Der folgend dokumentierte Text erschien zuerst im Januar auf der Website der marxistischen Theoriezeitschrift Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft (www.exit-online.org). Es handelt sich dabei um eine für die Homepage leicht gekürzte und mit kleinen Änderungen versehene Version eines Beitrags in dem 2018 vom Ökumenischen Netz Rhein-Mosel-Saar herausgegebenen Band Die Frage nach dem Ganzen – Zum gesellschaftskritischen Weg des Ökumenischen Netzes anlässlich seines 25jährigen Bestehens.
Wir müssen doch etwas tun!
Handlungsfetischismus in einer reflexionslosen Gesellschaft
1. Handeln und Wandeln
Vom Kampf um eine Einwanderungs- und Postwachstumsgesellschaft in Europa lautete das Motto des medico-Stiftungssymposiums 2016.(1) Der österreichische Journalist und Schriftsteller Robert Misik wandte sich gegen den Angstdiskurs der Rechten wie der Linken. Während von rechts Ressentiment und Gewaltbereitschaft gefördert würden, werde von links die Ohnmacht bestärkt.(2) Was hilft nun gegen Angst und Ohnmacht?
»Handlungsmacht gewinne zurück, wer sich der ersten Tugend kritischen Denkens bediene: die andere Welt nicht ›im Wegsehen vom schlechten Bestehenden‹, sondern mitten in der ›wirklichen Bewegung‹ zu suchen, ›welche den jetzigen Zustand aufhebt‹«, heißt es in Anlehnung an Karl Marx bei medico.(3) Und die »wirkliche Bewegung« im 21. Jahrhundert ist schnell gefunden. Neben »ausdrücklich politischen Neuerungen« sind es die »alltäglichen Veränderungen der zwischenmenschlichen Beziehungen wie der sie tragenden ethisch-moralischen Einstellungen«(4). Als Beispiele werden genannt: praktische Solidarität mit den Geflüchteten, selbstorganisierte Solidarkliniken, Nachbarschaftsnetzwerke.(5)
Das alles mag durchaus sinnvoll sein. Nur müsste vom selbst formulierten Anspruch deutlich werden, wieso diese Aktivitäten nicht nur sinnvolle Notmaßnahmen sind, sondern »den jetzigen Zustand« aufheben. Dieser Zustand kann aber nur aufgehoben werden, wenn er erkannt ist, d.h. wenn klar ist, was denn aufgehoben werden soll. »Wirkliche Bewegungen« können dann nur solche sein, die darauf ausgerichtet sind, den »jetzigen Zustand« zu erkennen, um ihn »aufheben« bzw. – genauer und weniger hegelianisch gesagt – ihn überwinden zu können.
Soziale Bewegungen – von den traditionellen Arbeiterbewegungen bis hin zu den neuen sozialen Bewegungen – bewegen sich da reichlich ›im Trüben‹. Die Spannweite reicht von der Flucht ins Konkrete bis ins Allgemeine – je nach Bedarf. Mal sind es konkrete Projekte oder konkrete HandlungsträgerInnen, an die Forderungen gerichtet werden, mal sind es allgemeine ethisch-moralische Appelle oder abstrakte Visionen, die Orientierungen für das Handeln versprechen. Um jeden Preis vermieden werden soll jedoch die Frage, was denn die einzelnen Erscheinungen von der Flucht von Menschen bis hin zur permanenten Verschlechterung der Arbeits- und sozialen Rahmenbedingungen, die uns »im schlechten Bestehenden« begegnen, mit der Totalität der zu überwindenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu tun haben. Weil diese Frage aus Angst vor lähmender politischer Ohnmacht nicht gestellt werden darf, soll das Heil in einem Handeln gesucht werden, das zwischen Projekten, ›Fürbitten‹ an wirtschaftliche und politische Akteure und ethisch-moralischen Predigten, zwischen ›konkret‹ und ›allgemein‹ hin und her springt. Solches Handeln muss im Blick auf den »aufzuhebenden Zustand« – wie es bei medico heißt – unbestimmt bleiben. Seine Unbestimmtheit verschafft sich Ausdruck in aktionistischen Leerformeln wie: Wir müssen etwas tun – also: Hauptsache etwas tun, was auch immer dies sei –, oder sie mündet ein in moralisierende Appelle wie: Wir müssen uns verändern. Wandel ist alles. Er muss »zur DNA werden« – wie uns der neue NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart von der FDP einschärft.(6)
Zwei Problemzusammenhänge werden hier deutlich: Zum einen ist sowohl im Arbeiterbewegungsmarxismus als auch in der Gestalt sozialliberaler Reformen sowie im alltäglichen Lebensvollzug beim Handeln die Wert-Abspaltungsvergesellschaftung – also das »warenproduzierende Patriarchat« (Roswitha Scholz)(7) – als gesellschaftliche Fetischform immer schon unreflektiert vorausgesetzt. Zum zweiten tritt mit der sich verschärfenden Krise des Kapitalismus eine neue Situation ein. Die Spielräume des Handelns werden enger, weil sie auf die Grenzen stoßen, die durch die gesellschaftliche Form gesetzt sind. Sie lassen sich nicht durch eine Anstrengung des Willens – nach dem Motto ›wer will, der kann‹ – überwinden. Diese beiden Problemzusammenhänge gilt es zu reflektieren.
2. Handeln als Kampf um Gleichheit und politischen Einfluss in der kapitalistischen Form
Der Theologe Ton Veerkamp beklagt die Alternativlosigkeit, in die Fukuyamas Rede vom Ende der Geschichte in freiem Markt und Demokratie führt:
»Das neue Evangelium Fukuyamas war auch das Ende der großen Erzählungen der abendländischen Bourgeoisie, der Erzählung von wahrer Liberté, Freiheit, wahrer Égalité, Gleichheit, wahrer Solidarität, wie wir die Fraternité heute nennen. Sie wurde fortgeschrieben in der Großen Erzählung der Arbeiterbewegung, der Erzählung derer, die die Erzählung der Bourgeoisie ernst nahmen, wahre Freiheit, wahre Gleichheit, wahre Solidarität, nicht nur in der Kirche, auch in der Fabrik.«(8)
Die Geschichte der Arbeiterbewegung wird hier zur Fortsetzung bzw. zur Vollendung der bürgerlichen Geschichte. Sie wird dadurch vollendet, dass ihre Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität auf alle hin verlängert werden. Die versprochene Gleichheit soll auch für diejenigen Wirklichkeit werden, die vor allem als Arbeiter von den Segnungen der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen waren. Gleichheit soll nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Fabrik gelten. Auf Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft zielten nicht nur der größte Teil der Arbeiterbewegung, sondern auch die größten Teile von Sklaven- und Frauenbewegung.
Insbesondere in der Arbeiterbewegung wurden die Kämpfe im Zusammenhang des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit gesehen. Das Kapital repräsentierte dabei den Standpunkt der Herrschaft, die Arbeit den der Befreiung. Gesellschaftliche Machtverhältnisse stellten sich in der Macht des Kapitals über Produktionsmittel sowie Arbeit und damit über die Mittel dar, die für das Leben von Menschen unverzichtbar sind.
Es soll nun gar nicht in Abrede gestellt werden, dass die Befreiungskämpfe als Kämpfe um Beteiligung und Gleichheit das Leben von Menschen erleichtert haben. Spätestens angesichts des Scheiterns des Sozialismus wäre jedoch selbstkritisch zu reflektieren gewesen, dass alle Emanzipationsversuche zu kurz greifen, wenn sie sich innerhalb des von Kapital und Arbeit und gleichzeitig im Rahmen des abgespaltenen Bereichs der Reproduktion konstituierten gesellschaftlichen Fetischzusammenhangs bewegen. In ihm sind Wert und Abspaltung immer schon vorausgesetzt, der Wert, insofern die kapitalistische Gesellschaft auf den irrationalen und abstrakten Selbstzweck der Vermehrung des Geldes durch die Produktion von Waren, also durch die Produktion von Wert und Mehr-Wert ausgerichtet ist, die Abspaltung, insofern die weiblich konnotierte Reproduktion die stumme Voraussetzung der Warenproduktion darstellt.
Verkannt wird, dass ebenso wie Kapital und Arbeit auch Staat und Politik den Fetischzusammenhang der kapitalistischen Gesellschaftsform mit konstituieren. Sie sind abhängig vom Verwertungsprozess und können nur in den Spielräumen, die von der Wertschöpfung ermöglicht werden, gestalten und steuern. In diesem Rahmen nimmt der Staat seine Aufgabe als »ideeller Gesamtkapitalist« (Friedrich Engels) wahr. Angesichts der zusammenhanglos konkurrierenden Einzelunternehmen ist es seine Aufgabe, einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen für Produktion und Reproduktion zu schaffen. Dies kann er nur, insoweit der Wertschöpfungsprozess ihm dazu die nötigen Mittel zur Verfügung stellt.
Eingebettet in den kapitalistischen Fetischzusammenhang ist auch das sich autonom und frei dünkende Subjekt. Seine autonome Erkenntnis scheint voraussetzungslos, sein Handeln wesentlich von seinem Willen gesteuert. Dabei ist sein Denken und Handeln immer schon dem unreflektiert vorausgesetzten Sachzwängen des Verwertungszusammenhangs und der von ihm abgespaltenen reproduktiven Grundlagen unterworfen. Was ihm als freies Denken und Handeln erscheint, hat immer schon den kapitalistischen Fetischzusammenhang als selbstverständliche und unreflektierte Gegebenheit affirmiert.
Auf dieser Grundlage wird das Subjekt zum Handlungsträger der abstrakten Arbeit. Waren in vormodernen Gesellschaften von Mühsal geprägte Tätigkeiten der Notwendigkeit eines ›Stoffwechsels mit der Natur‹ auf niedrigem Stand der Produktivkraftentwicklung geschuldet, ist in modern kapitalistischen Gesellschaften bei höher entwickelter Produktivkraft die Arbeit dem Zwang unterworfen, dem abstrakten und irrationalen kapitalistischen Selbstzwecks zu dienen, abstrakten Reichtum zu produzieren, der sich quantitativ in Geld ausdrückt und gleichgültig gegenüber seinem stofflichen Inhalt ist. Das Konkrete ist nur als Träger von etwas Abstraktem zu haben, der Gebrauchswert der Ware nur als Träger des Tauschwerts, der stofflich-inhaltliche Reichtum nur als Träger des abstrakten Reichtums.
Die dem kapitalistischen Selbstzweck der Vermehrung abstrakten Reichtums unterworfene Arbeit gehört zur Konstitution einer abstrakten und bewusstlosen, vom Denken und Handeln der Akteure unabhängigen Herrschaft. Marx hat sie mit dem paradoxen Begriff des »automatischen Subjekts«(9) beschrieben. Das Subjekt steht im Dienst eines Automatismus, in dem Geld als Kapital eingesetzt wird, um durch die Verausgabung abstrakter Arbeit Wert und Mehr-Wert zu produzieren, der sich nach dem Tausch der Waren in Mehr-Geld ausdrückt. Der Automatismus braucht Subjekte, die ihn in Bewegung bringen und halten. Insofern ist das Subjekt »der Handlungsträger eines blinden Systemzusammenhangs, der durch sein eigenes vorstrukturiertes Handlungsmuster hindurch das ›automatische Subjekt‹ zur Bewegung bringt«(10).
Dann aber ist das Subjekt gerade nicht autonom, sondern eingebunden in »die Selbstbewegung der kapitalistischen Realkategorien«. Diese wurden von Menschen »unbewusst geschaffen«. Sie haben sich nun »gerade dadurch verselbständigt …, dass die Individuen in diesen Kategorien ihr Leben vollziehen und sich nichts anderes mehr vorstellen wollen und ihr Heil auf Biegen und Brechen darin suchen, dass sie den von dieser Matrix hervorgebrachten Anforderungen genügen«(11). Ihr Denken und Handeln ist von diesem unbewusst geschaffenen, verselbständigten und nicht reflektierten Fetischzusammenhang bestimmt. Deshalb ist auch politisches Handeln fetischistisch. Es bewegt sich innerhalb der mit der Fetischform gesetzten Polaritäten von Markt und Staat bzw. Ökonomie und Politik, Praxis und Theorie. So kann – je nach Konstellation – der Sozialstaat gegen den Markt angerufen, der Markt neoliberal gegen den Staat stark gemacht, Praxis gegen Theorie ausgespielt bzw. Theorie in den Dienst der Praxis gestellt werden.
In sozialen Bewegungen wird politisches Handeln vor allem zur Frage politischen Willens bzw. der Interessen, die gegen politisch-ökonomische Macht durchgesetzt werden sollen. Mit einer Verschiebung der Machtbalance innerhalb der mit der kapitalistischen Form und der mit ihr gesetzten Polaritäten, also zwischen Kapital und Arbeit, Markt und Staat, Theorie und Praxis, lässt sich aber der ›jetzige Zustand‹ nicht ›aufheben‹ bzw. überwinden. Immer schon sind Kapital und Arbeit als Fetischzusammenhang vorausgesetzt und werden nicht zur Disposition gestellt ebenso wenig wie die Abspaltung der Reproduktion und das patriarchale Geschlechterverhältnis. Die Menschen als gesellschaftliche Wesen bleiben den Bewegungen der von ihnen produzierten Waren und der durch sie konstituierten gesellschaftlichen Verhältnisse eines ›warenproduzierenden Patriarchats‹ untergeordnet. Ihr Denken, ihr Wille und ihr Handeln werden durch die abstrakte Herrschaft gebrochen, die sich durch Wert und Abspaltung konstituiert.
Als Handlungsträger abstrakter Arbeit, der in den Fetischzusammenhang von Arbeit und Kapital eingebunden ist, kann das Subjekt kein ›revolutionäres Subjekt‹ sein. Durch seine Einbindung in den Fetischzusammenhang ist sein vermeintlich autonomes Denken und Handeln auf den Rahmen reduziert, der von der gesellschaftlichen Form gesetzt ist. Darin erweist sich das Subjekt als »eine Kategorie des Kapitals selbst, oder eine Funktion des ›automatischen Subjekts‹ von abstrakter Arbeit und Wert«(12). Dann wird auch die Kategorie der Praxis bzw. des Vorrangs der Praxis vor der Theorie problematisch. Die Praxis der Subjekte ist, bevor noch gedacht wird, immer schon eingebunden in die herrschenden Fetischformen, die dem handelnden Subjekt plausibel erscheinen:
»Arbeiten, Geldverdienen usw., aber auch Geschlechterverhältnisse vollziehen sich in gewisser Weise ähnlich wie die Wildsau nach Eicheln wühlt oder wie die Spinne ihr Netz webt. Deshalb erscheint auch das Absurde, dass die Individuen nicht bewusst gesellschaftlich handeln, sondern nach blinden Mechanismen, als das Selbstverständliche und immer schon vorausgesetzte. Das Bewusstsein der Individuen, eben weil sie getrennt sind von den Mechanismen und den Fetischformen und deren Mechanismen, bezieht sich nicht auf den gesellschaftlichen Charakter ihres Handelns, sondern auf das vorgegebene immanente Kalkül nach den vorgegebenen Kriterien in diesen immanenten Formen.«(13)
Ebenso wie die Praxis der Subjekte bleibt auch die unter dem Primat solcher Praxis produzierte Theorie eingebunden in den reflexionslos vorausgesetzten Fetischzusammenhang. Solche Theorie wird entweder – z.B. in Gestalt von BWL/VWL oder auch der Systemtheorie – zur Rechtfertigung der in der Praxis vorausgesetzten Verhältnisse oder zur Begründung einer Praxis der Modernisierung der Verhältnisse, die Veränderung im Rahmen der vorausgesetzten gesellschaftlichen Formen und damit durch Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb des Fetischzusammenhangs von Kapital und Arbeit, Markt und Staat etc. sucht. Solche Theorie tritt in den Dienst praktischer Widerspruchsbearbeitung. Sie bewegt sich in den Spuren, die der Kampf um Anerkennung in den Rechts- und Staatsformen und um Selbstbehauptung in den Formen abstrakter Arbeit, Wert und Abspaltung gelegt haben.(14)
3. Handeln in einer »reflexionslosen Gesellschaft«
3.1 Grenzen des Handelns in der Krise des Kapitalismus
Je weiter die Krise des Kapitalismus voranschreitet, werden die Spielräume für das Handeln in den vorausgesetzten Fetischformen enger. Entsprechend stoßen die Akteure individuellen und politischen Handelns auf die Grenzen ihres Handelns und erfahren darin ihre individuelle und politische Ohnmacht. Die Krise des Kapitalismus berührt insofern die Handlungsfähigkeit der Subjekte als deren Grundlage die Verausgabung von Arbeit ›Substanz des Kapitals‹ ist. Aufgrund des mit dem Kapital verbundenen »prozessierenden Widerspruchs« (Karl Marx) ist das in der Konkurrenz produzierende Kapital gezwungen, Arbeit durch Technologie zu ersetzen. Dieser logische Widerspruch stößt mit den mikroelektronischen Revolutionen auch historisch auf nicht mehr zu kompensierende Grenzen, da nun mehr Arbeitssubstanz entsorgt werden muss als durch Ausweitung und Verbilligung der Produkte kompensierbar wäre. Damit aber untergräbt der Kapitalismus nicht nur seine eigenen Grundlagen, sondern auch die Handlungsfähigkeit der Subjekte als Handlungsträger der abstrakten Arbeit.
Die Illusion der Handlungsfähigkeit wird dennoch aufrecht erhalten, insofern auch das Geld getreu postmoderner Logik, in der die Welt aus einer Vielfalt von Zeichen besteht, aus seinem objektiven Zusammenhang gelöst und zum Zeichen erklärt wird. Seine Geltung löst sich aus dem objektiven Zusammenhang der Warenproduktion, in dem es abstrakte Arbeit und so Wert und Mehr-Wert repräsentiert. Aufgrund einer gesellschaftlichen Konvention wird es als gültig anerkannt. Entsprechend kann die Geldmenge je nach ökonomischen Notwendigkeiten vermehrt werden. Über die Verfügung über die Geldmenge scheinen sich neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen – bis hin zu alternativen Träumen, über eine Transaktionssteuer sowohl Stabilität sichern als auch Geld für soziale Investitionen freisetzen zu können. Die negative Realität scheint übersprungen werden zu können und sich in eine alles bestimmende Intentionalität aufzulösen. Gegenüber solchen Illusionen hat Robert Kurz darauf hingewiesen, dass »die Bedeutung einer objektiven Gültigkeit (im Sinne des verselbständigten und verdinglichten Fetischverhältnisses)« nicht im Sinne einer »›Gültigkeit‹ als subjektiver ›Geltung‹ (im Sinne der bürgerlichen Vorstellung von Vertrag und Dekret)«(15) verstanden werden dürfe. Die ›objektive Gültigkeit‹ des Geldes ergibt sich daraus, dass es die Verausgabung ›abstrakter Arbeit‹ und damit Wert darstellt. Fiktives Geld kann nur solange die Krise verlängern als der Zusammenhang mit der Verausgabung abstrakter und der damit verbundenen Produktion von Wert und Mehr-Wert nicht zerreißt.
Wie sehr dieser Faden einer Zerreißprobe ausgesetzt ist, zeigt das im Verlauf der Krise immer schnellere Wechselspiel zwischen den kapitalistischen Polaritäten von Markt und Staat, Ökonomie und Politik. Angesichts der sich verschärfenden staatlichen Finanzierungs- und ökonomischen Verwertungskrisen setzte der Neoliberalismus auf die Stärkung von Markt und Ökonomie durch Privatisierung, Deregulierung und Sozialabbau. Gegen die vermeintliche Allmacht der Ökonomie und die wachsenden sozialen Probleme riefen Gewerkschaften und soziale Bewegungen den Staat und seine Regulierungsmacht an. Ein Ausweg schien in der wundersamen Vermehrung des Kapitals ohne Umweg über die reale Warenproduktion durch den Kauf und Verkauf von Finanztiteln gefunden zu sein. Kreiert wurde eine simulierte Akkumulation mit dem Ergebnis von »Geld ohne Wert« (Robert Kurz), von dessen Tropf die Realwirtschaft über globale Defizitkreisläufe abhängig wurde. Die ›natürlichen‹ Grenzen einer simulierten, von Geld ohne Wert getragenen Wirtschaft zeigten sich immer wieder im Platzen der Blasen. Vor allem das Platzen der Immobilienblase rief zwecks Rettung der »systemrelevanten Banken« (Angela Merkel) den Staat wieder auf den Plan. Deutlich wird, dass nicht nur die staatlich vorangetriebenen Modernisierungsprozesse in Ländern der Zweidrittelwelt mit dem Zerfall der nicht mehr finanzierbaren Staaten an ihr Ende kommen, sondern auch das Ping-Pong zwischen Markt und Staat bzw. Ökonomie und Politik in den Ländern des globalen Nordens.
3.2 Falsche Unmittelbarkeit in einer »reflexionslosen Gesellschaft«
Angesichts all der gesellschaftlichen Krisen- und Katastrophenerfahrungen läge es nahe, die Grenzen kapitalistischer Vergesellschaftung kritisch zu reflektieren. Stattdessen wird theoretisches Denken denunziert, das einzelne Erscheinungen im Zusammengang gesellschaftlicher Verhältnisse zu reflektieren sucht. Bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte Robert Kurz den Weg in eine »reflexionslose Gesellschaft« diagnostiziert:
»Der reale gesellschaftliche Widerspruch, der in der bisherigen Weise nicht mehr bewältigbar ist, soll einfach aus dem Denken verbannt werden. Das dunkle Ende der modernen Entwicklung wird absurderweise gefeiert als Übergang zu einem ›illusionslosen Pragmatismus‹. Zusammen mit der Gesellschaftskritik hört das reflexive Denken überhaupt auf.«(16)
Der mit der inneren logischen Schranke verbundene Widerspruch, Arbeit für die Vermehrung von Kapital zu benötigen, sie aber zugleich aufgrund der Konkurrenz, die zu Effektivität und Verbilligung zwingt, durch Technologie ersetzen zu müssen, konnte solange in der kapitalistischen Immanenz bearbeitet werden, als hinreichend Möglichkeiten zur Kompensation der zum Verschwinden gebrachten Arbeit vorhanden waren. Dadurch, dass die logische Schranke nun auch auf ihre historischen Schranken stößt und damit aktuell wird, läge die Perspektive nahe, diese Schranken und mit ihnen das Ende der kapitalistischen Vergesellschaftung zu reflektieren. Insoweit sich das Denken innerhalb der unreflektiert vorausgesetzten gesellschaftlichen Formen bewegt, stößt es mit der logischen und historischen Schranke der Kapitalverwertung auch auf die Grenzen der ihm möglichen Reflexion. Auch die Reflexion bekommt die Ohnmacht zu spüren, die mit der Objektivität der Verhältnisse gesetzt ist. Es gibt immanent keine Praxis mehr, auf die hin im Interesse von Veränderung gedacht werden könnte. Statt aber nun diese immanenten Grenzen des Handelns und der Reflexion selbst zum Gegenstand kritischer Reflexion zu machen, stellt die Reflexion ihren Betrieb ein.
Und dennoch wird gehandelt. Schließlich ›muss‹ die Krise ›verwaltet‹ werden – u.a. durch Sozialabbau und Aktivierung der Unternehmen sowie der Einzelnen. Je weiter die Krise voranschreitet, desto deutlicher zeigen sich jedoch auch die Grenzen ihrer Verwaltbarkeit. So wird erkennbar: Das Spiel ist aus – sowohl das Spiel, Geld ohne Wert im Casino zu vermehren und die mit ihm verbundenen Illusionen des ›Alles geht‹ als auch das Ping-Pong-Spiel zwischen Markt und Staat, das versucht, die Krise zu strecken. Mit der verschwindenden Arbeit verlieren beide – Markt und Staat – ihre Grundlage. Letzteres zeigt sich vor allem in den Phänomenen zerfallender Staaten und der sich in den Leerräumen ausbreitenden Plünderungsökonomien(17). Aber auch hier entsteht ›Handlungsbedarf‹: Es wird militärisch interveniert, um die verbleibenden Akkummulationsräume vor der Gewalt, die von den Zusammenbruchsregionen droht, ebenso wie vor den Flüchtenden zu schützen. Einem so ›dringlichen Handlungsbedarf‹ will auch der Vorsitzende der Deutschen Kommission Justitia et Pax und Bischof von Trier, Stefan Ackermann, seinen Segen nicht verweigern. »Die Stärkung der europäischen Kooperation – wo zielführend auch militärisch – ist eine Voraussetzung für die geforderte langfristige Handlungsfähigkeit.« Vor dem Hintergrund des Kampfes gegen den Terrorismus sei die militärische Beteiligung der Bundesrepublik gut nachvollziehbar, lässt die bischöfliche Pressestelle Trier den Bischof verlauten.(18)
Auf eine mit sich verschärfender Krise immer autoritärer durchgesetzte Krisenverwaltung läuft jener »illusionslose Pragmatismus« hinaus, der sich rühmt, auf lästigen Reflexionsballast in Gestalt theoretischen Nachdenkens verzichten zu können und zugleich kritisches Nachdenken als überflüssige und abgehobene elitäre Theorie denunziert, die an den konkreten Problemen der Menschen vorbeigehe. Im Horizont leichter Gedanken und leichter Sprache liegt für viele ein leichterer Weg nahe: Statt der als zu theoretisch erscheinenden kritischen Auseinandersetzung mit den Verhältnissen werden in »falscher Unmittelbarkeit« (Theodor W. Adorno) Schuldige konkretisiert – in ›den‹ Ausländern, ›den‹ Flüchtlingen, ›den‹ PolitikerInnen, ›den‹ Bankern etc. Die reflexionslose Wut besorgter BürgerInnen bekommt einen Gegenstand, an dem sie sich ausagieren kann.
Die Hinwendung zu einer entlastenden falschen Unmittelbarkeit, die sich in Konkretismen zeigt, ist nicht erst mit der verstärkten ›Wende nach rechts‹, wie sie bei der Bundestagswahl 2017 offensichtlich wurde, vom Himmel gefallen. Bereits vor der Finanzkrise 2008 waren die Indikatoren für falsche Unmittelbarkeit und Konkretismus sichtbar:
2005 wollte Franz Müntefering die erstarrte SPD mit konkretisierender ›Kapitalismuskritik‹ wieder etwas verlebendigen. Er rückte die »Heuschreckenplage« in den Fokus der Aufmerksamkeit. Als Problem wird das ›raffende Finanzkapital‹ ausgemacht. Wenn ihm das Handwerk gelegt werde, wären die Probleme gelöst. Dass mit der Unterscheidung zwischen gutem schaffenden und bösem mit Juden konnotiertem ›raffendem Kapital‹ struktureller oder auch direkter Antisemitismus bedient wird, ist für eine solche angebliche Kapitalismuskritik kein Problem, sondern ein Vorteil: können doch damit diejenigen erreicht werden, die angesichts der Krise abstrakter Arbeit als prekäre LohnarbeiterInnen zwischen wechselnden Lohnarbeitsverhältnissen, Scheinselbständigkeit und staatlichen Leistungen auf dem Markt zirkulieren müssen – d.h. in Verhältnissen, in denen jeder zum »Kleinbürger seiner selbst« wird(19), der als individualisiertes Humankapital auf konkretisierende rechtspopulistische Parolen ansprechbar ist.
Dem entspricht die Individualisierung der gesellschaftlichen Krise, in der jeder zum Unternehmer seines Humankapitals werden soll und verpflichtet ist, sich in Prozessen permanenter Selbstoptimierung konkurrenzfähig zu halten, und sich so präsentieren soll, dass er oder sie durch Hingucker-Design auffällt. Dabei bleiben Selbstoptimierung und -Präsentation inhaltsleer. Bei der Selbstoptimierung geht es um die Optimierung formaler Kompetenzen und bei der Selbst-Inszenierung darum, durch was auch immer auffällig zu sein.
Der Einzelne ist nicht nur »Ich-AG«, sondern soll auch noch »Deutschland« sein, wie die 2005 durchgezogene Kampagne propagierte. »Während die Deutschland AG real ökonomisch abgewickelt wird, soll mitten im Hurrikan des globalisierten Krisenkapitalismus die deutsche Volksgemeinschaft als ideologische Not- und Zwangsgemeinschaft auferstehen.«(20) Da kam der »Zustand des patriotischen Optimismus«, wie ihn Jürgen Klinsmann angesichts des Sommermärchens der Fußball WM »im eigenen Land« mit Deutschlandfahnen allerorten feststellte, gerade recht.(21)
Hinter der sich schon in den genannten Beispielen abzeichnenden falschen Unmittelbarkeit zeigt sich das Bedürfnis, Problemlagen zu konkretisieren und sie handlungsfetischistisch zu bannen. Es ist kein Zufall, dass in diesem Konglomerat der Krisenverdrängung, die Inhaltlichkeit und reflektierendes Nachdenken marginalisiert, Pegida, AfD etc. wachsen und gedeihen können. In ihnen artikuliert sich das gesellschaftliche Bedürfnis, für komplexe Problemlagen in falscher Unmittelbarkeit Schuldige zu konkretisieren. Sie werden angeboten in ›den‹ Ausländern, ›den‹ Flüchtlingen, ›den‹ Bankern, ›den‹ Politikern. Was sich an den vermeintlichen Rändern der Gesellschaft zeigt, ist jedoch kein ›Randphänomen‹, sondern Ausdruck von Vorgängen in der ‚Mitte’ der Gesellschaft, die sich auch im sog. ›linken‹ Spektrum zeigen: in der strukturellen oder auch direkten antisemitischen Konkretisierung der Krise des Kapitalismus auf den Casinokapitalismus, in der Polarisierung von deutschen und ausländischen Armen in der Partei
Die Linke. Solch unmittelbare Konkretisierungen eröffnen Möglichkeiten für ein unmittelbares Handeln. Wenn Schuldige und Verantwortliche identifiziert sind, scheinen komplexe Probleme handhabbar. Sie können scheinbar »durch unmittelbares Handeln aus der Welt geschafft werden. Statt der Einsicht, dass es in der Wert-Abspaltungsform keine Lösungen geben kann, wird versucht, die entstehende Ohnmacht handlungsfetischistisch zu bannen.«
(22)
In den die Krise aggressiv verleugnenden und verdrängenden Prozessen, in denen sich die falsche Unmittelbarkeit des Handelns mit der Eliminierung von inhaltlicher Reflexion verbindet, verschafft sich ein narzisstischer Sozialcharakter Ausdruck. Er entsteht im Zusammenhang der Krise des Kapitalismus, die von Individuen zu verarbeiten ist, die in die Subjektform gepresst sind. Mit Arbeit und Familie brechen die Grundlagen bürgerlicher Subjektivität ein. Dem Arbeitssubjekt geht die Arbeit aus und die Familie als Ort der Reproduktion verliert ihre Grundlage. Damit zerbrechen die mit der Arbeit und ihrem Versprechen auf Erfolg und Wohlstand verbundenen Sublimierungsmöglichkeiten bürgerlicher Subjektivität. Angesichts leerer Versprechungen macht Triebaufschub eben so wenig einen Sinn wie die verbindliche Bindung an ein Objekt. Bedürfnisse schreien nach unmittelbarer Befriedigung durch eine immer neue Mutterbrust, Probleme nach einer unmittelbaren Lösung durch die Konkretisierung Schuldiger und entsprechend unmittelbare Handlungsstrategien. Der Bezug zur äußeren Welt der Objekte ist grundlegend gestört. So steht der narzisstische Sozialcharakter unter dem Zwang, sich Objekte einzuverleiben oder sie als bedrohlich abzuwehren bzw. sie zu zerstören.
(23) In dieser Matrix sind inhaltliche Fragen nur dann bedeutsam, wenn sie »in unmittelbarem Bezug auf das eigene Selbst wahrgenommen und verarbeitet werden«
(24) können bzw. als persönliche Fragen Betroffenheit auslösen und handhabbar sind. Andernfalls werden sie als kränkende Überforderung oder Bedrohung verleugnet oder aggressiv abgewehrt.
Dies hilft verstehen, warum Menschen so allergisch, entweder ignorierend oder aggressiv abwehrend, auf anstrengende, komplexe Analysen reagieren, die als ohnmächtig machend erlebt werden und zudem einen Ausweg in die falsche Unmittelbarkeit von Konkretismus und Handlungsfetischismus versperren. Sie halten weder reflektierende Distanz noch die fehlende unmittelbare Handlungsstrategie aus.
Je weiter die Krise voranschreitet, scheinen reflexionslos werdende Menschen in einem autoritären und aggressiven Antiintellektualismus, mit der Welt, wie sie ist, zu verschmelzen. Individuen, die zu Subjekten zugerichtet werden, drohen eins zu werden mit ihrer Verwertung bzw. mit ihrer Ausgrenzung im Zustand ihrer Entwertung.
Reflexion als die Fähigkeit, neben sich zu treten, um sich selbst und die Verhältnisse gleichsam ›von außen‹ anzusehen, scheint schwieriger zu werden. Die Erkenntnis, als vermeintlich selbstbewusstes Subjekt, nur Anhängsel oder Material eines Verwertungsprozesses und der mit ihm einhergehenden Abspaltungsmomente zu sein, ist schmerzlich, weil ent-täuschend, d.h. desillusionierend. Zudem bietet sich keine Alternative an, die unmittelbar realisierbar wäre. Theoretische Reflexion, die in der Immanenz kapitalistischer Vergesellschaftung verharrt, kommt an eine Grenze, weil sie nicht mehr auf eine neue Stufe im Rahmen eines Entwicklungsprozesses hoffen kann. Sie gewann ja ihre Dynamik in der Kritik eines erreichten Zustandes als Durchgangsstadium zu einer besseren Zukunft, einer nächsten Stufe der Entwicklungsleiter im Rahmen einer immerwährenden Bewegung des Fortschritts. Solcher Fortschritt war aber gebunden an die Metaphysik des Geldes, das sich in einem vermeintlich unendlichen Prozess der Selbstverwertung des Kapitals unendlich vermehrt.
Es scheint immer schwerer zu werden, über die Unmittelbarkeit einzelner Phänomene oder Erfahrungen hinaus zu denken. Angesichts wachsender auch individueller Belastungen – nicht zuletzt durch die unabschließbaren Zwänge der Selbstoptimierung und der allgegenwärtigen Gefahr des Scheiterns trotz aller Anstrengung – werden unmittelbare, d.h. reflexionslose Entlastungen gesucht und angeboten. Dies impliziert die jederzeit mögliche Aktivierung rassistischer, sexistischer, antisemitischer und antiziganistischer Orientierung und deren Bedienung durch eine Krisenverwaltung, die unter Handlungsdruck steht, aber in die gesellschaftliche Form eingebunden bleibt. Auch die Krisenverwaltung wird immer handlungsunfähiger – und gar nichts ist zu machen, wenn es um den Anspruch geht, die Probleme emanzipatorisch zu bewältigen. So droht die mit der Krise voranschreitende Handlungsunfähigkeit der Krisenverwaltungen umzuschlagen in autoritäre Orientierungen und, da wo auch den militärischen und polizeilichen Sicherheitsapparaten die ökonomischen Grundlagen entzogen werden, in die Verwilderungen eines Existenzkampfes, der im ›Krieg aller gegen alle‹ ausgetragen wird.
Blockiert sind auch die auf die kapitalistische Immanenz vergatterten Handlungsoptionen sozialer Bewegungen. Statt ihre eigene Ohnmacht kritisch im Formzusammenhang kapitalistischer Immanenz zu reflektieren und zu einer radikalen, d.h. an die Wurzeln reichenden, Kapitalismuskritik vorzustoßen, scheint ihr höchstes Ziel, in der Beteiligung an der Krisenverwaltung zu liegen oder Alternativen kreieren zu wollen, ohne durch das Purgatorium einer radikalen Kritik der kapitalistischen Gesellschaft hindurch gegangen zu sein.
(25) So werden einzelne Facetten aus dem Ganzen der Verhältnisse in der Illusion heraus gebrochen, über eine Nische eine Alternative kreieren zu können. So bleibt es bei Regiogeld, bei Tauschringen und Umsonstläden, bei Grundeinkommen auf Elendsniveau, bei solidarischer und Gemeinwohl-Ökonomie, die nicht an die Form kapitalistischer Vergesellschaftung rühren. Im kirchlichen Bereich flüchten sich Caritas und Pastoral in ›lebensweltliche‹ Orientierungen, die ihren Ausdruck im Konzept eines sog. ›sozial-räumlichen Ansatzes‹ findet. Wenigstens im ›Klein-Klein‹ der unmittelbaren Lebenswelten werden Erfolge einer Praxis gesucht, die sich unausgesprochen eingesteht, die Ebene gesellschaftlicher Makrostrukturen nicht mehr erreichen zu können. Praxis wird zur Gestaltung der kleinen Lebenswelten in der Unmittelbarkeit des eigenen Sozialraums und reduziert auf den Rahmen, den die Krisenverhältnisse noch zulassen. So dürfen dann Spielplätze gestaltet, marode Einrichtungen repariert, Grünanlagen gepflegt werden etc. Bei den Aktivierten wird der Eindruck vermittelt, Einfluss zu haben und praktisch wirksam zu sein. Die Möglichkeiten, ›etwas‹ tun zu können, bleiben auf den Nahraum und den Rahmen beschränkt, den die Krisensituation zulässt. Letztlich steht hinter dem oft euphorisch verkündeten sozialräumlichen Ansatz das Eingeständnis, mit pastoraler Praxis und Caritas gesellschaftlich nicht mehr als die kleine Welt der Nahräume gestalten zu können. So ist er Ausdruck der Anpassung an Verhältnisse, die vor jeder kritischen Reflexion immunisiert werden. Solche Reflexion könnte ja auch gegen die eigene Praxis zurückschlagen und sie als das erkennbar werden lassen, was sie ist: als Flucht in ›Pseudo-Aktivismus‹ bzw. in den Konkretismus falscher Unmittelbarkeit und als Ausweichen vor der Herausforderung kritischer Reflexion und der notwendigen Überwindung zerstörerischer Verhältnisse. Das Insistieren auf Praxis wird hier – weit davon entfernt eine »Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Reflexion zu sein« – zum »Vorwand, unter dem Exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte«
(26). Dabei soll die humanitäre Bedeutung solidarischer Krisenbewältigung ebenso wenig wie die Verbesserung der Qualität der unmittelbaren Lebenszusammenhänge gegen barbarisierende Verwilderung im Kampf aller gegen alle keineswegs unterschätzt werden. Aus ihnen gehen aber ohne Reflexion auf den Zusammenhang des gesellschaftlichen Ganzen keine gesamtgesellschaftlichen Alternativen zu der Barbarisierung hervor, die der kapitalistischen Vergesellschaftung innewohnt.
4. Religion in einer reflexionslosen Gesellschaft
Analog zu einer reflexionslosen Gesellschaft entwickelt sich eine reflexionslose Religion. Bereits in den 1990er Jahren hatte Johann Baptist Metz eine neu erwachte Religionsfreudigkeit auf die Formel gebracht »Religion, ja – Gott, nein«
(27). Er beschrieb damit einen Trend, in dem Religion als spirituelle Überhöhung und Entlastung des gestressten Alltags sehr wohl gefragt ist, aber die Rede von Gott in die Krise gerät bzw. verdunstet. Heute spricht René Buchholz von einer »falsche(n) Wiederkehr der Religion«
(28). Falsch daran ist der Fundamentalismus, der dem religiösen Interesse anhaftet.
In religiösen Ursprungstexten wie der Bibel oder dem Koran werden Gewissheiten gesucht, die sich nicht durch kritische Reflexion auf die geschichtlichen Zusammenhänge der Texte verunsichern lassen. Die heiligen Ursprungstexte sind historisch-kritischer Reflexion ebenso entzogen wie der Frage, ob und wie sich ihre Aussagen begründen lassen. Sie gelten zeit- und begründungslos – damals wie heute.
Während sich religiöse Bewegungen nach den 1960er Jahren im Horizont gesellschaftskritischer ›Politischer Theologie‹ oder der in Lateinamerika entstandenen ›Theologie der Befreiung‹ verstanden hatten, »so ist heute eine weltweite religiöse Regression zum Treibsatz der Barbarisierung geworden. Das gilt für ausnahmslos alle Religionen, für den katholischen Fundamentalismus des
Opus Dei ebenso wie für die protestantischen Sekten, den Islamismus, die messianisch-theokratischen jüdischen Ultras, die ultrarechte Hindubewegung, die rassistischen Buddhisten in Sri Lanka usw.«
(29) Im verklärenden Rückblick auf eine heile Ursprungssituation gewinnen sie ihre Aura und »erscheinen als Ausweg aus der prekären Situation und zugleich als bedrohter Teil der eigenen als unveränderbar angesehenen Identität«
(30).
Daneben zeigt sich eine sanftere, aber nicht weniger fundamentalistische Variante von Religion. Sie wird als Spiritualität auf esoterischen Märkten, aber auch von Kirchen angeboten, die als unternehmerische Kirchen angesichts schwindender Nachfrage nach Gott konkurrenzfähig bleiben wollen. Erfolg suchen die Angebote dadurch, dass sie unmittelbar an Befindlichkeiten von Einzelnen anknüpfen: an die Suche nach Erweiterung des Glücks durch intensives Erlebnis und spirituelle Erfahrung, nach Entlastung für Gestresste durch Wellness, nach Sinn und Nähe für in der Konkurrenz Gescheiterte oder von Angst vor dem sozialem Abstieg Geplagte. In der Unmittelbarkeit, mit der an individuelle Bedürfnislagen angeknüpft wird, ist der gesellschaftliche Zusammenhang nicht aufgehoben, aber unsichtbar gemacht. Die Zumutungen, die sich Menschen gefallen lassen müssen, sowie der Un-Sinn einer Gesellschaft, die sich dem irrationalen Zwang der Vermehrung des Geldes unterworfen hat, ist zwar allgegenwärtig, aber er soll und will nicht begriffen werden.
Sollen die spirituellen Angebote auf dem Markt erfolgreich sein, muss dieser gesellschaftliche Zusammenhang und mit ihm die Wirklichkeit ausgeblendet werden. Sie müssen erlebnis- und erfahrungsintensiv und zugleich inhaltsleer und reflexionsfrei sein. Ihr Fundamentalismus liegt darin begründet, dass die Welt, wie sie ist, und das Verschmelzen der Individuen mit ihr, immer schon begründungslos, autoritär und reflexionsfeindlich vorausgesetzt ist. In ihnen spiegelt sich das, was Theodor W. Adorno in seinen Studien zum autoritären Charakter so beschrieben hatte: »Die Überlegenheit des Bestehenden … über das Individuum und seine Intentionen« ist als Realismus »anzuerkennen« und impliziert, »sich als Anhängsel der sozialen Maschinerie einzuordnen«
(31). Mit der autoritären Voraus-Setzung der Welt, wie sie ist, bleibt jede Vorstellung ausgeschlossen, die Welt könnte auch anders sein. Sie wird in einer geschlossenen Immanenz eingeschlossen, die durch eine inhaltsleere Spiritualität überhöht wird, die auf jedes Denken verzichtet, das seinen Gegenstand auf eine ihn transzendierende Ebene hin überschreiten könnte.
5. Was tun?
Wenn die Krisenprozesse nicht weiter in Barbarisierung treiben sollen, kann es um nicht weniger gehen, als »den jetzigen Zustand aufzuheben«. ›Handlungsmacht‹ dazu lässt sich nicht ohne Erkenntnis und Negation dessen gewinnen, was diesen Zustand als gesellschaftlichen Formzusammenhang konstituiert, nämlich Wert und Abspaltung und die damit vermittelten, aber auch mit einer Eigendynamik verbundenen Ebenen der Ideologieproduktion sowie der kulturell-symbolischen und der sozial-psychischen Ebene. Angesichts dieses Zusammenhangs führt auch die Proklamation eines Primats der Praxis in die Irre, setzt die Praxis ebenso wie das Subjekt als ihr Träger immer schon den ‚aufzuhebenden Zustand’ voraus.
Angesichts der Zwänge zur Unmittelbarkeit ist eine Reflexion nötig, die Distanz zum Zustand einer in der Form kapitalistischer Vergesellschaftung geschlossenen Gesellschaft gewinnen kann. Dies setzt einen epistemologischen, d.h. erkenntnistheoretischen, Bruch mit der Form und dem für sie charakteristischen Denken in den Polaritäten von Kapital und Arbeit, Markt und Staat, aber auch denen von Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis voraus. Statt theoretische Erkenntnis eindimensional von der Praxis her und auf Praxis hin zu instrumentalisieren, käme es darauf an, theoretische Reflexion als eigenständiges Moment sozialer Emanzipation zu begreifen. Als bloßes Instrument der Praxis muss sie innerhalb der Grenzen bleiben, die mit der Form kapitalistischer Verhältnisse gesetzt sind. In diesem Gefängnis wird sie – so wie im Mittelalter einmal die Philosophie als ancilla theologiae (Magd der Theologie) verstanden wurde – »zum Aschenputtel un- und vorwissenschaftlicher Prämissen und Lebensformen, denen sie als Legitimationsmagd zu dienen hat«
(32).
»Dass Theorie ihre Selbständigkeit zurückgewinnt, ist das Interesse von Praxis selbst«, heißt es in Adornos
Negativer Dialektik(33). Der Hintergrund dieser Feststellung ist die Einsicht, dass in der geforderten Einheit von Theorie und Praxis, die Theorie unterlag und »ein Stück der Politik« wurde, »aus der sie hinausführen sollte; ausgeliefert der Macht«
(34).
Eine andere Praxis ist nur möglich, wenn theoretische Reflexion aus ihrer funktionalen Unterwerfung unter eine von den Verhältnissen schon determinierten Praxis heraustreten und eigenes Gewicht gewinnen kann. Dann aber muss gegen die Versuche, die Spannung zwischen Theorie und Praxis dadurch zu versöhnen, dass nun auch die kritische Reflexion als ›theoretische Praxis‹ unter den Begriff der Praxis gefasst wird, die Spannung zwischen Theorie und Praxis ausgehalten werden. Es gilt »sich jeder ›Verschmelzung‹ der kritischen Reflexion mit der vorgegebenen ›Gegenpraxis‹ immanenter Widerspruchsbearbeitung oder gar einer Alltagsmetaphysik« zu verweigern. »Um die Fetischkonstitution durchbrechen zu können, müssen sowohl die ›theoretische Praxis‹ als auch die immanente ›Gegenpraxis‹ jeweils auf ihrem eigenen Feld einen Transformationsprozess durchmachen, bis beide Seiten über sich hinausgehen und erst im Resultat verschmelzen können. Die berühmte ›Einheit von Theorie und Praxis‹ kann also nicht Voraussetzung sein, sondern nur immanentes Telos einer kategorialen Kritik; sie fällt mit der realen Transzendierung zusammen oder sie wird nicht sein.«
(35) Solche Transzendierung ist im Interesse sozialer Emanzipation. Sie eröffnet Möglichkeiten, die Grenzen zu erkennen und zu negieren, die der Praxis durch die kapitalistische Vergesellschaftung gesetzt sind. Ohne solche Erkenntnis kann die »Praxis, die immerzu verändern will, nicht verändert werden«
(36).
Auch aus einer Theorie als eigenständigem Element emanzipatorischer Praxis kann kein Königsweg zur Überwindung des Kapitalismus abgeleitet und als Modell umgesetzt werden. Theorie kann emanzipatorische Praxis nicht ersetzen. Nur in einer sozialen Bewegung, die über die von der kapitalistischen Form gesetzten Grenzen negierend hinausgreift, scheinen Wege zur Überwindung des Kapitalismus möglich. In diesem Sinne wäre es wichtig, auf im Kapitalismus unerfüllbaren Forderungen zu bestehen und dafür zu kämpfen. Dazu gehört der Kampf um die Befriedigung der Grundbedürfnisse ebenso wie der gegen Billiglohn und prekäre Arbeitsverhältnisse und für ›öffentliche Dienste‹, kurz um alles, was angesichts des stofflichen Reichtums und dem Stand der Produktivkräfte möglich ist, aber an dem Zwang scheitert, dass stofflicher Reichtum im Kapitalismus nur als abstrakter Reichtum darstellbar ist und Bedeutung haben kann. In diesem Sinne wäre eine ›andere Welt möglich‹, aber eben nur im Bruch mit der kapitalistischen Form abstrakten Reichtums. Dies wäre die Voraussetzung für eine Orientierung auf die Lebensbedürfnisse von Menschen und die Produktion der Güter, die dazu nötig sind. Entsprechende Forderungen müssten darum wissen und deutlich machen, dass sie keineswegs aus einer Situation jenseits der Wert- und Abspaltungsform erhoben werden, aber den Anspruch auf ihre Überwindung anmelden. Dieser Anspruch wäre jedoch bereits dann dementiert, wenn im Interessen von Vermittlung und Mobilisierungsfähigkeit die zu überwindenden Grenzen der kapitalistischen Gesellschaftsform nicht mehr thematisiert werden dürften: Denn »keine Theorie darf agitatorischer Schlichtheit zuliebe gegen den objektiv erreichten Erkenntnisstand sich dumm stellen. Sie muss ihn reflektieren und weitertreiben. Die Einheit von Theorie und Praxis war nicht als Konzession an die Denkschwäche gemeint, die Ausgeburt repressiver Gesellschaft ist.«
(37)
von Herbert BöttcherAnmerkungen
(1) Vgl. Thomas Seibert, Stiftungssymposium: Vom Kampf um eine Einwanderungs- und Postwachstumsgesellschaft, in: meidico international, rundschreiben 2/16, 41-43.
(2) Vgl. ebd., 41.
(3) Ebd.
(4) Ebd.
(5) Vgl. Ebd.
(6) Kölner Stadt-Anzeiger vom 10.11.2017.
(7) Vgl. Roswitha Scholz, Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und postmoderne Metamorphosen des Kapitals, Bad Honnef 2. Aufl. 2011.
(8) Ton Veerkamp, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2012, 423.
(9) Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Berlin 1984, 168f.
(10) Robert Kurz, Die Substanz des Kapitals, Teil II, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 2, 2005, 162-235, 210.
(11) Ebd., 209f.
(12) Robert Kurz, Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus. Fragen und Antworten zur historischen Situation radikaler Gesellschaftskritik, in: ders., Der Tod des Kapitalismus. Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus, 19-34, 26.
(13) Robert Kurz, Die antideutsche Ideologie. Vom Antifaschismus zum Krisenimperialismus: Kritik des neuesten linksdeutschen Sektenwesens in seinen theoretischen Propheten, Münster 2003, 233.
(14) Vgl. Robert Kurz, Grau ist des Lebens goldner Baum und grün die Theorie, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 4, Bad Honnef 2007, 15-106, bes, 43ff.
(15) Robert Kurz, Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 2012, 231.
(16) Robert Kurz, Das Ende der Theorie. Auf dem Weg zur reflexionslosen Gesellschaft, in: ders., Weltkrise und Ignoranz, a.a.O., 60-67. 66.
(17) Vgl. u.a. den Text von Tomasz Konicz in dieser Publikation, siehe: www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2019/03/Festschrift-Die-Frage-nach-dem-Ganzen-25-Jahre-Netz-Webversion-full.pdf
(18) Bistum Trier – Pressedienst Koblenz vom 11.12.2015.
(19) Vgl. Robert Kurz, Die Heuschreckenplage, in: Neues Deutschland vom 20.5.2005.
(20) Robert Kurz, Du bist billig, Deutschland, in: Neues Deutschland vom 30.9. 2005.
(21) Vgl. Robert Kurz, Wirtschafts- und Fussballpatriotismus, in: Neues Deutschland vom 30.6.2006.
22Leni Wissen, Die sozialpsychologische Matrix des bürgerlichen Subjekts in der Krise. Eine Lesart der freud'schen Psychoanalyse aus wert-abspaltungskritischer Sicht, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 14, 29-49, 31, sowie: https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=22&posnr=561
23Vgl. ebd.
(24) Ebd.
(25) Vgl. den Text von Dominic Kloos zur Gemeinwohlökonomie:
https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=8&posnr=591
(26) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Band 6, Frankfurt am Main 2003, 15.
(27) Johann Baptist Metz, Religion, ja – Gott, nein, in: ders., Tiemo Rainer Peters, Gottespassion. Zur Ordensexistenz heute, Freiburg 1991; ders, Gotteskrise. Versuche zur geistigen Situation der Zeit, in: Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf 1994, 76-92.
(28) René Buchholz, Falsche Wiederkehr der Religion. Zur Konjunktur des Fundamentalismus, Würzburg 2017.
(29) Robert Kurz, Weltordnungskrieg. Das Ende des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003, 435.
(30) René Buchholz, a.a.O., 148.
(31) Theodor W. Adorno, zitiert nach Buchholz, a.a.O,, 141.
(32) Claus Peter Ortlieb, Ein Vorwort zur Erinnerung an Robert Kurz (1943-2012), in: Robert Kurz, Der Tod des Kapitalismus. Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus, Hamburg 2013, 6-17, 11.
(33) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, 146f.
(34) Ebd.
(35) Robert Kurz, Grau ist des Lebens goldner Baum, a.a.O., 102f.
(36) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 147.
(37) Ebd., 206.