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Aktuelle Termine

CEE IEH-ARCHIV

#261, März 2020
#262, August 2020
#263, Oktober 2020

Aktuelles Heft

INHALT #262

Titelbild
Editorial
• das erste: Die Wiederentdeckung des revolutionären Subjekts Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht
• inside out: Jahresbericht 2019
• sport: Wenn Skateboarding zum Sport wird.
• leserInnenbrief: Bedenke was du trinkst, mein Kind
• position: Freie Zeit mit Corona
• doku: Konzerte in Zeiten von Corona: Livebranche am Abgrund
• doku: Corona und die Ernte
• doku: Corona und der kommende Aufschwung
• doku: Antisexistische Selbstjustiz: Der Richter bist du!
• das letzte: Alleinstellungsmerkmal Herkunft

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Alleinstellungsmerkmal Herkunft

Nachbetrachtungen zum Lagerwahlkampf um das Oberbürgermeisteramt in Leipzig

Die Enttäuschung über den Ausgang des zweiten Wahlganges war dem Titel »Wie Jung die OBM-Wahl gewann, obwohl er die meisten Stadtteile verlor« noch deutlich anzumerken. Offensiv hatte die einzige lokale Tageszeitung den CDU-Kandidaten Sebastian Gemkow im Leipziger OB-Wahlkampf durch das Schalten von Werbeanzeigen, Native Advertising, aber auch mittels eigener Berichterstattung, in welcher beispielsweise ehemalige, weit nach rechts gedriftete Parteigenossen und DDR-Bürgerrechtler mit dem Amtsinhaber »abrechneten«, unterstützt.(1) »Nur in einem Drittel der Leipziger Stadtviertel gewann Burkhard Jung (SPD) gegen Sebastian Gemkow«, heißt es dann im Artikel der Leipziger Volkszeitung (LVZ). Für sie ist klar: nicht eine Mehrzahl an Wähler/innenstimmen legitimiert das Amt, sondern die ideelle Repräsentation der Stadt. Gemkow, so der unausgesprochene, aber naheliegende Schluss, ist eigentlich der bessere Leipziger. Die Zeitung hält damit auch nach der verlorenen Wahl noch an der zentralen Wahlkampfstrategie ihres bevorzugten Kandidaten fest.
Dabei hatte noch am Abend des zweiten Wahlganges das Statement des Leipziger CDU-Kreisvorsitzenden und Beauftragten für jüdisches Leben in Sachsen, Thomas Feist, für einige Empörung gesorgt. Anstoß bot dessen Wahlwerbung für Sebastian Gemkows als einem »Leipziger« für das Oberbürgermeisteramt. Von einem LVZ-Reporter darauf angesprochen, ob jemand, der wie Amtsinhaber Burkhard Jung seit über 25 Jahren in dieser Stadt lebe, in seinen Augen kein richtiger Leipziger sei, verwies Feist auf den »schönen Spruch«: »Wenn eine Katze im Fischladen Junge bekommt, sind das dann Fische?« Amtsinhaber Jung gestand er dann zwar zu, nach 29 Jahren in der Stadt inzwischen auch Leipziger zu sein, aber eben dennoch nicht so richtig wie ein Gebürtiger, der seine Jugend hier verbracht habe. Die Geschichte Leipzigs sei älter als die letzten 29 Jahre, »gerade [!] auch die Geschichte des Verfalls im Sozialismus«, die »Friedliche Revolution« und die »Runden Tische«.(2)
Man mag Feist, der diesen Spruch einem Sketch des in der DDR beliebten, jedoch 1977 in die BRD übergesiedelten Komikers Eberhard Cohrs entnahm, glauben, über dessen Vergangenheit als Angehöriger der Waffen-SS und als SS-Rottenführer der Wachmannschaft des KZ-Sachsenhausen nicht informiert gewesen zu sein. Der Inlandsgeheimdienst der DDR selbst besaß seit 1968 eine Geheimakte zu Cohrs mit Kopien aus sowjetischen Archiven.
In den letzten Jahrzehnten fand der Spruch in Abwandlungen vor allem bei Rassist/innen Verbreitung. Auch Pegida-Gründer Lutz Bachmann twitterte im Zuge des rechtsradikalen Terroranschlags des Deutsch-Iraners David Sonboly im Juli 2016 in München: »Deutsch-Iraner? Was ist denn das? Wenn ne Katze im Fischladen Junge bekommt sind's dann ›Karthäuser-Heringe‹ oder was?«(3) Tatsächlich wurde auch das Youtube-Video einer Szene des Cohrs-Sketches, den Feist zu seiner Verteidigung gegen Rassismus-Vorwürfe bei Twitter verlinkte, in einem rechten Nutzerprofil hochgeladen.
Feist aber bezeichnete Hinweise auf die politische Heimat und den rassistischen Charakter des Spruchs als Verwirrungen und abstruse Verschwörungstheorien, bekannte: »Ich finde den Sketch nach wie vor lustig, ja, weil es ja darum geht, was sagt es über die Herkunft eines Menschen aus, ja hat das, hat wirklich die Herkunft der Eltern etwas damit zu tun, was ich bin.« und stellte damit unter Beweis, dass er es doch rassistisch meint und den Witz des Sketches überhaupt nicht verstanden hat. Denn trotz der problematischen Übertragung der Redewendung auf die Herkunft eines Menschen(4) beim Komiker Cohrs, widerlegt dieser in seiner Darbietung die semantische Aussage des Spruchs.(5)
Auch ist es ein Unterschied, ob jemand im Rahmen eines Sketches diese Aussage über die eigene Herkunft tätigt oder aber während einer zugespitzten politischen Auseinandersetzung über den rivalisierenden Kandidaten. Wenn Feist zu seiner Verteidigung obendrein behauptet, »dass jemand, der hier geboren ist, der die Eltern hier hat, einen anderen Zugang - einen anderen emotionalen Zugang - zur Stadt hat« und dann nach einem Ähm nachschiebt: »ohne das werten zu wollen«, entspricht das weder seiner Aussage am Wahlabend noch deren Intention. Denn natürlich hatte er nicht über die private emotionale Bindung des Konkurrenten Burkhard Jung zur Stadt, vergleichbar der eines Fans zu ›seiner‹ bevorzugten Fußballmannschaft,(6) spekuliert, sondern das durch eine Person nicht beeinflussbare Merkmal der Geburtsherkunft zur Bewertung der persönlichen Eignung für ein politisches Spitzenamt herangezogen.
Von der Untauglichkeit dieses Bewertungsmaßstabs einmal abgesehen, ließe sich bei der Wahl von jemanden, der bereits seit 14 Jahren das erneut angestrebte Amt inne hat und auch in den sechs Jahren davor Beigeordneter der Stadt war, allerhand zur Bewertung seiner Eignung und dem Grad der Übereinstimmung mit den eigenen Interessen finden, und die Einschätzung, ob ein Kandidat die in der Stadt vorhandenen Bedürfnisse und Interessen kennt, mag bei einem Vergleich der Wahlprogramme ebenfalls zutreffender ausfallen als beim Blick in die Geburtsurkunde. Das aber hätte für Gemkow bedeutet, den Wahlkampf inhaltlich führen zu müssen. Zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen dies geschah und beispielsweise wie beim Stadtmagazin Kreuzer als Schlagabtausch mit dem Titel Jung gegen Gemkow reißerisch angekündigt wurde, erfuhr man viel darüber, wer über wen ungerechtfertigte Vorwürfe verbreitet habe, musste Unterschiede im politischen Programm hingehen mit der Lupe suchen.
Das liegt zum Teil auch am Charakter des Amtes. Der Oberbürgermeister ist laut Sächsischer Gemeindeordnung Vorsitzender des Stadtrates, Leiter der Stadtverwaltung und repräsentiert die Stadt nach außen. Nach dem Sächsischen Beamtengesetz gilt er als Wahlbeamter auf Zeit und unterliegt in vollem Umfang den beamtenrechtlichen Dienstpflichten. Dieses süddeutsche Modell einer plebiszitären Bürgermeisterverfassung hat sich seit 1989 in allen Flächenstaaten der Republik gegen das norddeutsche Modell eines starken Gemeinderates, in welchem die vom Rat eingesetzte Verwaltungsleitung vom Bürgermeister als Ratsvorsitzenden getrennt ist, durchgesetzt und trägt nach Einschätzung des Soziologen Thomas Wagner soft-bonapartistische Züge, weil es die Gefahr erhöht, dass sich in der Stadtpolitik letztlich jene Interessen durchsetzen, die den besten Zugriff auf den Bürgermeister besitzen.(7)
Dennoch ist – darauf wiesen kritische Kommentator/innen und, zumindest da, wo es um die Abwehr der Verantwortung für vorgeworfene Missstände ging, auch die beiden Kandidaten hin – die Macht der Amtes beschränkt. Für viele Angelegenheiten liegt die Zuständigkeit beim Land oder Bund und auch auf lokaler Ebene hat der Stadtrat als »Hauptorgan der Gemeinde [...] eine Vorrangstellung inne und kann daher auch mit Wirkung für den Zuständigkeitsbereich des Bürgermeisters die Grundsätze der Verwaltung der Gemeinde festlegen«(8).
Anstatt über politische Fragen - die stets auch die Gefahr eines mit Polarisierungen verbundenen Wahlstimmenverlusts in sich bergen(9) - oder staubtrockene Themen wie Leitung der Stadtverwaltung oder von Ratssitzungen zu streiten, bot sich deshalb im Wahlkampf eine Fokussierung auf die repräsentative Funktion des Amtes an. Doch wenngleich diese bonapartistische Rückspiegelung vom einzelnen Repräsentanten auf ein städtisches Gesamtinteresse – dessen unausgesprochene materielle Grundlage die Aufgabe der Integration der Stadtregion in die globale Ökonomie ist - tendenziell im Amt des Oberbürgermeisters angelegt ist, lag die Entscheidung der CDU zur Fokussierung auf die Herkunft ihres Kandidaten letztlich an dessen mangelnder politischer Unterscheidbarkeit vom sozialdemokratischen Gegenkandidaten. »Übrigens«, wies Gemkow-Unterstützer Feist am Ende der Verteidigung seines rassistischen Satzes den LVZ-Reporter hin: »der Slogan [›Ein Leipziger.‹] ist nicht hier in Leipzig entwickelt worden, sondern kommt aus einem anderen Land. Aus Österreich.« Dieser wusste längst Bescheid und ergänzte in Frageform: »Von der Agentur, die auch Sebastian Kurz beraten hat?« Feist: »Ganz genau, und die haben gesagt: ›Was ist ein Alleinstellungsmerkmal von Sebastian Gemkow?‹ Dass er hier aufgewachsen ist und die Geschichte der Stadt hautnah miterlebt hat.«(10) Philipp Manderthaner, »Campaigner« beim betreffenden Wiener Campaigning Bureau, erläuterte der Zeit Ende 2017 diese Herangehensweise am Beispiel der Wahlwerbestrategie für Sebastian Kurz (ÖVP) mit den Worten: »Menschen wählen keine Programme. Sie wählen Überzeugungen, Werte und Personen, die das repräsentieren.«(11) Gemkows Wert war seine Abstammung.(12) Und wer sollte besser wissen, was gut für die Stadt ist, als einer ihrer Söhne? In den Ohren einer knappen, patriotisch gestimmten, relativen Mehrheit der Wähler/innen des ersten Wahlgangs klang das überzeugend.
Die Wiederwahl des seit 14 Jahren amtierenden Oberbürgermeisters war damit in Gefahr. Bei gleichem Ergebnis im zweiten Wahlgang, in dem lediglich die einfache Mehrheit genügt, würde Jung sein Amt an den CDU-Herausforderer verlieren. Noch im August 2018 waren laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage je 47% der befragten Leipziger/innen mit seiner Amtsführung zufrieden wie nicht zufrieden gewesen und er damit im bundesweiten Vergleich auf dem sechsten Platz gelandet. Doch obwohl es seit der letzten OB-Wahl 2013 gut 35.000 mehr Wahlberechtigte in der Stadt gab, hatte Jung knapp 2.000 Stimmen weniger als damals im ersten Wahlgang erreicht. Die Aussichten waren düster: 2013 hatte er im zweiten Wahlgang (bei insgesamt gefallener Wahlbeteiligung) sogar noch über 3.500 weitere Wähler/innenstimmen verloren.
Für die Chance einer Wiederwahl war Jung auf die Stimmen der Wähler/innen anderer Kandidat/innen angewiesen. 2013 hatte Jung im zweiten Wahlgang laut städtischem Wahlbericht lediglich 3.000 Wähler/innen von Linkspartei und Grünen gewinnen können und 7.800 seiner Wähler/innen waren nicht erneut an den Wahlurnen erschienen. Im gemeinsamen Interesse einen CDU-Bürgermeister zu verhindern, ließen deshalb die auch im Stadtrat mit der SPD kooperierenden Linken und Grünen diesmal im Gegensatz zur Wahl 2013 ihre Kandidatinnen im zweiten Wahlgang nicht erneut antreten und gaben stattdessen eindeutige Wahlempfehlungen für den SPD-Kandidaten ab. Das allein bot jedoch keine Sicherheit, schließlich ist der amtierende Oberbürgermeister aufgrund seiner bisherigen Politik bei den Wähler/innen von Linkspartei und Grünen nicht unbedingt wohlgelitten. Um dennoch genügend von ihnen und auch der eigenen Wähler/innen für eine wiederholte Teilnahme zu mobilisieren, bedurfte es darum einer Strategie, die für einen Amtsinhaber für gewöhnlich wenig geeignet ist(13) und ihm deshalb auch den Vorwurf der Spaltung der Stadtgesellschaft einbrachte: dem Lagerwahlkampf.
Der im Vergleich der bekannten politischen Positionen nicht wirklich gerechtfertigte Vorwurf, mit Gemkow als Oberbürgermeister drohe der eine fundamentale konservative Wende in der Stadt, sollte Wähler/innen von Linkspartei und Grünen zur Stimmabgabe für Jung motivieren. Es mag der bereits skizzierten Wahlkampfstrategie Gemkows geschuldet sein, wenig Gegenstand zur Reibung und damit Anlass zu Gegenmobilisierungen bieten zu wollen, aber jenseits der Gründung einer polizeilichen Sonderkommission gegen ›Linksextremismus‹ (»Soko LinX«),(14) die auch im Interesse Jungs gelegen haben dürfte, bedurfte es schon des Umwegs der Kontaktschuld,(15) um aus Gemkow einen Rechtsaußen-Politiker zu machen. Die Stimmung nach der Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) durch CDU, FDP und AfD, die Wahlkampfhilfe führender CDU-Landes- und Kommunalpolitiker, die penetrante Unterstützung der LVZ und ungebetene Aktionen, wie die kontraproduktive Selbstinszenierung des Leiters der neurechten Identitären-Ortsgruppe Alexander Kleine, sorgten jedoch für Empörung im linken Lager und schienen das von den Spindoctoren der SPD entwickelte Narrativ einer Entscheidungsschlacht zwischen Vorwärts- und Rückwärtsgewandten zu bestätigen.
Am Ende reichte es knapp für Jung. In seinem Kommentar zum Wahlergebnis »OBM-Wahl in Leipzig: Linke und Grüne retten die Ehre der SPD« gelangte LVZ-Chefredakteur Jan Emmendörfer zur durchaus zutreffenden Einschätzung, dass der Amtsinhaber »nur dank massiver Hilfe von Linken und Grünen« gegen den CDU-Kandidaten gewonnen habe. Bei seiner Charakterisierung des knapp unterlegenen, »bislang stärksten Gegenentwurf[s]« der sächsischen CDU, Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow - »jung, eloquent, ›einer von uns‹« -, fehlte hingegen der Hinweis auf die professionelle(re) und teure Wahlkampagne aus der Feder der Wiener Werbeagentur Campaigning Bureau, die bereits Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) erfolgreich unterstützte, und die Stimmen aus dem Lager der nicht zum zweiten Wahlgang angetretenen AfD- und FDP-Kandidaten, mit denen Gemkow im Vergleich zu vorhergegangenen Kandidaten »etwas ›reißen‹« konnte. Dabei hatte eine von der LVZ in Auftrag gegebene, repräsentative INSA-Umfrage unter Wähler/innen des ersten Wahlgangs ergeben, dass auch ohne ausdrückliche Wahlempfehlung von AfD und FDP drei Viertel bzw. zwei Drittel ihrer bisherigen Wähler/innen im zweiten Wahlgang den CDU-Kandidaten wählen wollen, was einem Anteil von 5,5%-Punkten entspräche.(16)
In professioneller Geschwindigkeit gelang Jung der Wechsel vom Wahlkampf- zurück in den Amtsmodus: Unmittelbar nach Verkündung des vorläufigen amtlichen Wahlergebnisses verwies er auf die im Lagerwahlkampf offen hervorgetretene Spaltung der Stadt und verkündete fortan, ganz seiner Stellenbeschreibung entsprechend, »Oberbürgermeister aller Leipzigerinnen und Leipziger« sein zu wollen. An seine Wähler/innenschaft, die er zuvor mit der Parole »Es geht jetzt um Internationalität, Weltoffenheit, bunte Stadt – oder: rechts gescheitelt, rechts gekämmt.« zum Endkampf gegen die Barbarei an die Urnen mobilisiert hatte, richtete er nun den Appell: »Wir müssen auf die Menschen zugehen, die Schwierigkeiten damit haben, dass wir eine solche Vielfalt in der Stadt haben, demokratisch, offen, transparent feiern [sic!] und leben wollen.«
Warum? Sein Amt gebietet es! In dieser Reduktion des Demokratischen auf den Modus der Herrschaftsbestellung, welche der repräsentativen Demokratie durchaus gerecht wird, gleicht Jung tatsächlich dem thüringischen Kurzzeitministerpräsidenten Kemmerich.(17) Der Teil des (aggregierten) Wähler/innenwillens, dessen Stimmen, antifaschistisch aufgestachelt, letztlich über seine Wiederwahl entschieden, durfte am Folgetag im Interview mit der LVZ lesen, dass man »jetzt« mit »viel, viel Arbeit« »verbinden und zusammenführen« müsse. Die LVZ konnte, nachdem sie sich von der Wahlniederlage erholt hatte, Jungs Vorhaben nur noch wiederholen und zuspitzen. Unter dem Titel »Kampfmodus ausschalten, Schluss mit der Spalterei!« forderte sie ihn auf, »diese Stadt wieder zusammenführen, durch die an mehreren Stellen ein tiefer Riss geht. Im Stadtrat und in der Stadt selbst, zwischen links und rechts, zwischen Stadt und Ortsteilen. Darum geht es jetzt: Einen statt spalten. Diskutieren statt Recht haben. Verlierern die Hand reichen. […] Rückbesinnung auf das Gemeinsame, die Herstellung von Zusammenhalt in Stadt und Ratsversammlung«.
Jungs Volksprojekt einer ›Stadt für alle‹ kennt gemeinsame Themen mit der Linkspartei und den Grünen - Mobilität, sozialer Wohnungsbau und Klimaschutz -, für die es bereits zuvor prinzipiell eine Mehrheit der im Stadtrat kooperierenden Fraktionen gab. Dennoch wirkten die Linke-OB-Kandidatin Franziska Riekewald und ihr Parteigenosse Sören Pellmann nach Jungs Versöhnungsstatement etwas deplatziert, als sie ihm am Wahlabend ein Plakat mit 19 sozialpolitischen Forderungen übergaben. Tatsächlich hat Jung auch ein ganz eigenes politisches Interesse, auf Gemkows Wähler/innen zuzugehen: Jede/r zweite der Wähler/innen des CDU-Kandidaten des ersten Wahlgangs und immerhin noch fast zwei von fünf des zweiten Wahlgangs gaben in der städtischen Wahltagsbefragung an, bei der vorhergegangenen OB-Wahl 2013 noch ihn gewählt zu haben. Im Gegensatz zum Wähler/innenpotenzial von Linkspartei und Grünen gäbe es hier einiges zurückzuholen.
Die Abstraktion von den vielen, häufig gegenläufigen und widersprüchlichen Interessen der Einwohner/innen, die in der Rede von ›der Stadt‹ steckt, verdeckt den Blick auf die urbanen sozialen Kämpfe und die diesen bzw. ihren (von der bürgerlichen (Kultur-)Soziologie in Schichten und Milieus zergliederten) Akteuren zugrundeliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse.
In ihrer Analyse des zweiten Wahlgangs kam die städtische Wahltagsbefragung zusammenfassend zu folgenden Ergebnissen: »Jung punktet vor allem im Bereich der gut qualifizierten Mitte mit moderatem Einkommen und erhält im Vergleich zum ersten Wahlgang mehr Stimmen aus der Studierendenschaft (und von Schülerinnen und Schülern)«, welche zuvor eher die Kandidatinnen von Linkspartei und Grünen gewählt hatten. »Gemkow (CDU) spricht im zweiten Wahlgang weiterhin vor allem gut Situierte sowie Rentnerinnen und Rentner an und gewinnt im Vergleich zum ersten Wahlgang bei den formal geringer Qualifizierten hinzu«, welche zuvor eher dem AfD-Kandidaten ihre Stimme gaben. Während das Thema »Sicherheit« bei den Unter-34-Jährigen kaum eine Rolle spielte und bei den 35-49-Jährigen etwa gleichauf mit den anderen abgefragten Themen »Sozialpolitik«, »Infrastruktur« sowie »Umwelt und Klima« lag, dominierte es in den Altersgruppen der 50-65-Jährigen und besonders der Über-65-Jährigen die Wahlentscheidung (beim Thema »Umwelt und Klima« verhielt es sich genau entgegengesetzt).
»Ältere Leipzigerinnen und Leipziger interessieren sich häufiger für Kommunalpolitik als jüngere. Ungleich dazu entwickelt sich das Gefühl der Bürgerinnen und Bürger, ›Einfluss auf das zu
haben, was in Leipzig geschieht‹. Ältere zeigen sich diesbezüglich resignierter. Wählerinnen und Wähler des CDU-Bewerbers Gemkow interessieren sich etwas häufiger für Kommunalpolitik, auch in den jüngeren Altersgruppen. Fehlende Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme kritisieren vor allem Befragte, die mit der Leipziger Kommunalpolitik unzufrieden sind.« Jung erhielt verhältnismäßig viele Stimmen von jungen Wähler/innen, welche sich im Generationen-Vergleich zwar weniger für Kommunalpolitik interessieren, jedoch die höchste Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Kommunal- und Bundespolitik zeigen. Unter Gemkows Wähler/innen äußerte sich hingegen immerhin jede/r sechste mit dem Funktionieren »unzufrieden« oder »sehr unzufrieden«. Zugleich bemängelte unter ihnen fast jede/r Dritte, trotz mitunter großen Interesses an der Kommunalpolitik keinen Einfluss auf diese zu haben.
Die Verschiedenheit der Präferenzen beruht wesentlich auf sich aus den materiellen Verhältnissen ergebenden Interessen. So haben die jüngeren, in den innerstädtischen Vierteln zur Miete wohnenden Wähler/innen mit geringem Einkommen ein großes Interesse an unterstützender Sozialpolitik, verfügbarer Infrastruktur und ›Umwelt‹-Themen – konkret: ›bezahlbaren‹ Mieten, ›bezahlbarem‹ Nahverkehr, Ausbau von Fahrrad-Wegen und Erhalt öffentlich zugänglicher Grünflächen, während die älteren, in den Suburbs mit eigenem Garten oder bei den Naherholungsgebieten lebenden Wähler/innen mit höherem Einkommen eher an einer Absicherung des (Wohn-)Eigentums und der uneingeschränkten Mobilität mit dem eigenen PKW interessiert sein dürften. Hier kommen neben Nutzungs- und Verteilungskonflikten wie im Bereich der Mobilität auch ganz widersprüchliche Interessen wie jenem nach einer Deckelung der Mieten, welches dem nach einer Wertsteigerung auch selbstgenutzten Grund- und Immobilieneigentums entgegensteht, zum Ausdruck. In der Rede von ›der Stadt‹ bzw. ihrer Repräsentation in Person und Amt des Ober-»Leipzigers« aber verschwimmen die gesellschaftlichen Widersprüche und ihre kommunalen Verlaufsformen.
Übrigens wurde, um zum Beginn dieses Textes zurückzukehren, die Leipziger CDU schlecht von ihrer österreichischen Werbeagentur beraten: Die Herkunft ist gar kein Alleinstellungsmerkmal Gemkows. Auch der AfD-Kandidat Christoph Neumann antwortete im kreuzer-Interview auf die Frage, warum er Oberbürgermeister Leipzigs werden sollte, kurz und knapp: »Weil ich Leipziger bin. Leipzig hat in den letzten Jahren seine Seele, den Leipziger Geist verloren. Gemeint ist das, womit wir 1989 die Wende geschafft haben. Mir ist klar, warum wir ihn verloren haben. Mittlerweile sind 60 Prozent der Einwohner Leipzigs keine echten Leipziger mehr, sondern seit 1990 hinzugezogen. Aus aller Herren Länder. Ich möchte versuchen, Leipzig diesen Geist, dieses Gefühl und diese Seele wieder zurückzugeben.«
Darauf indirekt hinzuweisen, dass den »Leipziger« Gemkow nicht unbedingt die Alteingesessenen wählten, blieb dem Politikwissenschaftler an der Universität Leipzig Hendrik Träger vorbehalten. »Jung sei im innerstädtischen Kern stark,« zitierte ihn die LVZ, »aber die Randbezirke, die teilweise vor 20 Jahren erst eingemeindet worden seien, wählten traditionell konservativer.« Soziographisch betrachtet waren es demnach nicht wenige ältere ›Neu-Leipziger‹, die dem jungen, eingeborenen »Leipziger« fast zum Sieg verholfen hätten. Aber das wäre eine andere Geschichte, mit der zu beschäftigen sich nur lohnte, wenn es wirklich darum ginge ...

von shadab

Anmerkungen

(1) Vgl. https://uebermedien.de/46568/macht-die-leipziger-volkszeitung-wahlkampf-fuer-die-cdu/

(2) Zur Bedeutung der sog. Runden Tische als Transmissionsriemen für den geordneten Übergang vom ›Staatssozialismus‹ zum demokratischen Kapitalismus am Ende der DDR schreibt die Leipziger Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke«: »Im Januar 1990 musste [...] in Leipzig die Stadtverordnetensammlung aufgrund der massiven Wahlfälschungsvorwürfe (Kommunalwahl vom 7. Mai 1989) geschlossen zurücktreten. Vertreter des ›Runden Tisches‹ der Stadt übernahmen damit auf kommunaler Ebene deren Funktion, ohne dass eine Legitimierung vorgelegen hätte. Diese Entwicklung ließ sich in vielen Städten und Gemeinden der DDR beobachten. Auch in Berlin verschwommen die institutionellen Grenzen zwischen DDR-Regierung und dem Z[entralen ]R[unden ]T[isch]. Höhepunkt dieser Tendenz war die formale Beteiligung des Gremiums an einer ›Regierung der nationalen Verantwortung‹ seit dem 28. Januar 1990. Der Wahltermin für die neue Volkskammer wurde auch deshalb vom 6. Mai 1990 auf den 18. März 1990 vorverlegt. Als das rechtmäßige Wahlergebnis feststand, hatte der ›Runde Tisch‹ seine Funktion verloren. Die staatliche Macht lag in den Händen einer durch freie, gleiche und geheime Wahlen legitimierten Volksversammlung.« (Hervorhebungen vom Autor)
Der Sozialwissenschaftler Steffen Mau schrieb in seinem Buch Lütten Klein über das Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft zum demokratischen Gehalt dieses Prozesses: »Es dauerte nur wenige Monate, ehe die Mechaniken der politischen Verriegelung wieder einrasteten und von beweglich auf starr, von richtungsoffen auf zielgerichtet schalteten. Für diesen Wechsel von einer kurzfristigen Massenmobilisierung hin zu einer Organisation von Interessen war die DDR-Gesellschaft jedoch kaum gerüstet. Die Initialerfahrung demokratischer Teilhabe war eine des Straßenprotestes, mit dem man sich Gehör verschafft und die Oberen zu Zugeständnissen gezwungen hatte, keine der breiten zivilgesellschaftlichen Beteiligung, politischer Selbstorganisation oder kollektiver Willensbildung. Wo hätte das auch herkommen sollen? Die DDR verfügte ja nicht über die Grundausstattung moderner bürgerlicher Gesellschaften, also über eine kritische Öffentlichkeit, freie Medien, politische Grundrechte, Gewaltenteilung etc. An den runden Tischen wurden zwar neue gesellschaftliche Verhandlungsmodelle erprobt, in stabile Repräsentationsformen konnten sie aber nicht überführt werden. Gemeinhin gilt die letzte Volkskammerwahl im März 1990 als die einzige Wahl der DDR, die demokratischen Grundsätzen entsprach. Man muss diese Einschätzung allerdings relativieren, rangen doch zum Teil Parteien und Personen miteinander, die eigentlich gar nicht zur Wahl standen. Auf den Marktplätzen der DDR kamen die Hauptredner aus Westdeutschland. Sie machten sich für die Kandidaten vor Ort stark, die zu reinen Platzhaltern degradiert wurden und deren politische Inhalte blass blieben. So kann man zwar im Hinblick auf die formalen Abläufe von freien Wahlen sprechen, die Standards eines fairen und offenen Wettbewerbs waren allerdings nicht erfüllt, da die neuen, unabhängigen Parteien zwischen den aus dem Westen gesteuerten Wahlplattformen und der nach wie vor finanz- und mitgliederstarke SED-Nachfolgepartei PDS förmlich zerrieben wurden. Vor allem das Wahlbündnis Allianz für Deutschland, bestehend aus der ehemaligen Blockpartei CDU, der neu gegründeten Deutschen Sozialen Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA), sowie die ostdeutsche SPD agierten ohne eigene politische Ideen und ohne elektorales Hinterland letztlich als Auftragnehmer westdeutscher Parteien, die im Osten mit aller Kraft Fuß fassen und sich längerfristig Wählerschaften sichern wollten. […]
Die letzte Wahl zur Volkskammer der DDR kann insofern nicht nur nach heutigen Standards als ein besonders eklatanter an Fall der Einmischung in die Wahlen eines zwar dem Untergang geweihten, aber immer noch souveränen Staates gelten. […]
Die nur kurze Blüte der lebendigen Demokratie und ihr abruptes Ende sind vor allem deshalb kritisch zu sehen, weil sie mit der Hinwendung zur Hilfe von ›außen‹ ebenjene etatistischen und nach ›oben‹ gerichteten Orientierungen erneut festsetzten, die man gerade im Begriff war abzustreifen. Nachdem man sich aus dem Teufelskreis des Tausches staatlicher Vergünstigungen gegen politische Loyalität befreit hatte, stellte sich nun eine neue, im Wesentlichen auf das Konsumniveau und die Verbesserung des materiellen Lebensstandards fokussierte Erwartungshaltung ein, die das politische System mit recht weitreichenden Forderungen belastete. Die heilsbringerischen Versprechen der Politik (›blühende Landschaften‹) taten ihr Übriges, um eine politisch-gesellschaftliche Dynamik der Erwartungen zu erzeugen, die früher oder später enttäuscht werden mussten.«
Gemkow war damals noch ein Kind. Die Lausitzer Rundschau berichtete in ihrem Porträt, dessen Untertitel mit der Frage »Sebastian wer?« beginnt: »Gemkows politische Biografie begann im Leipziger Herbst 1989, als er noch im Kinderopernchor sang. Nach den Proben, immer montags, nahm ihn der Vater mit zur Demo. Eine verstörende Erfahrung für einen Elfjährigen. Er lief mit, sah nur Beine, spürte die Gefahr. Die Tragödie kam mit 15, da starb der Vater. Hans-Eberhard Gemkow saß nach der Wende für die CDU als Ordnungsbürgermeister im Leipziger Rathaus.«

(3) Im Falle eines anderen Deutsch-Iraners, des wie Jung in Siegen geborenen Schriftstellers Navid Kermani, hatte Feist im Frühjahr 2014 einen Skandal ausgelöst. Kemani hatte in seiner Festrede zum 65. Jahrestag des Deutschen Grundgesetzes nach vielerlei Lob kritisiert, dass in Deutschland 1993 durch den sog. Asylkompromiss von CDU, CSU, FDP und SPD »das Asyl als Grundrecht praktisch abgeschafft« wurde. Feist bürgerte Kermani kurzerhand ideell aus, indem er auf seiner Facebook-Seite kommentierte: »Iraner belehrte uns gestern im Bundestag über das Grundgesetz in einem unerträglichen Duktus. Passend dazu sang er auch die Nationalhymne nicht mit. Aus meiner Sicht eine falsche Entscheidung, diesem Mann solch ein Podium zu bieten.« Vgl. https://www.chronikle.org/ereignis/eklat-bundestag-leipziger-cdu-mann-dr-feist-wei%C3%9F-deutsch

(4) Das Blog zweitgeborener.de hat auf einen Eintrag im Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten des deutschen Volkskundlers Lutz Röhrich hingewiesen, wonach die Redewendung im ursprünglichen Sinne »auf etwas Unmögliches weis[e ...]: ›Die Katze im Fischladen bringt auch keine Heringe zur Welt‹, d.h. das ist zu viel verlangt.« und interpretiert dies so, »dass ein Fischhändler einen Lieferanten seiner Waren braucht und eine Katze, um das Ungeziefer fernzuhalten. Aber beides von einer Katze zu verlangen, ist eben zu viel. [...] Eine englische Entsprechung wäre vielleicht: You can't have a cake and eat it, too.«

(5) Hierzu ebenfalls das Blog zweitgeborener.de: »In der kleinen Szene geht es zu Beginn um ein Formular, das die von Cohrs gespielt Figur angeleitet von seinem Antagonisten auszufüllen hat. In Dresden sei er geboren, sagt Cohrs und spielt dabei auch sich selbst. Darauf meint [der andere] Charakter, er könne ja schreiben, dass er ein Sachse sei. Das verneint Cohrs nun. Da seine Eltern aus Köln stammten und Rheinländer seien, müsse er ja auch ein Rheinländer sein und kein Sachse. Der Streit geht noch einige Zeit hin und her, bis zu der Pointe aus dem Munde Cohrs: Mensch, wenn 'ne Katze im Fischgeschäft Junge kriegt, sind's doch keine Heringe! […]
Der […] entscheidende Punkt ist die Sprache. Cohrs spricht diesen Satz in tiefstem Sächsisch und widerlegt seine Aussage damit unmittelbar. Es mag sein, dass seine Eltern Rheinländer sind. Wer aber in Dresden geboren und aufgewachsen ist, zudem ein solches Sächsisch spricht, der ist definitiv kein Rheinländer. Das von sich immer noch zu behaupten, ist das Absurde, was den Sketch so witzig sein lässt.« Damit der autobiographisch angelegte Sketch überhaupt funktioniert, hat Cohrs bei der Angabe der elterlichen Herkunft übrigens die mütterliche Seite unterschlagen. Seine Mutter stammte aus dem Vogtland.

(6) Weil die Rückfrage an den vor zehn Jahren von Brandenburg nach Leipzig gezogenen Reporter nach seiner Lieblingsfußballmannschaft nicht wie gewünscht aufging – er ist Fan der Handball-Mannschaft des SC DHfK Leipzig – wurde Feists Argumentation dann vollends konfus: »Ok, da haben Sie [sic!] sich jetzt noch mal gut rausgeredet. Aber Sie verstehen, was ich meine: Man hat einfach eine andere Beziehung und ich sag mal, wenn bei Ihnen [!] in Brandenburg, wo sie herkommen, irgendetwas passiert, dann ist das für Sie wahrscheinlich interessanter als für mich.« Um seine Behauptung über Burkhard Jung auf das Beispiel des LVZ-Reporters zu übertragen, hätte er diesem allerdings unterstellen müssen, allein schon aufgrund seines Zuzugs aus Brandenburg weniger an den aktuellen Lebensverhältnissen in Leipzig interessiert zu sein als ein in der Stadt Geboren- und Aufgewachsener.

(7) Vgl. Wagner, Thomas: Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln 2011, S. 47f.

(8) Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen. Ergänzbarer Kommentar mit weiterführenden Vorschriften, G § 51, Randnummer (Rn) 3.

(9) Um interessierten Leser/innen des mit reißerischem Titel aufgemachten Kreuzer-Interviews solcherlei Befürchtungen (oder Hoffnungen) zu nehmen, hatte die Redaktion aufgebrachte Gemüter sogleich mit dem als Untertitel verwandten Zitat »Es ist nichts Ideologisches« zu beschwichtigen versucht. In seinem Wahlkampf konzentrierte sich Gemkow hauptsächlich auf die Mobilisierung des eigenen Wähler/innen-Klientels und versuchte ansonsten durch weitestgehende Abwesenheit bei öffentlichen Podien eine möglichst geringe Angriffsfläche für politische Gegner/innen und damit wenig Grund zu Gegenmobilisierungen zu bieten.

(10) Für die Mitarbeiter/innen in den Redaktionsstuben der LVZ qualifizierte sich Gemkow tatsächlich weniger durch seine regionale als seine familiäre Herkunft für den Posten des Oberbürgermeisters. Redakteur Andreas Trappert hatte Jungs Herausforderer in seinem Artikel mit dem Titel »Wie die Gewalt nach Connewitz kam« folgend vorgestellt: »Mit Justizminister Sebastian Gemkow schickt die CDU auch einen Mann ins Rennen um Leipzigs OBM-Sessel, dessen Vater Hans-Eberhard Gemkow in den 1990er-Jahren als erster Ordnungsbürgermeister den Autonomen die Stirn bot.« Diese Aussage über den früh verstorbenen Vater ist sicherlich nicht falsch. In der Ausgabe des Spiegel von Ende Februar 1992 kann man allerdings auch nachlesen, wie Gemkows Vater sich zu dieser Zeit mehr noch von ›Extremist/innen der Mitte‹ herausgefordert sah. »Nach den Krawallen von Rostock«, heißt es dort, »besuchte der oberste Sicherheitsexperte der Stadt [Leipzig] aufgebrachte Bürger in der Umgebung des Asylbewerberlagers im Stadtteil Grünau, um für Toleranz zu werben. Die Reaktionen seiner Gesprächspartner - ›ganz biedere Familien‹ mit ›Hirschgeweih an der Wand‹ und ›Goldkettchen um den Hals‹ - machten den Mann ›absolut fassungslos‹. Kaum habe er den Leuten ›die Rechtslage erläutert und um Geduld gebeten, antworten die: ›Tja, dann werden wir das Haus eben mal abfackeln müssen‹‹. Das, schaudert es Gemkow, ›sagen die ganz freundlich zu mir, in einer Kaffeekränzchen-Atmosphäre‹.«

(11) Darauf, dass diese Herangehensweise keineswegs auf die Politik beschränkt ist, hat bereits im vergangenen Jahr Federica Matteoni in der Jungle World hingewiesen. Auch in der Reklame von Unternehmen stehen die Produkte und ihre Qualität »im storytelling der Werbebotschaften immer weniger im Vordergrund.« Im Unterschied zur Politik richtet sich das Marketing hier vornehmlich an die linksliberalen Konsument/innen: »Was zählt, ist die Marke, die sich als gesellschaftlicher Akteur inszeniert und durch ihre Stellungnahme zu den Fragen, die die Menschen bewegen, ihre Vision einer besseren Welt präsentiert. […] In der digitalen Medienwelt und in Social Media sind Nutzer permanent Werbung ausgesetzt. Diese wird zudem immer stärker personalisiert und daher invasiver. Man hat gelernt, Werbebotschaften zu umgehen und auszublenden, jedenfalls, solange diese als Werbung erkennbar sind. Wenn aber die Werbebotschaft [...] hinter einem gesellschaftspolitischen Statement versteckt wird, nennt sich das ›Haltung zeigen‹ und das kommt bei den potentiellen Kunden gut an.«
Ob die Einschätzung Manderthaners grundsätzlich richtig ist, soll hier nicht beurteilt werden. In der Nachwahlbefragung der Stadt Leipzig gaben (bei möglicher Mehrfachnennung) 20% (erster Wahlgang) bzw. 41% (zweiter Wahlgang) der Wähler/innen an, dass für sie die Orientierung am Kandidaten bzw. der Partei oder Einstellungen und Werte bewusst ausschlaggebende Gründe für ihre Wahlentscheidung waren.

(12) Vielleicht ist die Reduktion auf die Herkunft auch das Schicksal von Sebastian Gemkow. Bereits bei seiner Ernennung zum sächsischen Justizminister Ende 2014 wusste die Lausitzer Rundschau zu berichten, er habe in politischen Kreisen als »der Quoten-Leipziger« gegolten. Die CDU hatte in der Stadt damals ein Direktmandat an Jule Nagel (Linke) verloren und auch Gemkow hatte sich in seinem Wahlkreis nur knapp mit gut 300 Stimmen gegen seinen Herausforderer von der Linkspartei, Volker Külow, durchgesetzt. Bei der letztjährigen Wahl lagen dann tatsächlich mit Marco Böhme und Claudia Maicher zwei Kandidat/innen von Linkspartei und Grünen vor dem CDU-Kandidaten. Der Nachweis der vermuteten Wahlkampfhilfe durch das Ministeramt konnte dennoch nicht erbracht werden – der »Leipziger« Sebastian Gemkow zog über ein Direktmandat des Wahlkreises Nordsachsen 2 in den Landtag ein. Die erneute Häme über einen Wahlverlierer als OB-Kandidaten, wie sie Michael Kretschmer (CDU) bei der Übernahme des Ministerpräsidentenamts erfahren hatte, wollte die sächsische CDU tunlichst vermeiden.

(13) Ein Oberbürgermeister repräsentiert die Stadt qua seines Amtes nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Mehr noch als der Stadtrat, in welchem gegenläufige und widersprüchliche gesellschaftliche Interessen in Gestalt der einzelnen Fraktionen offen um Durchsetzung ringen können, ist der Oberbürgermeister dazu angehalten, die Vermittlung und Beherrschung innerstädtischer Widersprüche in seiner Person zu garantieren.

(14) »Sicherheit« war seit Beginn des Wahlkampfes das zentrale Wahlkampfthema der CDU, welches durch die Ausschreitung in der Silvesternacht am Connewitzer Kreuz, den Brandanschlag auf die Kräne einer Baustelle der CG-Gruppe, den Übergriff auf die Prokuristin eines Immobilienunternehmens und die Ausschreitungen bei der Demo zum linksunten.indymedia-Prozess befeuert wurde. Innenminister Wöller, mit welchem Gemkow die Soko LinX gegründet hatte, wird mittlerweile von der Linkspartei vorgeworfen, entgegen der Empfehlung des Leipziger Polizeipräsidenten Torsten Schultze seit Dezember 2019 die Öffentlichkeit nicht über Ermittlungen gegen ein kriminelles Netzwerk innerhalb der Leipziger und sächsischen Polizei informiert zu haben, um das Wahlkampfthema des CDU-Kandidaten, der auf Wahlplakaten unter anderem auf einem Fahrrad und mit einer Polizistin-Darstellerin posierte, nicht zu beschädigen.
Sozialpolitische Themen wie die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts oder die Verfügbarkeit von Wohnraum wurden auf Gemkows Wahlplakaten mit deutlich symbolischem Bezug auf das eigene Wähler/innenklientel behandelt: Auf einem Plakat mit dem Titel »Mehr Zusammenhalt« reicht der junge CDU-Kandidat einem alten, weißen Mann seine Hand, auf einem anderen fordert er »Bezahlbares Wohnen in jedem Alter«, ganz so als wären das Einkommen bzw. die Miethöhe an ein Lebensalter geknüpft.

(15) Diese betrifft im Wesentlichen seinen Freund und ehemaligen Kanzleipartner Denis van Ngoc, einen Kampfsportler mit einem Hund namens »Odin« und Kontakten in die Neonazi-Szene. Vgl. https://taz.de/Oberbuergermeisterwahl-in-Leipzig/!5657011/
Die Verantwortung Gemkows für die polizeiliche Überwachung der BSG Chemie Leipzig-Fangruppe Ultra Youth zwischen 2015 und 2018, in deren Rahmen auch Berufsgeheimnisträger wie Ärzt/innen, Journalist/innen und Steuerberater/innen abgehört wurden, spielte hingegen im Wahlkampf - soweit ich das übersehe - keine Rolle.

(16) Laut den Angaben bei der städtischen Wahltagsbefragung hatten im zweiten Wahlgang letztlich 8% von Gemkows Wähler/innen zuvor den Kandidaten der AfD und 2% den der FDP gewählt, was einem gemeinsamen Anteil an seinem Endergebnis von knapp 4,8%-Punkten entspricht. Hingegen haben 42% der Wähler/innen von Burkhard Jung zuvor etwa hälftig die Kandidatinnen von Linkspartei und Grünen gewählt, was gut 20,5%-Punkten seines Endergebnisses entspricht.

(17) Siehe auch: Ein neuer Ordnungsbund für Thüringen, in: CEE IEH #261, online: www.conne-island.de/nf/261/3.html

03.08.2020
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