der Angriff aufs Leben und muss bestraft werden!(4) Es gibt keine rechtschaffende Instanz zwischen uns, es herrscht der Naturzustand und ich bin bereit, alles zu tun, um mein Volk zu schützen.(5) Außerdem sind Ressourcen, vor allem Gold, knapp und da will ich keinesfalls im Wettrüsten zurückfallen. Allerdings gibt es dazu eine Alternative (Handel), aber dazu kommen wir noch.
Meine Dorfbewohner_innen erfahren meine Befehle direkt. Die Illusion, dass sie dies aus Eigenantrieb tun oder ein Gott sie anleite, kann ich nicht mehr aufrechterhalten und nehme sie ihnen, indem ich ihnen eine Burg als physische Manifestation meiner Herrschaft vor die Nase setze. Ich bleibe allerdings König von Gottesgnaden, um meine Macht nicht komplett säkular begründen zu müssen. Das würde mich in Schwierigkeiten bringen. »Säkular«, haha. Ach, das dauert noch ein paar Jahrhunderte, bis sie das überhaupt verstehen können. Aber sicher ist sicher, und das befreit sie von der quälenden Sinnfrage ihres nicht zu beneidenden Lebens. Sie müssen die Burg allerdings selbst bauen und die notwendigen Steine dafür abbauen. Dafür gebe ich ihnen Schutz. Das ist ein fairer Deal und das ist mehr Sicherheit, als sie jemals erfahren haben. Die Frage, ob das objektiv Recht ist, stellt sich nicht, im Kampf aller gegen alle.(6) Wenn sie Glück haben und fleißig sind, haben sie immerhin eine Lebenserwartung von ca. 45 Minuten, sollte ich das Spiel gewinnen können. In der jetzigen Zivilisationsstufe sind Ressourcen und Ländereien der Ursprung von Reichtum, die Bevölkerung wächst, technologischer Fortschritt floriert und die Religion besänftigt alle und hält die Ordnung aufrecht (Wolololo!).
Auf den ersten Blick gehört immer noch alles allen. Es gibt kein Privateigentum. Denn alles gehört Gott, auch die Menschen – und ich bin Gottes Vertreter an der Tastatur, äh auf Erden. Jeder hat seinen Platz und spielt seine Rolle. Das Leben der Dorfbewohner_innen wäre elendig und einfach, aber ertragbar, wären da nicht die Gegner, die sich nun immer häufiger in meinem Territorium blicken lassen und versuchen, es mir streitig zu machen, um an meine wertvollen Goldvorkommen und das ertragreiche Land zu kommen, welches ich mir, bzw. meine Dorfbewohner, mühsam der Natur abgerungen haben. Besonders nachhaltig wird in AoE II nicht gewirtschaftet. Die Wälder werden nicht erneut aufgeforstet, irgendwann sind auch alle Tiere gejagt oder abgefischt und auch Steine und das liebe Gold gehen als natürliche Ressource zur Neige.
#Exkurs Merkantilismus: Age of Empires II: The Conquerors#
#Imperialzeitalter#
Und es deutet sich eine revolutionäre Veränderung an! Es scheint, je höher die Zahl der Dorfbewohner und somit die Arbeitsteilung, desto höher die Produktion und das dadurch erwirtschaftete Gold.(7) Durch Handel über weite Distanzen der Karte mit Verbündeten lässt sich Gold erwirtschaften. Und mit Gold lässt sich auf dem Markt quasi alles kaufen! Außerdem wird Gold nicht schlecht, wie manch andere Waren. Ich kann den Überschuss konservieren und damit Forschung fördern, da ich einen Teil der Gesellschaft unabhängig von der Sorge um die eigene Subsistenz machen kann. Und mehr Militär erschaffen, um meine Handelsrouten zu sichern. Was ist schon ein Tag auf dem Acker verglichen mit einem Vollzeitjob in der neugebauten Universität oder in meinem mittlerweile bedrohlichen stehenden Herr. Unsere Produktion und unser Absatz steigen zudem rapide, doch brauchen wir im Umkehrschluss auch mehr Ressourcen. Wir müssen expandieren! Auf zu neuen Märkten!
einem untätigen Dorfbewohner