• Titelbild
• Editorial
• das erste: Die Wiederentdeckung des revolutionären Subjekts Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht
• inside out: Jahresbericht 2019
• sport: Wenn Skateboarding zum Sport wird.
• leserInnenbrief: Bedenke was du trinkst, mein Kind
• position: Freie Zeit mit Corona
• doku: Konzerte in Zeiten von Corona: Livebranche am Abgrund
• doku: Corona und die Ernte
• doku: Corona und der kommende Aufschwung
• doku: Antisexistische Selbstjustiz: Der Richter bist du!
• das letzte: Alleinstellungsmerkmal Herkunft
Die Enttäuschung über den Ausgang des zweiten Wahlganges war dem Titel »Wie Jung die OBM-Wahl gewann, obwohl er die meisten Stadtteile verlor« noch deutlich anzumerken. Offensiv hatte die einzige lokale Tageszeitung den CDU-Kandidaten Sebastian Gemkow im Leipziger OB-Wahlkampf durch das Schalten von Werbeanzeigen, Native Advertising, aber auch mittels eigener Berichterstattung, in welcher beispielsweise ehemalige, weit nach rechts gedriftete Parteigenossen und DDR-Bürgerrechtler mit dem Amtsinhaber »abrechneten«, unterstützt.(1) »Nur in einem Drittel der Leipziger Stadtviertel gewann Burkhard Jung (SPD) gegen Sebastian Gemkow«, heißt es dann im Artikel der Leipziger Volkszeitung (LVZ). Für sie ist klar: nicht eine Mehrzahl an Wähler/innenstimmen legitimiert das Amt, sondern die ideelle Repräsentation der Stadt. Gemkow, so der unausgesprochene, aber naheliegende Schluss, ist eigentlich der bessere Leipziger. Die Zeitung hält damit auch nach der verlorenen Wahl noch an der zentralen Wahlkampfstrategie ihres bevorzugten Kandidaten fest.
Dabei hatte noch am Abend des zweiten Wahlganges das Statement des Leipziger CDU-Kreisvorsitzenden und Beauftragten für jüdisches Leben in Sachsen, Thomas Feist, für einige Empörung gesorgt. Anstoß bot dessen Wahlwerbung für Sebastian Gemkows als einem »Leipziger« für das Oberbürgermeisteramt. Von einem LVZ-Reporter darauf angesprochen, ob jemand, der wie Amtsinhaber Burkhard Jung seit über 25 Jahren in dieser Stadt lebe, in seinen Augen kein richtiger Leipziger sei, verwies Feist auf den »schönen Spruch«: »Wenn eine Katze im Fischladen Junge bekommt, sind das dann Fische?« Amtsinhaber Jung gestand er dann zwar zu, nach 29 Jahren in der Stadt inzwischen auch Leipziger zu sein, aber eben dennoch nicht so richtig wie ein Gebürtiger, der seine Jugend hier verbracht habe. Die Geschichte Leipzigs sei älter als die letzten 29 Jahre, »gerade [!] auch die Geschichte des Verfalls im Sozialismus«, die »Friedliche Revolution« und die »Runden Tische«.(2)
Man mag Feist, der diesen Spruch einem Sketch des in der DDR beliebten, jedoch 1977 in die BRD übergesiedelten Komikers Eberhard Cohrs entnahm, glauben, über dessen Vergangenheit als Angehöriger der Waffen-SS und als SS-Rottenführer der Wachmannschaft des KZ-Sachsenhausen nicht informiert gewesen zu sein. Der Inlandsgeheimdienst der DDR selbst besaß seit 1968 eine Geheimakte zu Cohrs mit Kopien aus sowjetischen Archiven.
In den letzten Jahrzehnten fand der Spruch in Abwandlungen vor allem bei Rassist/innen Verbreitung. Auch Pegida-Gründer Lutz Bachmann twitterte im Zuge des rechtsradikalen Terroranschlags des Deutsch-Iraners David Sonboly im Juli 2016 in München: »Deutsch-Iraner? Was ist denn das? Wenn ne Katze im Fischladen Junge bekommt sind's dann ›Karthäuser-Heringe‹ oder was?«(3) Tatsächlich wurde auch das Youtube-Video einer Szene des Cohrs-Sketches, den Feist zu seiner Verteidigung gegen Rassismus-Vorwürfe bei Twitter verlinkte, in einem rechten Nutzerprofil hochgeladen.
Feist aber bezeichnete Hinweise auf die politische Heimat und den rassistischen Charakter des Spruchs als Verwirrungen und abstruse Verschwörungstheorien, bekannte: »Ich finde den Sketch nach wie vor lustig, ja, weil es ja darum geht, was sagt es über die Herkunft eines Menschen aus, ja hat das, hat wirklich die Herkunft der Eltern etwas damit zu tun, was ich bin.« und stellte damit unter Beweis, dass er es doch rassistisch meint und den Witz des Sketches überhaupt nicht verstanden hat. Denn trotz der problematischen Übertragung der Redewendung auf die Herkunft eines Menschen(4) beim Komiker Cohrs, widerlegt dieser in seiner Darbietung die semantische Aussage des Spruchs.(5)
Auch ist es ein Unterschied, ob jemand im Rahmen eines Sketches diese Aussage über die eigene Herkunft tätigt oder aber während einer zugespitzten politischen Auseinandersetzung über den rivalisierenden Kandidaten. Wenn Feist zu seiner Verteidigung obendrein behauptet, »dass jemand, der hier geboren ist, der die Eltern hier hat, einen anderen Zugang - einen anderen emotionalen Zugang - zur Stadt hat« und dann nach einem Ähm nachschiebt: »ohne das werten zu wollen«, entspricht das weder seiner Aussage am Wahlabend noch deren Intention. Denn natürlich hatte er nicht über die private emotionale Bindung des Konkurrenten Burkhard Jung zur Stadt, vergleichbar der eines Fans zu ›seiner‹ bevorzugten Fußballmannschaft,(6) spekuliert, sondern das durch eine Person nicht beeinflussbare Merkmal der Geburtsherkunft zur Bewertung der persönlichen Eignung für ein politisches Spitzenamt herangezogen.
Von der Untauglichkeit dieses Bewertungsmaßstabs einmal abgesehen, ließe sich bei der Wahl von jemanden, der bereits seit 14 Jahren das erneut angestrebte Amt inne hat und auch in den sechs Jahren davor Beigeordneter der Stadt war, allerhand zur Bewertung seiner Eignung und dem Grad der Übereinstimmung mit den eigenen Interessen finden, und die Einschätzung, ob ein Kandidat die in der Stadt vorhandenen Bedürfnisse und Interessen kennt, mag bei einem Vergleich der Wahlprogramme ebenfalls zutreffender ausfallen als beim Blick in die Geburtsurkunde. Das aber hätte für Gemkow bedeutet, den Wahlkampf inhaltlich führen zu müssen. Zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen dies geschah und beispielsweise wie beim Stadtmagazin Kreuzer als Schlagabtausch mit dem Titel Jung gegen Gemkow reißerisch angekündigt wurde, erfuhr man viel darüber, wer über wen ungerechtfertigte Vorwürfe verbreitet habe, musste Unterschiede im politischen Programm hingehen mit der Lupe suchen.
Das liegt zum Teil auch am Charakter des Amtes. Der Oberbürgermeister ist laut Sächsischer Gemeindeordnung Vorsitzender des Stadtrates, Leiter der Stadtverwaltung und repräsentiert die Stadt nach außen. Nach dem Sächsischen Beamtengesetz gilt er als Wahlbeamter auf Zeit und unterliegt in vollem Umfang den beamtenrechtlichen Dienstpflichten. Dieses süddeutsche Modell einer plebiszitären Bürgermeisterverfassung hat sich seit 1989 in allen Flächenstaaten der Republik gegen das norddeutsche Modell eines starken Gemeinderates, in welchem die vom Rat eingesetzte Verwaltungsleitung vom Bürgermeister als Ratsvorsitzenden getrennt ist, durchgesetzt und trägt nach Einschätzung des Soziologen Thomas Wagner soft-bonapartistische Züge, weil es die Gefahr erhöht, dass sich in der Stadtpolitik letztlich jene Interessen durchsetzen, die den besten Zugriff auf den Bürgermeister besitzen.(7)
Dennoch ist – darauf wiesen kritische Kommentator/innen und, zumindest da, wo es um die Abwehr der Verantwortung für vorgeworfene Missstände ging, auch die beiden Kandidaten hin – die Macht der Amtes beschränkt. Für viele Angelegenheiten liegt die Zuständigkeit beim Land oder Bund und auch auf lokaler Ebene hat der Stadtrat als »Hauptorgan der Gemeinde [...] eine Vorrangstellung inne und kann daher auch mit Wirkung für den Zuständigkeitsbereich des Bürgermeisters die Grundsätze der Verwaltung der Gemeinde festlegen«(8).
Anstatt über politische Fragen - die stets auch die Gefahr eines mit Polarisierungen verbundenen Wahlstimmenverlusts in sich bergen(9) - oder staubtrockene Themen wie Leitung der Stadtverwaltung oder von Ratssitzungen zu streiten, bot sich deshalb im Wahlkampf eine Fokussierung auf die repräsentative Funktion des Amtes an. Doch wenngleich diese bonapartistische Rückspiegelung vom einzelnen Repräsentanten auf ein städtisches Gesamtinteresse – dessen unausgesprochene materielle Grundlage die Aufgabe der Integration der Stadtregion in die globale Ökonomie ist - tendenziell im Amt des Oberbürgermeisters angelegt ist, lag die Entscheidung der CDU zur Fokussierung auf die Herkunft ihres Kandidaten letztlich an dessen mangelnder politischer Unterscheidbarkeit vom sozialdemokratischen Gegenkandidaten. »Übrigens«, wies Gemkow-Unterstützer Feist am Ende der Verteidigung seines rassistischen Satzes den LVZ-Reporter hin: »der Slogan [›Ein Leipziger.‹] ist nicht hier in Leipzig entwickelt worden, sondern kommt aus einem anderen Land. Aus Österreich.« Dieser wusste längst Bescheid und ergänzte in Frageform: »Von der Agentur, die auch Sebastian Kurz beraten hat?« Feist: »Ganz genau, und die haben gesagt: ›Was ist ein Alleinstellungsmerkmal von Sebastian Gemkow?‹ Dass er hier aufgewachsen ist und die Geschichte der Stadt hautnah miterlebt hat.«(10) Philipp Manderthaner, »Campaigner« beim betreffenden Wiener Campaigning Bureau, erläuterte der Zeit Ende 2017 diese Herangehensweise am Beispiel der Wahlwerbestrategie für Sebastian Kurz (ÖVP) mit den Worten: »Menschen wählen keine Programme. Sie wählen Überzeugungen, Werte und Personen, die das repräsentieren.«(11) Gemkows Wert war seine Abstammung.(12) Und wer sollte besser wissen, was gut für die Stadt ist, als einer ihrer Söhne? In den Ohren einer knappen, patriotisch gestimmten, relativen Mehrheit der Wähler/innen des ersten Wahlgangs klang das überzeugend.
Die Wiederwahl des seit 14 Jahren amtierenden Oberbürgermeisters war damit in Gefahr. Bei gleichem Ergebnis im zweiten Wahlgang, in dem lediglich die einfache Mehrheit genügt, würde Jung sein Amt an den CDU-Herausforderer verlieren. Noch im August 2018 waren laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage je 47% der befragten Leipziger/innen mit seiner Amtsführung zufrieden wie nicht zufrieden gewesen und er damit im bundesweiten Vergleich auf dem sechsten Platz gelandet. Doch obwohl es seit der letzten OB-Wahl 2013 gut 35.000 mehr Wahlberechtigte in der Stadt gab, hatte Jung knapp 2.000 Stimmen weniger als damals im ersten Wahlgang erreicht. Die Aussichten waren düster: 2013 hatte er im zweiten Wahlgang (bei insgesamt gefallener Wahlbeteiligung) sogar noch über 3.500 weitere Wähler/innenstimmen verloren.
Für die Chance einer Wiederwahl war Jung auf die Stimmen der Wähler/innen anderer Kandidat/innen angewiesen. 2013 hatte Jung im zweiten Wahlgang laut städtischem Wahlbericht lediglich 3.000 Wähler/innen von Linkspartei und Grünen gewinnen können und 7.800 seiner Wähler/innen waren nicht erneut an den Wahlurnen erschienen. Im gemeinsamen Interesse einen CDU-Bürgermeister zu verhindern, ließen deshalb die auch im Stadtrat mit der SPD kooperierenden Linken und Grünen diesmal im Gegensatz zur Wahl 2013 ihre Kandidatinnen im zweiten Wahlgang nicht erneut antreten und gaben stattdessen eindeutige Wahlempfehlungen für den SPD-Kandidaten ab. Das allein bot jedoch keine Sicherheit, schließlich ist der amtierende Oberbürgermeister aufgrund seiner bisherigen Politik bei den Wähler/innen von Linkspartei und Grünen nicht unbedingt wohlgelitten. Um dennoch genügend von ihnen und auch der eigenen Wähler/innen für eine wiederholte Teilnahme zu mobilisieren, bedurfte es darum einer Strategie, die für einen Amtsinhaber für gewöhnlich wenig geeignet ist(13) und ihm deshalb auch den Vorwurf der Spaltung der Stadtgesellschaft einbrachte: dem Lagerwahlkampf.
Der im Vergleich der bekannten politischen Positionen nicht wirklich gerechtfertigte Vorwurf, mit Gemkow als Oberbürgermeister drohe der eine fundamentale konservative Wende in der Stadt, sollte Wähler/innen von Linkspartei und Grünen zur Stimmabgabe für Jung motivieren. Es mag der bereits skizzierten Wahlkampfstrategie Gemkows geschuldet sein, wenig Gegenstand zur Reibung und damit Anlass zu Gegenmobilisierungen bieten zu wollen, aber jenseits der Gründung einer polizeilichen Sonderkommission gegen ›Linksextremismus‹ (»Soko LinX«),(14) die auch im Interesse Jungs gelegen haben dürfte, bedurfte es schon des Umwegs der Kontaktschuld,(15) um aus Gemkow einen Rechtsaußen-Politiker zu machen. Die Stimmung nach der Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) durch CDU, FDP und AfD, die Wahlkampfhilfe führender CDU-Landes- und Kommunalpolitiker, die penetrante Unterstützung der LVZ und ungebetene Aktionen, wie die kontraproduktive Selbstinszenierung des Leiters der neurechten Identitären-Ortsgruppe Alexander Kleine, sorgten jedoch für Empörung im linken Lager und schienen das von den Spindoctoren der SPD entwickelte Narrativ einer Entscheidungsschlacht zwischen Vorwärts- und Rückwärtsgewandten zu bestätigen.
Am Ende reichte es knapp für Jung. In seinem Kommentar zum Wahlergebnis »OBM-Wahl in Leipzig: Linke und Grüne retten die Ehre der SPD« gelangte LVZ-Chefredakteur Jan Emmendörfer zur durchaus zutreffenden Einschätzung, dass der Amtsinhaber »nur dank massiver Hilfe von Linken und Grünen« gegen den CDU-Kandidaten gewonnen habe. Bei seiner Charakterisierung des knapp unterlegenen, »bislang stärksten Gegenentwurf[s]« der sächsischen CDU, Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow - »jung, eloquent, ›einer von uns‹« -, fehlte hingegen der Hinweis auf die professionelle(re) und teure Wahlkampagne aus der Feder der Wiener Werbeagentur Campaigning Bureau, die bereits Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) erfolgreich unterstützte, und die Stimmen aus dem Lager der nicht zum zweiten Wahlgang angetretenen AfD- und FDP-Kandidaten, mit denen Gemkow im Vergleich zu vorhergegangenen Kandidaten »etwas ›reißen‹« konnte. Dabei hatte eine von der LVZ in Auftrag gegebene, repräsentative INSA-Umfrage unter Wähler/innen des ersten Wahlgangs ergeben, dass auch ohne ausdrückliche Wahlempfehlung von AfD und FDP drei Viertel bzw. zwei Drittel ihrer bisherigen Wähler/innen im zweiten Wahlgang den CDU-Kandidaten wählen wollen, was einem Anteil von 5,5%-Punkten entspräche.(16)
In professioneller Geschwindigkeit gelang Jung der Wechsel vom Wahlkampf- zurück in den Amtsmodus: Unmittelbar nach Verkündung des vorläufigen amtlichen Wahlergebnisses verwies er auf die im Lagerwahlkampf offen hervorgetretene Spaltung der Stadt und verkündete fortan, ganz seiner Stellenbeschreibung entsprechend, »Oberbürgermeister aller Leipzigerinnen und Leipziger« sein zu wollen. An seine Wähler/innenschaft, die er zuvor mit der Parole »Es geht jetzt um Internationalität, Weltoffenheit, bunte Stadt – oder: rechts gescheitelt, rechts gekämmt.« zum Endkampf gegen die Barbarei an die Urnen mobilisiert hatte, richtete er nun den Appell: »Wir müssen auf die Menschen zugehen, die Schwierigkeiten damit haben, dass wir eine solche Vielfalt in der Stadt haben, demokratisch, offen, transparent feiern [sic!] und leben wollen.«
Warum? Sein Amt gebietet es! In dieser Reduktion des Demokratischen auf den Modus der Herrschaftsbestellung, welche der repräsentativen Demokratie durchaus gerecht wird, gleicht Jung tatsächlich dem thüringischen Kurzzeitministerpräsidenten Kemmerich.(17) Der Teil des (aggregierten) Wähler/innenwillens, dessen Stimmen, antifaschistisch aufgestachelt, letztlich über seine Wiederwahl entschieden, durfte am Folgetag im Interview mit der LVZ lesen, dass man »jetzt« mit »viel, viel Arbeit« »verbinden und zusammenführen« müsse. Die LVZ konnte, nachdem sie sich von der Wahlniederlage erholt hatte, Jungs Vorhaben nur noch wiederholen und zuspitzen. Unter dem Titel »Kampfmodus ausschalten, Schluss mit der Spalterei!« forderte sie ihn auf, »diese Stadt wieder zusammenführen, durch die an mehreren Stellen ein tiefer Riss geht. Im Stadtrat und in der Stadt selbst, zwischen links und rechts, zwischen Stadt und Ortsteilen. Darum geht es jetzt: Einen statt spalten. Diskutieren statt Recht haben. Verlierern die Hand reichen. […] Rückbesinnung auf das Gemeinsame, die Herstellung von Zusammenhalt in Stadt und Ratsversammlung«.
Jungs Volksprojekt einer ›Stadt für alle‹ kennt gemeinsame Themen mit der Linkspartei und den Grünen - Mobilität, sozialer Wohnungsbau und Klimaschutz -, für die es bereits zuvor prinzipiell eine Mehrheit der im Stadtrat kooperierenden Fraktionen gab. Dennoch wirkten die Linke-OB-Kandidatin Franziska Riekewald und ihr Parteigenosse Sören Pellmann nach Jungs Versöhnungsstatement etwas deplatziert, als sie ihm am Wahlabend ein Plakat mit 19 sozialpolitischen Forderungen übergaben. Tatsächlich hat Jung auch ein ganz eigenes politisches Interesse, auf Gemkows Wähler/innen zuzugehen: Jede/r zweite der Wähler/innen des CDU-Kandidaten des ersten Wahlgangs und immerhin noch fast zwei von fünf des zweiten Wahlgangs gaben in der städtischen Wahltagsbefragung an, bei der vorhergegangenen OB-Wahl 2013 noch ihn gewählt zu haben. Im Gegensatz zum Wähler/innenpotenzial von Linkspartei und Grünen gäbe es hier einiges zurückzuholen.
Die Abstraktion von den vielen, häufig gegenläufigen und widersprüchlichen Interessen der Einwohner/innen, die in der Rede von ›der Stadt‹ steckt, verdeckt den Blick auf die urbanen sozialen Kämpfe und die diesen bzw. ihren (von der bürgerlichen (Kultur-)Soziologie in Schichten und Milieus zergliederten) Akteuren zugrundeliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse.
In ihrer Analyse des zweiten Wahlgangs kam die städtische Wahltagsbefragung zusammenfassend zu folgenden Ergebnissen: »Jung punktet vor allem im Bereich der gut qualifizierten Mitte mit moderatem Einkommen und erhält im Vergleich zum ersten Wahlgang mehr Stimmen aus der Studierendenschaft (und von Schülerinnen und Schülern)«, welche zuvor eher die Kandidatinnen von Linkspartei und Grünen gewählt hatten. »Gemkow (CDU) spricht im zweiten Wahlgang weiterhin vor allem gut Situierte sowie Rentnerinnen und Rentner an und gewinnt im Vergleich zum ersten Wahlgang bei den formal geringer Qualifizierten hinzu«, welche zuvor eher dem AfD-Kandidaten ihre Stimme gaben. Während das Thema »Sicherheit« bei den Unter-34-Jährigen kaum eine Rolle spielte und bei den 35-49-Jährigen etwa gleichauf mit den anderen abgefragten Themen »Sozialpolitik«, »Infrastruktur« sowie »Umwelt und Klima« lag, dominierte es in den Altersgruppen der 50-65-Jährigen und besonders der Über-65-Jährigen die Wahlentscheidung (beim Thema »Umwelt und Klima« verhielt es sich genau entgegengesetzt).
»Ältere Leipzigerinnen und Leipziger interessieren sich häufiger für Kommunalpolitik als jüngere. Ungleich dazu entwickelt sich das Gefühl der Bürgerinnen und Bürger, ›Einfluss auf das zu
haben, was in Leipzig geschieht‹. Ältere zeigen sich diesbezüglich resignierter. Wählerinnen und Wähler des CDU-Bewerbers Gemkow interessieren sich etwas häufiger für Kommunalpolitik, auch in den jüngeren Altersgruppen. Fehlende Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme kritisieren vor allem Befragte, die mit der Leipziger Kommunalpolitik unzufrieden sind.« Jung erhielt verhältnismäßig viele Stimmen von jungen Wähler/innen, welche sich im Generationen-Vergleich zwar weniger für Kommunalpolitik interessieren, jedoch die höchste Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Kommunal- und Bundespolitik zeigen. Unter Gemkows Wähler/innen äußerte sich hingegen immerhin jede/r sechste mit dem Funktionieren »unzufrieden« oder »sehr unzufrieden«. Zugleich bemängelte unter ihnen fast jede/r Dritte, trotz mitunter großen Interesses an der Kommunalpolitik keinen Einfluss auf diese zu haben.
Die Verschiedenheit der Präferenzen beruht wesentlich auf sich aus den materiellen Verhältnissen ergebenden Interessen. So haben die jüngeren, in den innerstädtischen Vierteln zur Miete wohnenden Wähler/innen mit geringem Einkommen ein großes Interesse an unterstützender Sozialpolitik, verfügbarer Infrastruktur und ›Umwelt‹-Themen – konkret: ›bezahlbaren‹ Mieten, ›bezahlbarem‹ Nahverkehr, Ausbau von Fahrrad-Wegen und Erhalt öffentlich zugänglicher Grünflächen, während die älteren, in den Suburbs mit eigenem Garten oder bei den Naherholungsgebieten lebenden Wähler/innen mit höherem Einkommen eher an einer Absicherung des (Wohn-)Eigentums und der uneingeschränkten Mobilität mit dem eigenen PKW interessiert sein dürften. Hier kommen neben Nutzungs- und Verteilungskonflikten wie im Bereich der Mobilität auch ganz widersprüchliche Interessen wie jenem nach einer Deckelung der Mieten, welches dem nach einer Wertsteigerung auch selbstgenutzten Grund- und Immobilieneigentums entgegensteht, zum Ausdruck. In der Rede von ›der Stadt‹ bzw. ihrer Repräsentation in Person und Amt des Ober-»Leipzigers« aber verschwimmen die gesellschaftlichen Widersprüche und ihre kommunalen Verlaufsformen.
Übrigens wurde, um zum Beginn dieses Textes zurückzukehren, die Leipziger CDU schlecht von ihrer österreichischen Werbeagentur beraten: Die Herkunft ist gar kein Alleinstellungsmerkmal Gemkows. Auch der AfD-Kandidat Christoph Neumann antwortete im kreuzer-Interview auf die Frage, warum er Oberbürgermeister Leipzigs werden sollte, kurz und knapp: »Weil ich Leipziger bin. Leipzig hat in den letzten Jahren seine Seele, den Leipziger Geist verloren. Gemeint ist das, womit wir 1989 die Wende geschafft haben. Mir ist klar, warum wir ihn verloren haben. Mittlerweile sind 60 Prozent der Einwohner Leipzigs keine echten Leipziger mehr, sondern seit 1990 hinzugezogen. Aus aller Herren Länder. Ich möchte versuchen, Leipzig diesen Geist, dieses Gefühl und diese Seele wieder zurückzugeben.«
Darauf indirekt hinzuweisen, dass den »Leipziger« Gemkow nicht unbedingt die Alteingesessenen wählten, blieb dem Politikwissenschaftler an der Universität Leipzig Hendrik Träger vorbehalten. »Jung sei im innerstädtischen Kern stark,« zitierte ihn die LVZ, »aber die Randbezirke, die teilweise vor 20 Jahren erst eingemeindet worden seien, wählten traditionell konservativer.« Soziographisch betrachtet waren es demnach nicht wenige ältere ›Neu-Leipziger‹, die dem jungen, eingeborenen »Leipziger« fast zum Sieg verholfen hätten. Aber das wäre eine andere Geschichte, mit der zu beschäftigen sich nur lohnte, wenn es wirklich darum ginge ...
von shadab