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Aktuelles Heft

INHALT #266

Titelbild
Distanzierung
• das erste: Die islamistische Rechte. Teil 2: Türkische Massenbewegungen und Staatsislamismus
• inside out: Presserat spricht Missbilligung gegen Leipziger Volkszeitung Online aus
• interview: Interview mit CopWatch Leipzig zur Waffenverbotszone und zur Polizei
• review-corner buch: Frauenzwangsarbeit in Markkleeberg
• kulturreport: Frech frech frech.
• position: Das ewige Rauschen wird zum Dröhnen
• position: Mivtza Shlomo – Operation Salomon
• doku: Waffenarsenal in Nordsachsen
• das letzte: Gegendarstellung

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Die islamistische Rechte. Teil 2: Türkische Massenbewegungen und Staatsislamismus

Erläuterung

Der vorliegende Text ist der zweite Teil einer Serie über die islamistische Rechte. Er liefert eine grundlegende Darstellung zu Ideologie, Struktur und operativer Praxis verschiedener AkteurInnen des türkischen Rechtsislamismus in Deutschland. Da hierfür die Türkei eine maßgebliche Rolle spielt, werden die zentralen innertürkischen Entwicklungen in den Artikel miteinbezogen.

Die Übersicht über Formen des türkischen Rechtsislamismus schließt an den vorangegangenen Text über die Strukturen der Muslimbruderschaft in Deutschland an. Das Kadernetzwerk der Bruderschaft entwickelte unter ihrer Leitfigur Yusuf al-Qaradawi die gesellschaftspolitische Strategie des legalistischen Islamismus. Die hier thematisierte Massenbewegung Millî Görüş, wie auch die deutsche Dependenz des türkischen Staatsislamismus DİTİB, stehen unter starkem ideologischen Einfluss der Bruderschaft. Der türkische Staatsislamismus, vertreten durch die staatliche Religionsbehörde Diyanet, ist unter der AKP-Regierung zu einem treiben Faktor globaler rechtsislamistischer Bestrebungen geworden. Der Text zeichnet die entscheidende Rolle der Entwicklungen der Türkei für die Herausbildung dieser Organisationen in der Bundesrepublik nach und beleuchtet, wie sich der türkische Rechtsislamismus und die Muslimbruderschaft gemeinsam organisieren.

Diese Problematisierung ist als ein Aufruf zu verstehen, sich der Ausbreitung der islamistischen Rechten durch Recherche und Aufklärung und nicht zuletzt durch eine emanzipatorische, antifaschistische Praxis entgegenzustellen.

Hintergrund: Türkischer Laizismus gegen türkischen Islamismus

Für die Entwicklung des türkisch geprägten Rechtsislamismus in der Bundesrepublik sind die innenpolitischen Spannungen der Republik Türkei zwischen Laizismus und islamistischer Oppositionsbewegungen von entscheidender Bedeutung. Die Republik Türkei unter Kemal Atatürk verstand sich bei ihrer Gründung 1923 als laizistisch. Sie grenzte sich bewusst von ihrem Vorgängerstaat, dem Osmanischen Reich ab, in dem religiöse Zugehörigkeit zuletzt bereits eine schwindende Rolle im Staatsbürgerrecht gespielt hatte. Der Islam war in der Republik nicht mehr Staatsreligion und das zunächst nominell als Ehrenwürde weitergeführte Kalifat wurde abgeschafft. Die in der jungen Türkei noch einflussreichen Netzwerke der mystischen Sufibruderschaften wurden verboten und aufgelöst, alle Moscheen des Landes verstaatlicht.(1) Ein Jahr nach der Gründung der modernen Türkei hatte der kemalistische Staat alle religiösen Befugnisse dem neu geschaffenen Nationalen Erziehungsministerium unterstellt. 1961 ging diese Kompetenz an das speziell eingerichtete Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı), kurz Diyanet über.(2) Diyanet sollte ein laizistisches Religionsmodell etablieren. Dies schuf die in der islamischen Geschichte völlig neuartige Situation eines durch die Regierung gelenkten religiösen Monopols innerhalb eines modernen Nationalstaates.

Die beiseite gedrängten Sufibruderschaften wollten sich jedoch nicht mit ihrem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust abfinden. Aus ihren Reihen formierten sich antilaizistische Erneuerungsbewegungen. Die erfolgreichste dieser Bewegungen ist die Millî Görüş-Bewegung, von Necmettin Erbakan. Millî Görüş (dt. Nationale Sicht) stand unter dem ideologischen Einfluss der Muslimbruderschaft und entwickelte sich schon in 1970er Jahren zu einer Massenbewegung mit zunehmendem Einfluss auf die türkische Gesellschaft und Politik.

Die kemalistischen Eliten stellte dies vor ein Problem: Wenn der Einfluss des Islamismus auf die Diyanet wüchse, wäre der Laizismus in Gefahr. Millî Görüş würde das Präsidium für Religionsangelegenheiten dann entgegen seines ursprünglichen Zwecks zum Aufbau eines islamistischen Staates nutzen können. Aus diesem Grund kam es im 20. Jahrhundert wiederholt zu Militärputschen gegen islamistische Regierungen. Zuletzt im Jahr 1997 gegen die Regierung unter dem mittlerweile zum Ministerpräsidenten aufgestiegenen Millî Görüş-Gründers Necmettin Erbakan.

Zeitgleich gewann die Millî Görüş-Bewegung auch in Deutschland immer mehr AnhängerInnen innerhalb der wachsenden türkischen Community. In den 1980er Jahren war sie zu einer Massenbewegung angewachsen. Ihren Einfluss unter religiös gesinnten TürkInnen versuchten die kemalistischen Eliten der Türkei durch die Etablierung einer Zweigstelle Diyanets in Deutschland zurückzudrängen. Im Jahr 1984 gründete Diyanet die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği), kurz DİTİB. Die DİTİB verfügt heute verschiedenen Schätzungen zufolge über etwa 800.000 Mitglieder und ein Umfeld von etwa 200.000 weiteren Personen. Mit einer Anhängerschaft von bis zu einer Million Personen und rund 900 Mitgliedsvereinen ist sie damit der bei weitem größte islamische Dachverband Deutschlands.(3) Sie ist aber keine unabhängige deutsche Institution, sondern eine Dependenz der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Auch die deutschen Verwaltungsorgane DİTİBs werden von Diyanet kontrolliert.(4) Mitspracherecht gibt es kaum und reformorientierte Mitglieder können sich nicht gegen die etablierten antidemokratischen Strukturen des Verbands durchsetzen. 2018 trat deshalb der gesamte Vorstand des Landesverbandes Niedersachsen, sowie der Vorstand seines Landesjugend- und Frauenverbandes geschlossen zurück und gründete einen eigenen Verband.(5) Wie für die Diyanet gilt auch für DİTİB: Wer die türkische Regierung kontrolliert, bestimmt die Richtung des Verbandes. Dabei ist der Einfluss der Diyanet in Deutschland heute nicht mehr nur auf DİTİB beschränkt.

Türkischer Staatislamismus: Diyanet und DİTİB

Seit 2002 regiert die der Millî Görüş-Bewegung entstammende und der Muslimbruderschaft nahestehende AKP unter Recep Tayyip Erdoğan die Türkei.(6) Die rechtsislamistische Regierung konnte sich durch umfangreiche Säuberungen in Militär, Justiz, Polizei und Zivilverwaltung erstmals langfristig an der Macht halten. Die AKP betreibt seitdem einen konsequenten Ausbau zu einem autoritären Staat. Ein wichtiges Werkzeug hierfür ist die türkische Religionsbehörde. Im Zuge des Übergangs von einem parlamentarischen zu einem präsidentiellen Regierungssystem ist Diyanet seit 2018 der parlamentarischen Kontrolle entzogen und dem Präsidialamt unterstellt – und damit der direkten Kontrolle Erdoğans. So schließt sich gewissermaßen ein Kreis, denn Diyanet galt bereits in den 1990er Jahren als eine der ersten islamistisch unterwanderten staatlichen Institutionen. Ihr hauseigener Verlag verlegte türkische Übersetzungen rechtsislamistischer VordenkerInnen der Muslimbruderschaft wie Hasan al-Banna und Sayyid Qutb. Diese Werke wurden schon vor der Regierungsübernahme der AKP auch in deutschen DİTİB-Buchhandlungen vertrieben.(7)

DİTİB-Moscheen fielen dementsprechend in den vergangenen Jahren durch ihre politische Positionierung im Sinne einer kritiklosen Unterstützung der türkischen Regierung auf. Sie folgen der AKP-Linie auch hinsichtlich der Kooperation mit der Muslimbruderschaft: 2013 zeigten DİTİB-AnhängerInnen bei den so genannten »Rabia-Protesten« gemeinsam mit Angehörigen von Millî Görüş ihre Unterstützung für die ägyptische Muslimbruderschaft. DİTİB, Diyanet und Millî Görüş organisierten 2016 gemeinsam die Auftaktveranstaltung zu einem neuen »Fatwa-Ausschuss Deutschland«.(8) Am europäischen Fatwa-Ausschuss European Council for Fatwa and Research der Muslimbruderschaft nehmen wiederum regelmäßig Vertreter von Diyanet teil.(9)

Hier zeigt sich: War die DİTİB in Deutschland zunächst der laizistisch aufgebaute Gegenspieler der Millî Görüş-Bewegung, befindet sich der Verband heute unter dem Einfluss der islamistischen türkischen Regierung auf einer Linie mit dem deutschen Zweig von Millî Görüş und der Muslimbruderschaft.

Rechtsislamistische Massenbewegung: Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG)

Der eingetragene Verein Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) ist ein deutscher Ableger der gleichnamigen Bewegung, aus der auch die AKP hervorgegangen ist. Millî Görüş geht auf den erwähnten türkischen Islamisten Necmettin Erbakan zurück und wird seit den 1970er Jahren als türkische Variante der Muslimbruderschaft angesehen. Erbakan selbst gilt von Hasan al-Banna, Abu Ala al-Maududi und Sayyid Qutb, den wichtigsten VordenkerInnen der ägyptischen Muslimbruderschaft, beeinflusst.(10) Wie die Muslimbruderschaft setzt Millî Görüş auf eine legalistische Strategie zur Errichtung eines Islamischen Staates. Necmettin Erbakan benutzte hierfür seit den 1980er Jahren den oberflächlich, nicht aber inhaltlich abweichenden Begriff der Gerechten Ordnung.(11) Durch die Implementierung des Islams, der von Erbakan als ein einheitliches System, anhand dessen alle Fragen des privaten, gesellschaftlichen und politischen Lebens organisiert werden müssen, verstanden wurde, soll ein neuer Staat errichtet werden. Dieses Vorhaben fasst die deutsche IGMG in ihrer Vereinshymne zusammen:
»Koran und Sunna zum Führer erkoren, ihren Glauben als die beste Möglichkeit erkannt, Überbringer der guten Nachricht, dass schon mit einer Blüte der Frühling beginnt: (Das ist die) Islamische Gemeinschaft Millî Görüş«.(12)

Der Einfluss von Millî Görüş in der Türkei

Islamistische Parteien waren in der Türkei lange Zeit illegal, eine entsprechende Betätigung zog strafrechtliche Konsequenzen nach sich. Parteien aus dem Millî Görüş-Spektrum wurden immer wieder verboten, gründeten sich aber jedes Mal unter anderem Namen neu. Ihre Mitglieder waren vielfach Haftstrafen und Betätigungsverboten ausgesetzt. Den Siegeszug trat Millî Görüş in der Türkei erst in den 1990er Jahren an, als Necmettin Erbakan von 1996 bis zum Putsch und einem erneuten Parteiverbot 1997 Ministerpräsident war. 2001 bildete sich als neue islamistische Partei die AKP unter Erbakans politischen Ziehsohn, dem jungen und charismatischen Recep Tayyip Erdoğan. Der alternde Erbakan und dessen neugegründete Partei büßten an Bedeutung ein, bis er im Jahr 2011 verstarb. Kritische BeobachterInnen warnten seit der Regierungsübernahme der AKP vor dem islamistischen Potenzial der neuen Millî Görüş-Partei. Dennoch gelang es Erdoğan lange Zeit seine Partei als gemäßigt und demokratisch darzustellen. Heute lässt sich dieses Bild jedoch nicht mehr aufrechterhalten. Innenpolitisch nimmt die Drangsalierung der Opposition und die Abschaffung der Meinungsfreiheit und die Gleichschaltung der Medien immer drastischere Züge an.(13) Außenpolitisch zeigt sich Erdoğan als offener Unterstützer der Muslimbruderschaft in Ägypten sowie der Hamas im Gazastreifen(14) und treibt eigene militärische Interventionen sowie die enge Kooperationen mit dschihadistischen Milizen in Syrien, Libyen und Aserbaidschan voran.(15)

Millî Görüş in der Bundesrepublik Deutschland

Millî Görüş etablierte sich in den 1970er Jahren als Massenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Sie baute einige der ältesten Moscheevereine türkischer GastarbeiterInnen auf. Bereits in den 1980er Jahren spaltete sich eine später als Kalifatsstaat bekannte Gruppierung unter »Kalif« Cemaleddin Kaplan ab. Ab Mitte der 1990er Jahre zerfiel der Kalifatsstaat, als sich Mitglieder verschiedener Fraktionen gegenseitig ermordeten.(16) Endgültung von der Spaltung erholt hat sich die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş im Jahr 1995, als sie sich auf Vereinsbasis neu gründete. Die IGMG e.V. stellt heute mit dem Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland nach DİTİB den zweitgrößten islamischen Dachverband.(17) Die IGMG selbst hat etwa 31.000 Mitglieder, ihr Dachverband Islamrat vertritt bis zu 60.000 Personen.(18) Dem Islamrat gehören neben der IGMG selbst einige Organisationen aus ihrem näheren Umfeld an, etwa das Weimar Institut für geistes- und zeitgeschichtliche Fragen e.V., aus dessen Kreis die bundesweit erscheinende Islamische Zeitung herausgegeben wird.(19) Gestützt wird Millî Görüş in Deutschland zudem durch ein Netzwerk zahlreicher wirtschaftlicher Unternehmen und die Erbakan-Stiftung, die seit 2015 eine Niederlassung hierzulande besitzt.(20) Langjähriger Generalsekretär und ehemaliger Vorsitzender der IGMG war Mehmet Sabri Erbakan, ein Neffe des Millî Görüş-Gründers Necmettin Erbakan. Mehmet Sabri Erbakans Schwester, Sabiha El-Zayat ist mit dem Multifunktionär der Muslimbruderschaft und ehemaligen IGD-Vorsitzenden Ibrahim El-Zayat verheiratet. Alle drei waren in den 1990er Jahren in der Muslim Studentenvereinigung (MSV) aktiv. Ibrahim saß der Vereinigung ab 1992 vor, Mehmet Sabri Erbakan war in dieser Zeit sein Stellvertreter.(21) Das »Nachwuchsreservoir für Funktionäre des politischen Islam in Deutschland« verlegte Schriften des MB-Gründers Hasan al-Banna und war unter el-Zayat und Erbakan 1993 als Gründungsmitglied am Aufbau des Zentralrats der Muslime in Deutschland beteiligt.(22)
Die IGMG und die wichtigste Ablegerorganisation der Muslimbruderschaft, die IGD/DMG(23), sehen sich entsprechend als »Bruder-/Schwesterorganisationen«, die sich schon vor Jahren durch halbjährige gemeinsame Koordinierungstreffen eng abstimmten.(24) Die enge Kooperation mit Zweigen der arabischen Muslimbruderschaft findet Ausdruck auf verschiedensten Ebenen.(25) Die Jugendorganisation der IGMG ist gemeinsam mit der Muslimischen Jugend Deutschlands (MJD) Mitglied im Forum of European Muslim Youth and Student Organizations (FEMYSO).(26) FEMYSO und MJD werden unmittelbar dem Aktionsnetzwerk der Muslimbruderschaft zugerechnet.(27)
Hinsichtlich ihrer starken Türkeibindung blieb die IGMG ideell, personell und organisatorisch stets mit den wechselnden Millî Görüş-Parteien verbunden. Ab den 2000er Jahren orientierte sich die IGMG zunächst an der neuen Partei Saadet Partisi unter Necmettin Erbakan.(28) Zu deren Ungunsten konnte die AKP während ihrer andauernden Regierung seit 2002 innerhalb der IGMG stetig an Einfluss gewinnen.(29)

»Diyanetisierung« und der wachsende Einfluss der AKP

Heute ist die AKP in der Türkei die führende Partei im Spektrum der Millî Görüş-Bewegung. Auch in Deutschland reicht die Nähe der IGMG bis zur Abhängigkeit von der Erdoğan-Partei.(30) Seit langem wird ein größerer Teil der Imame der IGMG durch die türkische Religionsbehörde Diyanet gestellt, die Grenzen zwischen dem Staatsislamismus der DİTİB und der IGMG verschwimmen. Der ehemalige DİTİB-Justitiar Murat Kayman spricht von einer »Diyanetisierung« der IGMG. Diese »Diyanetisierung« weitet sich auf den Ülkücü-Verband ATİB (Graue Wölfe) und den Zentralrat der Muslime aus.(31) Beispielhaft für die Nähe zur AKP ist der von 1996 bis 2002 als Vorsitzender des Islamrats tätig gewesene Hasan Özdoğan. Dieser saß ab 2009 auch der Union Europäisch-Türkischer Demokraten, heute Union Internationaler Demokraten (UID) vor. Die UID ist die europäische Lobbyorganisation der AKP.(32) Diesen Posten hat mit Köksal Kuş mittlerweile, ein »Grauer Wolf« inne.(33) Die Verbundenheit zwischen IGMG und AKP reicht unmittelbar bis auf die politische Ebene. Deutsche IGMG-Funktionäre kandidierten in der Türkei als AKP-Politiker und die IGMG kooperierte über das AKP-Wahl-Koordinationszentrum für das Ausland in Deutschland verschiedentlich mit Erdoğan und seiner Partei. Die Diyanet beteiligte sich dabei als weiterer gemeinsamer Partner für Wahlkampfveranstaltungen. Abgewickelt wurde diese Kooperation jahrelang über eine weitere staatliche Stelle, dem Amt für Auslandstürken YTB.(34) Ende April 2021 reiste eine gemeinsame Delegation von hochrangigen VertreterInnen von UID, IGMG, DİTİB und ATİB nebst nahestehenden deutsch-türkischen Wirtschaftsverbänden zu persönlichen Gesprächen mit Erdoğan nach Ankara.(35)

Auf individueller Ebene repräsentiert wohl kein zweiter das Netzwerk der islamistischen Rechten so wie Mustafa Mullaoğlu. Der ehemalige Funktionär der IGMG machte als Islamgelehrter Karriere. Von der IGMG wechselte er nahtlos zur ATIB Union, dem österreichischen Pendant der DİTİB. Zeitgleich trat er als Mitglied dem oben bereits erwähnten Europan Council for Fatwa and Research (ECFR) bei, einer zentralen Organisation aus dem Aktionsnetz der Muslimbruderschaft auf europäischer Ebene. Das ECFR untersteht unmittelbar dem internationalen Chefdenker der Bruderschaft, dem in Qatar ansässigen Ägypter Yusuf al-Qaradawi. Heute ist Mustafa Mullaoğlu Mufti (Oberster Rechtsgelehrter) der Islamischen Gemeinschaft in Österreich. Diese gilt als Vertretung von sowohl der MB als des türkischen Staatsislamismus.(36)

Demokratie-Sprech und legalistischer Islamismus

Schon Ende der 1990er Jahren richtete sich IGMG mit dem Ziel einer festen Etablierung in Deutschland neu aus. Federführend im Prozess der strategischen Neuausrichtung war der erwähnte damalige IGMG-Vorsitzende und Schwager Ibrahim el-Zayats, Mehmet Sabri Erbakan. In nicht zu übersehenden Parallelen zur Muslimbruderschaft empfahl der Verband seinen Mitgliedern die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen und im bestehenden säkularen System zu wirken. Das Fernziel der islamistischen Gerechten Ordnung wurde dabei nicht aufgeben. Die Etablierung der islamistischen Herrschaftsordnung wird vielmehr nicht mehr nur für die Türkei, sondern langfristig international angestrebt.

Die IGMG verstärkte ihre Aktivitäten in der Lobbyarbeit bei staatlichen Institutionen und in der Vernetzung mit der Zivilgesellschaft. Sie bedient sich heute einer Sprache der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte. Dieser semantische Wechsel soll der IGMG neue Freiräume zum Erreichen von Etappenzielen auf dem Weg zu ihrem Fernziel der Gerechten Ordnung ermöglichen.(37) Der semantische Schwenk zu einem wohlklingenden Demokratie-Sprech soll in erste Linie KritikerInnen über die wahren Zahlen der islamistischen Rechten hinwegtäuschen.

Die Täuschung ist vielfach gelungen, im Fall der IGMG sogar mit wissenschaftlicher Rückendeckung, die der Verband durch eine, wenn auch stark kritisierte, Langzeitstudie des Ethnologen Werner Schiffauer aus dem Jahr 2010 erhielt.(38) Die theoretische Grundannahme der Studie basiert auf der »Postislamismus-These«.(39) Diese Annahme erfreute sich vor allem Mitte der 2000er Jahren Beliebtheit in akademischen Kreisen. Sie prognostizierte einen inneren Wandel islamistischer Parteien hin zu Demokratie und Pluralität. Angewandt wurde sie auf nahezu ausnahmslos alle islamistischen Phänomene der Zeit, darunter die Islamische Republik Iran und den ägyptischen Zweig der Muslimbruderschaft.(40) Die Kronzeugin des demokratischen Wandels war die AKP, in der Schiffauer selbst eine »demokratische Volkspartei« erkannte.(41) KritikerInnen beurteilen derartigen Studien als blauäugig, mitunter als bewusste Schönmalerei. Die Postislamismus-These kann mittlerweile als weitestgehend widerlegt gelten. Werner Schiffauer selbst wurde im Zuge seiner Langzeitstudie zur IGMG Vereinnahmung und mangelnde Distanz zum Forschungsobjekt vorgeworfen, wogegen ihn die Frankfurter Ethnologin Susanne Schröter zunächst in Schutz nahm.(42) Schröter hat ihre positive Einschätzung Schiffauers mittlerweile revidiert.(43) Schiffauer selbst ist heute für verschiedene Organisationen aus dem Umfeld der islamistischen Rechten tätig.(44)

Tatsächlich hat sich die IGMG weder kritisch mit Erbakan, noch mit dessen islamistischen Thesen auseinandergesetzt.(45) Bis in die Gegenwart bezieht sich der Verband positiv auf ihn und seine Ideen.(46) Die Nähe zur AKP zeigt darüber hinaus, welche Richtung der Verband für die Zukunft einschlägt. Eingereichte Klagen gegen die Einstufung der IGMG als demokratie- und verfassungsfeindlich oder gegen den Verweis auf ihre zunehmende Abhängigkeit von Ankara hat die IGMG verloren oder auf Grund von Aussichtslosigkeit selbst zurückgezogen.(47) Im Frühjahr 2021 kam es erneut zu einem Skandal, als ein Glaubenskatechismus für Frauen, der von IGMG und DİTİB vertrieben wurde für Schlagzeilen sorgte.(48) In dem Buch mit Anweisungen zum schariakonformen Leben wurde unter anderem die körperliche Züchtigung der Ehefrau empfohlen und zur Tötung von KritikerInnen Muhammads und des Islams aufgerufen.(49)

Ausblick

Die Millî Görüş-Bewegung ist die erfolgreichste rechtsislamistische Bewegung der Türkei. Mit der AKP unter Erdoğan etablierte sie den derzeitigen türkischen Staatsislamismus. Die türkische Religionsbehörde Diyanet ist seither ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung dieses Staatsislamismus. Über sie arbeitet die AKP-Regierung im Ausland eng mit verschiedenen Zweigen der Muslimbruderschaft zusammen. In Deutschland hat sich auf diese Weise eine enge Partnerschaft zwischen dem deutschen Millî Görüş-Zweig IGMG, DİTİB und dem Kadernetzwerk der Muslimbruderschaft entwickelt. Einen vorläufigen Höhepunkt fand diese Zusammenarbeit im II. Treffen der europäischen Muslime im Januar 2019 in der DİTİB-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeldt, einer Moschee, die erst im Jahr zuvor von Erdoğan persönlich eröffnet wurde. Unter Federführung von DİTİB und Diyanet koordinierten VertreterInnen von IGMG und dem Aktionsgeflecht der Muslimbruderschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit zusammen ihr zukünftiges Vorgehen. So wurde die Gründung eines gemeinsamen Gremiums beschlossen, das zukünftig alle zwei Jahre zur Intensivierung der Zusammenarbeit, Planung und Umsetzung gemeinsamer Beschlüsse zusammentreten soll.(50) Wie und ob das Gremium 2021 angesichts der anhaltenden SARS-CoV-2-Pandemie zusammentreten wird, ist offen. Seine Gründung weist nichtsdestotrotz den Weg in Richtung einer weiteren Institutionalisierung der islamistischen Rechten - einer politischen Strömung, die ihre Kräfte nicht mehr nur ideologisch, sondern zunehmend auch organisatorisch bündelt.

Der dritte Teil der Serie wird sich in der kommenden Ausgabe mit der Rolle der besser als Graue Wölfe bekannten Ülkücü-Bewegung als weiterem Element dieser Konfiguration beschäftigen.


Basisgruppe Recherche Ost

Anmerkungen

(1) Ursula Spuler-Stegemann: Die Stellung des Islams und des islamischen Rechts in ausgewählten Staaten, 1. Türkei, in: Werner Ende/Udo Steinbach (Hgg.): Der Islam in der Gegenwart, Bonn 2004, 232f.,
(2) Ebd., S. 238-243.
(3) Alle Zahlen zu MuslimInnen in Deutschland beruhen auf Schätzwerten, da es keine statistische Erfassung gibt. Die offiziellen Mitgliederzahlen eingetragener Moscheeverbände (150.000 Personen im Falle DİTİBs) repräsentieren nicht die tatsächliche Zahl der mit dem Verein affiliierten Personen, die häufig um ein Vielfaches höher liegt. Vgl. Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst: Mitgliederzahlen: Islam, Onlinequelle: https://www.remid.de/info_zahlen/islam, [17.05.2021].
(4) Edmann Eißler: Islamische Verbände in Deutschland. Akteure, Hintergründe, Zusammenhänge, Berlin 2019, S.31f. sowie 35f.
(5) https://www.mj.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/vertrag-mit-ditib-ueber-seelsorge-in-gefaengnissen-wird-gekuendigt-173378.html, [17.05.2021].
(6) Siehe Abschnitt zu Millî Görüş.
(7) Nils Feindt-Riggers; Udo Steinbach: Islamische Organisationen in Deutschland. Eine aktuelle Bestandsaufnahme, 1997, S. 17.
(8) Fatwa: Islamisches Rechtsgutachten, erstellt durch einen Rechtsgelehrten anhand des religiösen islamischen Rechts, der Scharia. Eine Fatwa hat keine einklagbare Rechtsgültigkeit, dient den Gläubigen aber als Orientierung.
(9) Eißler: Islamische Verbände, S. 44f.
(10) Ebd. S. 57.
(11) Zur komplexen Begriffsentwicklung von Adil Düzen siehe: Ebd. S. 73ff.
(12) Zitiert nach: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2015, S. 83.
(13) https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-meinungsfreiheit-weitgehend-ausgehebelt-a-0ae592f9-a085-445b-91fe-e47e2ccfcc91, [17.05.2021].
(14) https://www.mena-watch.com/erdogan-gruesst-muslimbruderschaft/, [17.05.2021].
(15) https://jiss.org.il/en/yanarocak-spyer-turkish-militias-and-proxies/, [17.05.2021].
(16) https://www.sueddeutsche.de/politik/hintergrund-kalifatsstaat-1.432621, [17.05.2021].
(17) Matthias Rohe: Muslime in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München 2018, S. 141-144.
(18) Remid: https://www.remid.de/info_zahlen/islam, [17.05.2021].
(19) Eißer: Islamische Verbände, S. 59f.
(20) Ebd. S. 64.
(21) Udo Steinbach: The Muslim Brotherhood in Germany, in: Barry Rubin: The Muslim Brotherhood. The Organization and Policies of a Global Islamist Movement, New York 2010, S. 155.
(22) Stefan Meining: Eine Moschee in Deutschland. Nazis, Geheimdienste und der Aufstieg des politischen Islam im Wesen, München 2011, S. 161f.
(23) Siehe CEE IEH #265, https://www.conne-island.de/nf/265/3.html, [17.05.2021].
(24) Vgl. Eißler: Islamische Verbände, S. 82.
(25) Ebd. S. 80-83.
(26) Remid: https://www.remid.de/info_zahlen/islam, [17.05.2021].
(27) Lorenzo Vidino: Die Eroberung Europas durch die Muslim-Bruderschaft, https://www.meforum.org/758/die-eroberung-europas-durch-die-muslim, [17.05.2021].
(28) Riggers; Steinbach: Islamische Organisationen, S. 21f.
(29) Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg: Aufsplitterung der „Milli-Görüs“-Bewegung in Deutschland, Onlinequelle: https://www.verfassungsschutz-bw.de/LfV3,Lde_DE/Startseite/Arbeitsfelder/Aufsplitterung+der+_Milli_Goerues_Bewegung+in+Deutschland, [17.05.2021].
(30) Joachim Frank: Islamische Gemeinschaft Milli Görüs zieht Klage gegen Volker Beck zurück, Onlinequelle: https://www.ksta.de/politik/islamische-gemeinschaft-milli-goerues-zieht-klage-gegen-volker-beck-zurueck-31951114, [17.05.2021].
(31) http://murat-kayman.de/2018/04/04/grosse-erwartungen-falsche-voraussetzungen/, [17.05.2021].
(32) Eißer: Islamische Verbände, S. 43f.
(33) https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/akp-graue-woelfe-koeln-101.html, [17.05.2021].
(34) Berivan Aymaz; Sigrid Beer: Organisierte die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG) in Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung Jugendreisen in die Türkei auch aus NRW heraus?, Onlinequelle: https://gruene-fraktion-nrw.de/parlament/organisierte-die-islamische-gemeinschaft-milli-goerues-e-v-igmg-in-zusammenarbeit-mit-der-tuerkischen-regierung-jugendreisen-in-die-tuerkei-auch-aus-nrw-heraus/, [17.05.2021].
(35) İletişim Başkanlığı: Cumhurbaşkanı Recep Tayyip Erdoğan, Avrupa'daki bazı Türk sivil toplum kuruluşu temsilcilerini kabul etti., Onlinequelle: https://www.iletisim.gov.tr/turkce/haberler/detay/cumhurbaskani-erdogan-avrupadaki-bazi-turk-sivil-toplum-kurulusu-temsilcilerini-kabul-etti, [17.05.2021].
(36) Vidino, Lorenzo: The Muslim Brotherhood in Austria, Wien 2017, S. 26f.
(37) Vgl. Eißler: Islamische Verbände, 70ff.
(38) Werner Schiffauer: Nach dem Islamismus – Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs. Eine Ethnographie, Berlin, 2010.
(39) Asef Bayat (Hrsg.): Post-Islamism. The changing faces of Political Islam, Oxford, 2012, Olivier Roy: Le Post-Islamisme, in: Revue du Monde Musulman et de la Méditeranée, Aix-en-Provence, 1999.
(40) Asef Bayat: Post-Islamism: The Changing Faces of Political Islam, Oxford 2013.
(41) Werner Schiffauer: Nach dem Islamismus – Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, S. 149.
(42) Susanne Schröter: Pflichtlektüre für den Verfassungsschutz, Onlinequelle: https://de.qantara.de/inhalt/werner-schiffauer-nach-dem-islamismus-pflichtlekture-fur-den-verfassungsschutz-0, [17.05.2021].
(43) Susanne Schröter: Politischer Islam. Stresstest für Deutschland, Gütersloh, 2019, S. 135-147.
(44) Auf Schiffauers Lobbyarbeit für die islamistische Rechte wird in einer kommenden Ausgabe des CEE IEH genauer Bezug genommen werden.
(45) Thomas Schmidinger: Über die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, Onlinequelle: https://www.bpb.de/mediathek/301975/dr-thomas-schmidinger-ueber-die-islamische-gemeinschaft-milli-goerue-igmg, [17.05.2021].
(46) Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg: Verfassungsschutzbericht 2019, S. 80ff.
(47) https://www.presseportal.de/pm/66749/4178065, [17.05.2021].
(48) Manfred Maurer: Amazon bannt islamistisches Buch, Onlinequelle: https://volksblatt.at/amazon-bannt-islamistisches-buch/, [17.05.2021].; Aus für Buch mit islamistischen Aussagen, Onlinequelle: https://volksblatt.at/aus-fuer-buch-das-gewalt-in-ehe-und-mord-an-islam-kritikern-propagiert/, [17.05.2021].
(49) Zitiert nach ebd.: »Jemand der den Propheten beschimpft, beleidigt oder seine Religion in irgendeiner Weise schlechtmacht, muss getötet werden. Wenn er Buße tut und Reue zeigt, wird zwar seine Reue von Allah angenommen, er muss trotzdem getötet werden.«
(50) Bundesregierung: Drucksache 19/8167. DITIB, Diyanet und die Islamkonferenz in Köln, Berlin 2019.

23.06.2021
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