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Aktuelles Heft

INHALT #266

Titelbild
Distanzierung
• das erste: Die islamistische Rechte. Teil 2: Türkische Massenbewegungen und Staatsislamismus
• inside out: Presserat spricht Missbilligung gegen Leipziger Volkszeitung Online aus
• interview: Interview mit CopWatch Leipzig zur Waffenverbotszone und zur Polizei
• review-corner buch: Frauenzwangsarbeit in Markkleeberg
• kulturreport: Frech frech frech.
• position: Das ewige Rauschen wird zum Dröhnen
• position: Mivtza Shlomo – Operation Salomon
• doku: Waffenarsenal in Nordsachsen
• das letzte: Gegendarstellung

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Interview mit CopWatch Leipzig zur Waffenverbotszone und zur Polizei

Am Freitag, dem 23. April 2021, veranstaltete die Gruppe "CopWatch Leipzig" einen Online-Vortrag mit dem Titel "hier und jetzt: Solidarität statt Polizei". Die Debatte um die Abschaffung der Polizei nimmt Anlehnung an die US-amerikanische Bewegung "Abolish the Police". Die Diskussion, inwieweit die Polizei zum Erhalt struktureller rassistischer Diskriminierung beiträgt, bekam vor allem nach dem Mord an George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis Rückenwind, ist aber auch in Leipzig durch die Einführung der »Waffenverbotszone« rund um die Eisenbahnstraße wiederholt Thema öffentlicher Auseinandersetzung gewesen. Über regionale Auswirkungen polizeilicher Sicherheitspolitik und deren Alternative sprachen wir deswegen im Nachgang des Vortrags mit der Gruppe.

Die »Waffenverbotszone« in der Eisenbahnstraße besteht seit November 2018. Im März 2021 sorgte das Sächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) dafür, dass die Polizeiverordnung, welche das Mitführen von waffenähnlichen oder als Waffe nutzbaren Werkzeugen verbot, für unwirksam erklärt wurde. Das Gericht argumentiert, dass im besagten Bereich keine Gefahr im polizeirechtlichen Sinne vorliege, selbst wenn ein erhöhtes Kriminalitätsvorkommen vorliege. Die Eisenbahnstraße und seine Nebenstraßen bleiben allerdings »Waffenverbotszone«. Verboten sind nun nur noch explizit Waffen, für die ein Waffenschein benötigt wird. Wie äußerte sich die Kontroll-Praxis der Polizei in der Vergangenheit und inwieweit ändert sich die Situation vor Ort durch die Entscheidung des Gerichts?

Die Polizei und das Innenministerium konnten nicht nachweisen, dass von einer Person, die einen solchen Gegenstand bei sich führt, eine hinreichend konkrete Gefahr für die Sicherheit und Ordnung ausgeht. Das Gericht hat die Verordnung über das Mitführen vom gefährlichen Gegenständen deshalb gekippt. Andere interessante Fragen, wie die der Verhältnismäßigkeit, sind daher gar nicht betrachtet worden.

Durch das Urteil des OVG wird sich nichts Grundlegendes ändern, da die Waffenverbotszone mit allen Befugnissen für die Polizei bestehen bleibt. Solange eine sog. Waffenverbotszone eingerichtet ist, darf die Polizei anlasslos kontrollieren. Du bekommst lediglich kein Bußgeld mehr, wenn du beispielsweise mit einer Schere, einem Baseballschläger oder Tierabwehrspray erwischt wirst.

Die Polizei muss ihre Kontrollen nicht am konkreten Verhalten einer Person anknüpfen und dann treffen die Beamt*innen ihre Auswahl allein danach, ob sie die Person ihrem Äußeren nach als „gefährlich“, also „kriminell“ einordnen. In einer rassistischen und klassistischen Gesellschaft und mit einer Institution Polizei, die insbesondere zur Verfolgung von in dieser Hinsicht Diskriminierten geschaffen wurde, ist das ein Einfallstor für diskriminierendes Profiling.
Doch auch darüber hinaus beobachten wir viel rechtswidriges oder unprofessionelles Verhalten von den Polizist*innen. Sie zeigen zum Beispiel trotz Aufforderung und Verpflichtung ihren Dienstausweis nicht, sodass man im Nachhinein auch kaum etwas gegen die Kontrolle unternehmen kann.

Der ehemalige Polizei-Chef Bernd Merbitz formulierte in einem Statement zur Waffenverbotszone: »Der Rechtsstaat dokumentiert damit ausdrücklich seinen Willen, sowohl die Häufigkeit als auch die Heftigkeit von Gewalteskalationen merklich einzudämmen, denn weder der Einsatz von Waffen und gefährlichen Werkzeugen noch das durch ihr Mitführen latent vorhandene Gewaltpotential sind tolerabel.« Nun scheint der Rechtsstaat, auf dessen Willen sich berufen wird, ja zu einer anderen Gefahreneinschätzung zu kommen als die Leipziger Polizei. Wie erklärt sich dieser Widerspruch zwischen Gericht und Polizei?

Das ist Ausdruck der Gewaltenteilung als grundsätzlicher Voraussetzung für die demokratische Organisation von Gesellschaften. Offensichtlich interessiert sich Herr Merbitz nicht wirklich für die Reduktion von sozialen Konflikten, die die Gewalt überhaupt erst hervorrufen, denn sonst würden wir viel mehr über soziale, anstatt über polizeilich-repressive Lösungen sprechen.
Natürlich muss die Polizei ihre autoritären Maßnahmen legitimieren. Herr Merbitz nutzt, wie im Übrigen viele Menschen, die für Law and Order Politik stehen, einen falschen Rechtsstaatsbegriff bzw. deutet ihn um. In seiner Interpretation ist der »Rechtsstaat« ein Staat, der mit harter Hand dafür sorgt, dass Recht und Gesetz durchgesetzt werden.

Dabei ist die Idee vom Rechtsstaat eigentlich, dass die Bürger*innen vor willkürlichem Handeln des Staates geschützt sind und sich gegen dieses Handeln z.B. gerichtlich zur Wehr setzen können.
Das Gericht hat durch das Urteil ein deutliches Signal Richtung Polizei geschickt, dass an solche neuen Überwachungs- und Kriminalisierungsmaßnahmen höhere Anforderungen zur Rechtfertigung zu setzen sind und damit ein Stück weit das eigentliche Prinzip des liberalen Rechtsstaates gestärkt.

Nicht nur rechtlich, sondern auch politisch stand die Verordnung auf wackeligen Füßen. So sprach sich der Leipziger Stadtrat im Februar 2021 für eine Aufhebung der Waffenverbotszone aus. Es gab wiederholt Kritik von politischen Gruppen an der Stigmatisierung des Gebiets und dem Verdrängen tatsächlicher Probleme. Das Gericht kritisierte zudem, dass die Verordnung gar nicht vom Innenministerium oder der Polizei, sondern nur vom Sächsischen Landtag hätte beschlossen werden können. Welche politischen Forderungen lassen sich daraus ableiten?

Die Verschiebung von Macht weg vom Parlament hin zur Exekutive, zu der auch das Innenministerium und die Polizei gehören, ist ein typisches Merkmal des autoritären Etatismus. Dies ist ein gefährlicher Weg hin zu weniger Demokratie, eine Folge des Rechtsrucks in Staat und Gesellschaft. Dies ist eine Entwicklung, die wir auch als radiale Linke auf dem Schirm haben müssen, um nicht mehr von unseren Rechten verlieren.

Die Skandalisierung der Eisenbahnstraße als Kriminalitäts-Hotspot impliziert ja vor allem auch in der medialen Berichterstattung eine rassistische Konnotation sowie eine Verkürzung der Probleme auf ein begrenztes Gebiet. Allerdings lassen sich soziale Probleme und Kriminalität vor Ort auch nicht leugnen oder ausblenden. Die Bewohner*innen des Gebiets werden auch in die Argumentation der Polizei eingeschlossen. So sei die Waffenverbotszone eingerichtet worden, um »die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Bereich weiter zu erhöhen«. Vor Ort gab es immer wieder Proteste gegen die Waffenverbotszone. Inwieweit unterscheidet sich die Perspektive auf »Gefahr« und »Sicherheit« zwischen Anwohner*innen und der Polizei? Sind die bisherigen Maßnahmen der Polizei sinnvolle Reaktion auf bestehende Probleme im Viertel?

Der Hauptgrund für die Einführung der Waffenverbotszone waren ja die Schießereien auf der Eisenbahnstraße und ihre mediale Aufarbeitung. Innenministerium und Polizei sahen sich dann gezwungen, das Image der »gefährlichsten Straße Deutschlands« (RTL) aufzupolieren, auch, um Investor*innen den Weg in den Leipziger Osten weiter zu ebnen. Gleichzeitig war es eine gute Gelegenheit, den polizeilichen Werkzeugkasten etwas aufzustocken und eine neue Maßnahme auszuprobieren.

Das Verhindern von Schießereien ist ein sehr guter Minimalkonsens, denn wer will so was nicht verhindern? Doch zeigen die offiziellen Zahlen der Polizei in den letzten Jahren relativ gesehen kein allzu häufiges Aufkommen von schwerer Gewaltkriminalität und vor allem keinen Rückgang seit Einführung der Sonderrechtszone.

Wir wollen interpersonelle Gewalt verhindern. Wir glauben nur nicht, dass die Waffenverbotszone dazu beiträgt. Sie verdrängt sie nur an andere, ggf. weniger sichtbare Orte. So entfällt auch eine soziale Kontrolle durch die Zivilgesellschaft, die helfen könnte bei Konflikten einzugreifen und zu vermitteln, bevor es zu schweren Verletzungen kommt. Auch ein psychiatrischer Krisenreaktionsdienst könnte das durch professionelle Angebote ergänzen.

Die Waffenverbotszone kann genutzt werden, um gegen jede*n vorzugehen, den*die der Staat als »Gefahr« für die »Sicherheit und Ordnung«, also den kapitalistischen Nationalstaat, definiert. Daher betreffen die Kontrollen vor allem migrantisch Gelesene, Linke und arme Bewohner*innen der Eisenbahnstraße und anliegender Straßen. Auch kommt es immer wieder zu Polizeigewalt und den damit einhergehenden psychischen Folgen für Betroffene. Für diese Leute ist dann die Polizei die größte Gefahr, weil sie nicht mehr ohne Angst vor Repression über die Eisenbahnstraße laufen können.

Und das stellt dann eine Form von struktureller Gewalt dar, die polizeilich überhaupt nicht in den Blick genommen, sondern von ihr stabilisiert wird.

Anstatt die Lösung für soziale Probleme im Gefahrenabwehr- und Strafrecht zu suchen und die Befugnisse und Ressourcen der Polizei immer mehr auszuweiten, wäre es notwendig ein Gesamtkonzept "Sozioökonomische Sicherheit" vorzulegen. Dieses sollte vor allem die Sicherheit derer in den Blick nehmen, die von gesellschaftlicher Ausgrenzung und diskriminierender Gewalt betroffen sind. Dazu gehört aber auch die gerechte Verteilung des Vermögens, ein Ende der restriktiven Asylpolitik und eine gesundheitspolitische Betrachtung von Sucht und Konsum, um sehr viel der »Kriminalität« den Boden zu entziehen.

Während den zwei Jahren, seit denen es die Waffenverbotszone nun gibt, gab es wiederholt Personalwechsel in der Leipziger Polizei. Im Februar 2019 ging der langjährig Polizeichef Bernd Merbitz in Ruhestand und übergab den Staffelstab an Torsten Schultze(1), der noch während seiner von internen Skandalen geprägten zweijährigen Probezeit im Januar 2021 das Handtuch werfen musste. Der neue Polizeichef René Demmler ist seitdem im Amt. Was erwartet ihr vom neuen Polizeipräsidenten?

Wir sind der festen Überzeugung, dass sich gesellschaftliche Probleme nur ohne Polizei lösen lassen. Das System Polizei hat seine eigene Logik und die einzelnen Personen nur recht wenig Einfluss auf die Dynamiken und Funktionsweisen. Deshalb haben wir auch keine großen Erwartungen an den neuen Polizeipräsidenten.

Trotzdem fordern wir, dass er sich nachhaltig mit den vielfältigen Polizeiproblemen (Korruption, Racial Profiling, Polizeigewalt, Sexismus, Nazis) innerhalb seiner Behörde auseinandersetzt. Auch muss die willkürliche Repression gegen Linke eingestellt und fatalen Einsatzstrategien bei Demos von Coronaverschwörungsideolog*innen und Nazis in Leipzig evaluiert werden. Dies könnte zumindest dazu beitragen, dass der unerträgliche Status Quo aufgebrochen wird und sich dadurch die Lebenssituation einiger Menschen verbessert.

Unter dem Slogan "Abolish the Police" wird vor allem in den USA als Antwort auf die Kontinuität rassistischer Morden durch Polizist*innen die Abschaffung der Polizei gefordert. Die Forderung klingt resolut, aber auch sehr optimistisch. Die Kehrseite der Aufhebung des Gewaltmonopols sowie deren Durchsetzung des Gesetzes kann Selbstjustiz und Willkür sein. Die Gewalt und deren soziale Ursachen verschwinden ja nicht. Welche alternativen Konzepte gibt es, die eine progressive Antwort auf die Probleme des Konzepts Polizei sind, aber rechtstaatliche Prinzipien, z. B. der Unschuldsvermutung und Verhältnismäßigkeit, sind sowie den Verzicht auf Selbstjustiz berücksichtigen?

Die Polizei ist nur ein Ausdruck des Gewaltmonopols des Staates, eine Institution, die im 19. Jahrhundert die Aufgabe und Befugnis »Gewaltanwendung« bekommen hat. Ihre Abschaffung ist deshalb nicht gleichbedeutend mit der Aufhebung des Gewaltmonopols. Auch die Unschuldsvermutung und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit sind nicht untrennbar mit der Polizei verbunden, sondern mit dem Rechtsstaatsprinzip.

Uns ist bewusst, dass die Polizei nicht von heute auf morgen abgeschafft werden kann und dann alle Probleme magisch verschwinden. Es ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Dies schließt zum Beispiel die Überwindung sozialer Ungleichheit ein, die oft der Grund für das Begehen von Straftaten ist. Einige Straftatbestände wie Fahren ohne Ticket, Drogenbesitz oder Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht lassen sich einfach entkriminalisieren. So würden Folgestraftaten entfallen, die sich aus dieser Art der Kriminalisierung ergeben.

Gewaltdelikte kommen bei Gesamtbetrachtung aller Straftaten auch insgesamt am wenigsten vor. Auch hier sind präventive Sozialarbeit und Konzepte der Wiedergutmachung ("transformative justice") effektivere Mittel als die Strafverfolgung durch die Polizei.

Für Ausnahmesituationen wie Terror- oder Amoklagen ist mittelfristig auch die Einrichtung einer bewaffneten Einheit denkbar. Diese muss sich aber grundlegend und insbesondere namentlich von der Polizei unterscheiden. Eine solche Einheit sollte nicht proaktiv handeln, sondern nur zum Einsatz kommen, wenn sie gerufen wird. Sie muss zudem demokratisch organisiert und kontrolliert werden, um den Korpsgeist und autoritäre Tendenzen zu brechen.

Wie die Abschaffung der Polizei und die Ersetzung mit anderen Mechanismen zur Herstellung von »Sicherheit« und »Gerechtigkeit« aussehen könnte, haben wir auf unserem Blog als Begleitung zu unserer Veranstaltungsreihe "hier und jetzt: Solidarität statt Polizei" aufgeschrieben: https://copwatchleipzig.home.blog/2021/04/23/ein-konzept-zur-abschaffung-der-polizei-in-deutschland/

Anmerkungen

(1) Torsten Schultze trat seinen Dienst als Leipziger Polizeipräsident im Januar 2019 an. Während seiner Amtszeit wurde öffentlich, dass eine Polizistin der Direktion Leipzig jahrelang von der Polizei sichergestellte geklaute Fahrräder über einen Kleingartenverein unter anderem an Kolleg*innen weiterverkauft haben soll. Dies führte noch im Februar 2021 zu der kuriosen Episode, dass Polizist*innen aus Dresden eine Razzia beim Plagwitzer Polizeiposten in der Weißenfelser Straße sowie in Privatwohnungen beschuldigter Polizist*innen durchführten. – Zu Silvester 2020 kam es zu Ausschreitungen am Connewitzer Kreuz, bei denen einem am Boden liegenden Polizisten gegen den Kopf getreten wurde. Die Kommunikation der Polizei um den Zustand des Polizisten und des Tathergangs war von Widersprüchen geprägt. Der Pressesprecher Andreas Loepki kommentierte den Vorfall zudem auf seinem privaten Twitter-Account und musste, wie auch sein Kollege Uwe Voigt, seinen Hut nehmen.

23.06.2021
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