• Titelbild
• Editorial Nr. 2021
• das erste: OMG Katja
• inside out: Die Unterstützungsgruppe stellt sich vor
• inside out: Die U-Gruppe sucht Verstärkung
• neues vom: Neues vom ... Viertel
• position: Conne Elend: Ein Abgesang
• review-corner event: »Nikol, du bist ein Verräter!«
• doku: Fuck the Family
• doku: Positionierung der Radicals Crew
• doku: »Antisexistische Arbeit ist in erster linie auch ganz viel frustrierende Arbeit«
• leserInnenbrief: Zeichen pflastern die Misogynie
• das letzte: Sachsen seucht sich weg
44 Tage dauerte der neue Krieg zwischen Aserbaidschan und der nicht anerkannten, von Armenien unterstützten armenischen Republik Arzach in Bergkarabach. Die im Ersten Karabach-Krieg 1992-1994 von Armenien unter Kontrolle gebrachten Gebiete wurden erneut umkämpft.(1)
Als am 10. November 2020 in einer gemeinsamen Erklärung von Armenien, Aserbaidschan und Russland – die Republik Arzach wurde gar nicht erst als Verhandlungspartner zugelassen – der faktische Sieg der aserbaidschanischen Seite festgehalten wurde, begannen in Armenien spontane Proteste. Noch in derselben Nacht versammelten sich Hunderte vor dem Regierungsgebäude in Jerewan. Die Polizei hinderte sie nicht daran, in das Gebäude einzudringen und die Büroräume des Regierungschefs Nikola Paschinjan zu durchsuchen. Paschinjan hatte wohl Glück, dass er sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Gebäude befand. Den Parlamentssprecher Ararat Mirsojan zerrten die Protestierenden vor den Augen der Polizei aus seinem Auto und schlugen ihn krankenhausreif.
Am 11. November griffen Demonstrant*innen die Räume der Stiftung Open Society von George Soros an. Sie riefen dabei verschwörungstheoretische Parolen und verwüsteten die Räumlichkeiten. Der Slogan der seitdem nicht abbrechenden Proteste lautet »Nikol, du bist ein Verräter!«
In dem in Moskau unter der Vermittlung des russischen Präsidenten Wladimir Putin unterschriebenen Abkommen wird Aserbaidschan nicht nur die Kontrolle über alle im Krieg wiedereroberten Gebiete der umstrittenen Region Bergkarabach, sondern auch über etliche weitere Territorien zuerkannt. Zudem muss Armenien eine freie Straßenverbindung zwischen dem Hauptgebiet von Aserbaidschan und der Exklave Nachitschewan durch das eigene Territorium gewährleisten. Damit bekommt Aserbaidschan die langersehnte Direktgrenze zu seinem Hauptverbündeten, der Türkei.
Die neue armenische Protestbewegung wirft dem Regierungschef Paschinjan nun vor, die nationalen Interessen verraten zu haben. Noch während um die strategisch wichtige Stadt Schuscha (armenisch: Schuschi) gekämpft wurde, soll er in Moskau über ihre Räumung verhandelt zu haben. Auf Paschinjans Erklärungen, die Lage sei militärisch aussichtslos gewesen und jeder weitere Tag Krieg hätte noch mehr Gebietsverluste eingebracht, reagiert die wachsende Menge der Protestierenden mit Forderungen nach sofortigem Rücktritt.
Paschinjan: friedlicher Revolutionär und kriegerischer Patriot
Als 2018 Nikol Paschinjan durch die friedlichen Proteste gegen die fast zwanzig Jahre regierende Republikanische Partei (RPA) an die Macht kam, demonstrierten wesentlich mehr Leute für ihn als heute gegen ihn. Damals gingen weite Teile der Bevölkerung auf die Straße.(2) Seine auf die Schnelle zusammengestellte Wahlliste Mein-Schritt-Allianz gewann die Parlamentswahlen haushoch mit 70,4%. Sein Programm bestand hauptsächlich aus der Bekämpfung der Korruption durch die unerbittliche Verfolgung der vorherigen Regierungskräfte. Der Bevölkerung versprach er eine unternehmerfreundliche Politik, Rentenerhöhungen und Steuersenkungen. Kapitalismus ohne Korruption = sozialer Kapitalismus, schien die Formel der neuen Regierung zu sein. Spekuliert wurde über seine außenpolitischen Pläne, zu denen er zuvor kaum Angaben machte. Einerseits galt Paschinjan als prowestlicher als seine Vorgänger, andererseits wollte er keinen Bruch mit Russland. Die RPA-Regierung wurde von den Armenier*innen aus Karabach angeführt und pflegte ein Hardliner-Image in der Karabach-Frage. Paschinjan hielt sich erst bedeckt, später besuchte er die Republik Arzach und äußerte sich dort im panarmenischen Sinne: Karabach gehöre zu Armenien und es stünden keine Gebiete für die Rückgabe an Aserbaidschan zur Verfügung. Vermutlich wollte er dadurch die Opposition im eigenen Land beruhigen. Danach waren jedoch alle Aussichten auf neue Verhandlungen mit Aserbaidschan vom Tisch.
Aserbaidschan hat über zehn Millionen Einwohner*innen, Armenien etwa drei Millionen. Das erdölreiche Aserbaidschan verfügt über ein Militärbudget, das höher ist als das gesamte armenische Staatsbudget. Aserbaidschan bezieht modernste Waffen aus der Türkei, Israel und Russland und ist ein wichtiger Handelspartner vieler westlicher Länder, nicht zuletzt für die Bundesrepublik. Vor diesem Hintergrund war die armenische Perspektive im Falle eines erneuten bewaffneten Konflikts sehr düster.
Der Krieg war deshalb genauso wenig überraschend wie die armenische Niederlage. Weder Russland, mit dem Armenien über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) verbunden ist, noch die EU oder die NATO-Partner der Türkei haben Armenien vor der Niederlage gerettet. Paschinjan wollte mit Nationalstolz punkten und hat nun die Wut der Nationalisten gegen sich.
»Wer Nikol erschießt ist ein Nationalheld!«
Neben den enttäuschten Paschinjan-Wähler*innen spielen die oppositionellen Parteien, von denen keine eine Massenbasis vorweisen kann, bei den Protesten eine wichtige Rolle. Dazu zählt die zweitstärkste Kraft im Parlament, die konservative Partei Blühendes Armenien (BHK) des Oligarchen Gagik Zarukjan. Heute der reichste Parlamentsabgeordnete, wurde Zarukjan zur Sowjetzeit wegen Vergewaltigung und Raub verurteilt. In den 1990er Jahren wurde er zu einem der mächtigsten Unternehmer des Landes, doch im Juni 2020 entzog man ihm seine parlamentarische Immunität. Am 25. September wurde der Oppositionsführer verhaftet – aktuell laufen Ermittlungen wegen Bestechung im Wahlkampf gegen ihn. Zarukjan gilt als pro-russisch, seine Partei kritisiert Paschinjans Kokettieren mit der EU.
Obwohl seit 2018 im Parlament nicht mehr vertreten, ist auch die linksnationalistische Daschnakzutjun, eine der ältesten Parteien Armeniens,(3) an vorderster Front bei den Protesten dabei. Sie wirft Paschinjan vor, lediglich Freiwillige nach Karabach geschickt, anstatt eine totale Mobilmachung befohlen zu haben.
Insgesamt einigten sich 17 Parteien – darunter die erst vor zwei Jahren entmachtete RPA – auf die Forderung nach dem Rücktritt von Paschinjan und nach sofortigen Neuwahlen. Als gemeinsamen Kandidaten für Paschinjans Nachfolge stellten sie Wasgen Manukjan auf. Der 74-jährige Physiker hat dieses Amt schon einmal bekleidet und ist vor allem als Verteidigungsminister während des ersten, siegreichen Krieges gegen Aserbaidschan bekannt geworden. Heute ist er Anführer der bedeutungslosen Nationaldemokratischen Union (AZM). Noch während der Kampfhandlungen forderte er die Auflösung von Paschinjans Regierung und die Übergabe der Regierungsgewalt an die Armeeführung.
Nicht alle Gegner*innen Paschinjans setzen auf Demonstrationen und Neuwahlen. So wurden am 14. November der ehemalige Chef des Nationalen Sicherheitsdienstes und Vorsitzende der rechten Heimat-Partei Artur Wanezjan und der ehemalige Fraktionsvorsitzende der RPA Wagram Bagdasarjan verhaftet – ihnen wird vorgeworfen, einen Mordanschlag auf Paschinjan geplant zu haben. Der staatliche Gewaltapparat Armeniens gehorcht der Regierung scheinbar nur noch zum Teil. Dennoch wurden gegen die führenden Köpfe der Proteste Ermittlungen eingeleitet. So zum Beispiel gegen den Chef der sich sozialdemokratisch nennenden Partei Nationale Sicherheit,(4) Garnik Isanguljan, der öffentlich sagte: »Wer Nikol erschießt, muss zum Nationalhelden erklärt werden oder eine Million Dollar erhalten«.
Die Proteste bekamen Unterstützung von den Vertretern der Diaspora sowie der Kirchenführung. Der oberste Patriarch und Katholikos aller Armenier, Karekin II, und der Katholikos des Hohen Hauses von Kilikien, Aram I, - die wichtigste Kirchenautorität der Diaspora - schlossen sich den Forderungen nach einem Rücktritt Paschinjans an. Durch die Nachrichten gingen Bilder, wie ein Priester dem Regierungschef den Segen verweigert und ihn des Hauses verweist.
Kurz vor Jahreswechsel rückte Paschinjan von der bisherigen Haltung, seine gesetzliche Amtszeit durchzuregieren, ab und erklärte sich bereit, 2021 neue Wahlen zum Parlament abzuhalten.
Von der Mobilisierung gegen den äußeren Feind zur Suche nach dem inneren
Der verlorene Krieg hat in Armenien nicht zur Enttäuschung gegenüber nationalistischen Parolen geführt, sondern zur nationalistischen Enttäuschung von der Staatsführung. Mit besseren Eliten hätte man den Sieg über den zahlenmäßig überlegenen, aber kulturell rückständigen Feind irgendwie hinbekommen, ob militärisch oder diplomatisch. Die verlorenen Schlachten erklären sich die Wutbürger*innen von Jerewan als ein Ergebnis von Verrat und Sabotage.
Die Nationalisten*innen formulieren mit ihrer Idee der Nation kein Bild des Bestehenden, keine Beschreibung des Ist-Zustandes, sondern vielmehr einen Soll-Zustand. Es ist der Anspruch an alle anderen Bürger*innen, sich entsprechend dem Ideal zur Nation zu stellen und zu verhalten, damit man gemeinsam vorankomme. Paschinjan ist da keineswegs anders, wenn er der aufgebrachten Menge die Frage entgegen schreit, warum sie sich nicht zum Fronteinsatz gemeldet hätten.
Während des Krieges hat die armenische Seite beständig behauptet, sie kämpfe, um einen Genozid wie 1915 zu verhindern. Nun, wo die verlorenen Gebiete nach und nach unter aserbaidschanische Kontrolle gestellt werden und die armenische Bevölkerung ihre Häuser anzündet, damit dort keine Aserbaidschaner*innen einziehen können, wird die Genozid-Gefahr weniger erwähnt.(5) Dafür reden Regierung wie Opposition aber umso mehr davon, dass man sich Bergkarabach zurückholen werde. Der Anspruch auf dieses Gebiet ist nach wie vor der nationale Konsens in Armenien schlechthin. Angeheizt wird er durch das historische Narrativ, das ›eigentliche Armenien‹ sei viel größer und die heutigen Grenzen stellten bereits das Ergebnis der Dezimierung des armenischen Volkes dar. Bei aller Kritik an den Verhältnissen ist in der nationalistischen Weltsicht der Zusammenhang der Nation qua Herkunft, Kultur und Geschichte gesetzt und unterstellt. Innerhalb dessen kritisieren Nationalist*innen konstruktiv, wenn sie einen Mangel an nationalem Erfolg feststellen. Die erfolgreichen Proteste von 2018 scheinen daran nichts geändert zu haben. Die Demonstrationen von damals und heute sind gar nicht so weit von einander entfernt, wie es denjenigen erscheinen mag, die Paschinjan damals als bessere Alternative begrüßt haben.
Antimilitarismus und Antikolonialismus
Dass es in Armenien eine radikale linke Opposition gibt, die sich von der Sowjetnostalgie abgrenzt, sich als ökologisch, feministisch und klassenkämpferisch definiert, bekam man in Deutschland in den Kriegswochen durchaus mit.(6) Es erschienen mindestens zwei Antikriegserklärungen auch in deutschen Medien,(7) zudem agiert seit Juli 2020 ein Bündnis linker Basisinitiativen namens Linker Widerstand.(8) Das dazugehörige Online-Organ Sev Bibar (Schwarzer Pfeffer) ist zugleich Teil der DiEM25 um Yanis Varoufakis Progressive Internationale.(9)
Jedoch selbst die meisten explizit antiautoritären und antimilitaristischen Linken in Armenien bleiben im Rahmen der nationalen Geschichtserzählung, die armenische Ansprüche auf Karabach legitimieren soll. Nachdem Erdoğans Türkei sich hinter Aserbaidschan stellte, mag es verständlich klingen, dass der Kampf gegen die Türkei und Aserbaidschan irgendwie ›antikolonial‹ erscheint.(10) Bei der Linken im Westen trägt der Hass auf Erdogan zur mehr oder weniger offenen Sympathien mit der armenischen Seite des Konflikts.(11) Doch aus der Perspektive der aserbaidschanischen Nationalist*innen ist die armenische Präsenz in Bergkarabach ebenfalls Ergebnis einer kolonialen Praxis – nämlich der des Russischen Reiches, das im 19. Jahrhundert christliche Flüchtlinge aus Persien dort gezielt ansiedelte. Die armenische Seite verweist dann gerne auf die armenischen Spuren aus dem Altertum und Mittelalter in der Region. Doch es ist eine Geschichtsinterpretation, die die eigene Seite immer als Opfer und nie als Profiteur des Kolonialismus sieht. Zum Vergleich: Nikol Paschinjan äußerte sich positiv über den Vertrag von Sevres, der 1920 das Gebiet des Osmanischen Reiches unter der Siegermächten des Ersten Weltkrieges aufteilte.
In der nationalistischen Logik, dass bestimmtes Blut nun mal auf bestimmten Boden gehört, unterscheiden sich die Kriegsparteien von Karabach gerade nicht. Sicher hatte Armenien keine Interesse am aktuellen Kriegsausbruch – weil der durch den Sieg im vorherigen Krieg entstandener Grenzverlauf sehr zu seinen Gunsten war. Nationalismus mit antikolonialen Anstrich sollte nicht mit Kolonialismuskritik auf der Grundlage einer Nationalismuskritik verwechselt werden.
Alexander Amethystow