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Aktuelle Termine

CEE IEH-ARCHIV

#261, März 2020
#262, August 2020
#263, Oktober 2020

Aktuelles Heft

INHALT #261

Titelbild
Wahlen und andere Wahnsinnigkeiten
• das erste: Ein neuer Ordnungsbund für Thüringen
• inside out: Stellungnahme der Kritischen Jurist:innen Leipzig (KJL) und des Conne Islands zum Entzug der Gemeinnützigkeit des VVN-BDA vom 10.12.2019
• inside out: Stellungnahme des Conne Islands zum Übergriff beim HGich.T-Konzert am 27.12.2019
Tarek (K.I.Z.)
Die Sterne? Schon mal gehört…
Russian Circles × Torche
Turbostaat
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• review-corner buch: Chaos und Betriebsunfälle
• position: I hate to say we told you so!
• doku: Wir müssen doch etwas tun!
• das letzte: Das letzte Interview

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Chaos und Betriebsunfälle

Gilles Kepel zeichnet in Chaos nicht nur den Aufstieg des Islamismus zur neuen Weltmacht und die Genese des Selbstmordattentates nach, sondern liefert zudem einen ungeplanten Nachruf auf die iranische Galionsfigur des »islamischen Widerstands« Qassem Soleimani sowie die Gründe, warum dessen Tötung richtig war.


I.
Es eskaliert wieder einmal: obwohl auf dem Rückzug befindlich, haben die USA einen der wichtigsten Akteure der Region, den notorischen Unruhestifter und Strippenzieher Qassem Soleimani, getötet, iranische Raketen treffen die USA im Irak, ein Passagierflugzeug wurde, wie schon in der Ukraine vor ein paar Jahren, versehentlich abgeschossen und die Proteste im Iran werden immer größer, da sie nun auch die Mittelschicht umfassen. Inmitten des Chaos bleiben Betriebsunfälle nun mal nicht aus, so könnte man zynisch feststellen und angesichts der fortwährenden Katastrophe(n) in der Region fällt es schwer, nicht zynisch zu werden. Wie soll man hier noch den Überblick behalten?
Etwas Abhilfe oder zumindest ein besseres Verständnis könnte das Ende 2019 auf deutsch erschienene Werk des französischen Soziologen Gilles Kepel bieten. Seit dem Ende des sogenannten Islamischen Staates, das fatalerweise mit dem Ende des syrischen Aufstands zusammenfällt, werden »die Karten für dieses immer komplexer werdende Spiel im Nahen und Mittleren Osten neu gemischt«, wie Kepel schreibt. Denn es waren auch genau jene »Arabellionen« wie die in Syrien, und natürlich das Internet, die eine neue Generation des Dschihadismus ermöglichten, dessen Bekämpfung wiederum neue (alte) Bündnisse, Akteure, Konflikte und Machtkonstellationen hervorbrachte:
So hat vor allem Donald Trump in Kontinuität zu Obama die Politik des Rückzugs aus der Region fortgesetzt und sich mit dem fast vollständigen Abzug der Truppen aus Syrien und dem Irak nicht nur zum »Juniorpartner« Teherans in der Region gemacht, sondern ein weiteres Mal die Kurden im Stich gelassen – wohl auch, um die Beziehungen mit dem NATO-Partner Türkei wieder etwas zu stabilisieren. Parallel dazu hat Russland den Antiterrorkampf als »Blankoscheck« genutzt, um sich in der Levante militärisch festzusetzen und mit geschickter Diplomatie und der weiteren Annäherung an Iran und die Türkei, aber auch an Israel und Saudi-Arabien, seinen Einfluss enorm zu vergrößern.
In dieses komplexe Geschehen versucht Kepel Licht zu bringen, d.h. die verschiedenen Akteure, Prozesse und Entwicklungen in jenem Chaos zu beschreiben, zu verstehen und in Zusammenhänge einzuordnen. In seinem Buch versucht er eine Einschätzung der Epoche in der arabischen Welt unter den Vorzeichen des islamistischen Strebens nach der Macht, betreibt aber vor allem sehr detaillierte Geschichtsschreibung und liefert damit ein sehr lesenswertes Überblickswerk über den Nahen und Mittleren Osten unserer Epoche. Kepel beschreibt den Aufstieg des Islamismus als ideologischen »dritten Weg« des Weltherrschaftsanspruchs – oder vierten, neben Kapitalismus, Faschismus und Stalinismus – nach dem Ende des arabischen Nationalismus im Zuge des Sechs-Tage-Krieges 1967. Dabei zeichnet er die Meilensteine auf diesem Weg nach, etwa die Schlüsseljahre 1973 mit dem als Yom-Kippur-Krieg bekannten Konflikt am Roten Meer und der Ölpreisexplosion, 1979 – die Islamische Revolution im Iran – sowie 1989: der Zusammenbruch des Ostblocks.
Innerhalb der Entwicklung, die zur Islamisierung der politischen Ordnung der gesamten WANA-Region (Westasien und Nordafrika) geführt hat, verfolgt er speziell die Verbreitung des Dschihad sowie des islamistischen Selbstmordattentats. Dabei unterscheidet er drei Phasen des Dschihad: die erste Phase beginnt 1980, die er als Ausbruch des Dschihad gegen den »nahen Feind« bezeichnet und in welcher der gesamte politische Diskurs im Nahen Osten islamisch aufgeladen wird. Das wird v.a. sichtbar am Irak-Iran-Krieg, wo die euphemistisch umschriebenen »Märtyrer-Operationen«, bei denen iranische Rekruten durch die irakischen Minenfelder geschickt wurden – die Vorstufe des dschihadistischen Selbstmordattentats. In diesem Krieg hatte sich auch Qassem Soleimani bei Einsätzen hinter feindlichen Linien und bald auch als Kommandeur verdient gemacht.
Kepel beschreibt, wie sich wegen der Haltung Saudi-Arabiens gegenüber dem Westen bzw. den USA und deren Unterstützung für den anti-sowjetischen Dschihad in Afghanistan die Rivalität mit dem Iran entzündet und den daraus resultierenden »Überbietungswettbewerb« der Machtblöcke, die sich um die beiden großen Golfstaaten formieren.
In der zweiten Phase des Dschihad beginnt sich das Feindbild USA zu etablieren. Es kommt zur »Dschihadisierung« des Palästina-Konflikts, die mit dem fatalen Spaziergang Ariel Scharons auf den Tempelberg und der darauf folgenden Al-Aqsa-Intifada ihren ersten Höhepunkt findet.
1996 veröffentlichte Osama bin Laden im neu entstandenen Sender Al-Jazeera eine Erklärung zum Dschihad, wo die Selbstmordanschläge der Intifada u.a. vom wichtigsten Prediger des Senders, dem Muslimbruder Yusuf Qaradawi, als »Märtyer-Operationen« einem großen Publikum bekannt gemacht wurden, während die wichtigen saudischen Rechtsgelehrten die Selbstmordattentate ablehnten. Da Kepel vor allem auf die Kontinuitäten in der Entwicklung des islamistischen Terrors abzielt, sieht er auch den 11. September 2001 in einer Kontinuität mit der zweiten Intifada sowie mit dem ersten Anschlag auf das World Trade Center 1993, das wiederum den totalen Bruch der ehemals Verbündeten – Dschihadisten und USA – besiegelte. Allerdings wurde der Anschlag damals von vielen Amtsträgern in der arabischen Welt zurückgewiesen inkl. jenem Qaradawi sowie auch Arafat, der für die Opfer öffentlichkeitswirksam Blut spendete.
Dabei vergisst Kepel jedoch nicht den Hinweis, dass der Versuch, Kontinuitäten herzustellen, auch im Sinne der islamistischen Protagonisten ist, die darin durchaus Wert auf eine zeitliche Symbolik in der Wahl ihrer Taten Wert legen. Der Dschihad zeige sich damit – jedenfalls im Sinne seiner Urheber – »wie schon zum Zeitpunkt der Offenbarung [des Koran im Jahr] 622, als entscheidender Akteur im internationalen Zusammenhang und erneuert die Eroberungsmission dieser Religion, die nach 14 Jahrhunderten der Dekadenz und Kompromisse schal geworden war.« Aussagen wie diese lesen sich bisweilen doch etwas ungenau, was aber auch der Übersetzung geschuldet sein mag. Kepel versucht, mit der Betonung dieser bewusst von den Akteuren genutzten numerologischen Dimension, seiner Ansicht Nachdruck zu verleihen, dass der Islamismus nach dem Zusammenbruch der Systemkonfrontation des Kalten Krieges aufgetreten ist, eine neue Weltordnung zu errichten. Dabei bezieht sich Kepel durchaus auch auf Samuel Huntingtons These vom Clash of Civilizations. Interessant – und nicht unerwähnt – bleibt dabei, dass auch Sunniten und Schiiten, wenn sie sich gegenseitig bekämpfen, vom Dschihad sprechen und ihre Gefallenen zu Märtyrern erklären.
Ab dem Jahr 2005 sieht Kepel die Entstehung einer dritten Generation von Dschihadisten, die sich dezentral organisieren, über das Internet kommunizieren und die unüberschaubaren Konfliktlagen der WANA-Region zu ihrer Konsolidierung nutzen, wie Kepel schreibt:


»Tatsächlich konnte sich der ›netzwerkartige‹ Terrorismus des IS wie das ›revolutionäre Rhizom‹, wie es der linke Philosoph Gilles Deleuze nannte, dank der sozialen Medien ›von unten her‹ über die Welt verbreiten – ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger, dem hierarchisch aufgebauten und zentralisierten Terror von al-Qaida, der einem eher ›leninistischen‹ Modell folgte, und das Fernsehen als Medium brauchte, um ›von oben her‹ in die Welt auszustrahlen. … Der umgehende Zusammenbruch der repressiven Regime – von Ben Ali in Tunesien über Ali Abdullah Saleh im Jemen, Mubarak in Ägypten und Gaddafi in Libyen bis zu Assad in Syrien – ermöglichte die Ausweitung und Bewaffnung der dschihadistischen Bewegung, die in dem Moment zur Tat schritt, als die erste Welle des begeisterten demokratischen Aufbruchs, ausgehen vom Tahrir-Platz in Kairo beziehungsweise von ähnlichen Orten in Tunis, Bengasi oder Sanaa, abgeebbt war.«


Natürlich fehlen in Kepels Buch die aktuell starken sozialen Proteste in der Region des sogenannten Schiitischen Halbmonds sowie die militärische Konfrontation zwischen USA und Iran. Dass es nun auf dem Boden des Irak zu militärischen Konfrontation zwischen den beiden Nationen kommt, erscheint nur konsequent und wenig erstaunlich, seit der IS besiegt zu sein scheint, für dessen Bekämpfung sie bis dato zusammen arbeiteten. Umso erstaunlicher angesichts der Konfessionalisierung der Konflikte im gesamten Nahen Osten ist jedoch, dass sich die aktuellen Protestbewegungen im Libanon und Irak unter dem Banner der Nationalfahne zusammenschließen und die lange bestehende, in den politischen Institutionen gefestigte Spaltung der verschiedenen Religionsgruppen überwunden wird. In diesem Fall ist der Nationalismus definitiv als Fortschritt zu betrachten.
Darüber hinaus beschreibt Kepel bereits das Ende der Rentier-Staaten, oder zumindest den Anfang vom Ende: »Auch wenn die schwankenden Ölpreise immer noch kurzfristige Gewinne möglich machen, so sichern diese Einkünfte keine Staatsbudgets mehr, und schon gar nicht die bevölkerungsreicher Staaten.«. Er sieht die aktuelle Tendenz in Saudi-Arabien zur gesellschaftlichen Öffnung und Distanzierung von den traditionell nahezu unantastbaren religiösen Institutionen als erstes Resultat dieses Prozesses. Neben einer wertvollen Analyse der russischen Nahostpolitik, die nicht ganz ohne Polemik auskommt, kriegt auch Donald Trump sein Fett weg: »Der wichtigste westliche Politiker führte eine Logik des Chaos ein, untergrub systematisch die wichtigen Stützpfeiler der der Weltordnung seit 1945 und verfolgte eine disruptive Strategie mit dem Ziel, den Multilateralismus zu vernichten«, schreibt Kepel über den US-Präsidenten, der damit »an plumpe isolationistische Tendenzen in der amerikanischen Geschichte« anknüpfe.


Chaos ist kein wissenschaftliches Buch, es kommt auf fast fünfhundert Seiten ohne eine einzige Quelle aus. Das ist Mangel und Vorteil zugleich. Mangel, weil man somit keine von Kepels Aussagen, interessanten Verweise und mitunter steilen Thesen direkt anhand von Belegen überprüfen kann. Vorteil, weil der Umfang des Buches damit nicht ausartet.
Ein weiterer Mangel ist sicher die nicht so wirklich gelungene Übersetzung aus dem Französischen, die stellenweise doch etwas wirre Sätze oder seltsam anmutende Vokabeln wie »Dynastische Transition« mit sich bringt. Diese Mängel tun dem Erkenntnisgewinn dennoch keinen Abbruch. Die anekdotenhafte Erzählung lockert das ganze sehr auf, das Leseerlebnis rangiert daher zwischen spannender Abendlektüre und dem Gefühl des Erschlagenseins angesichts des schier unerschöpflichen Wissensvorrats.


II.
Während die Atombombe die iranische Waffe wäre, vor der die Welt sich zurecht fürchtet, sind aktuell die iranischen Kräfte im Ausland, die Quds-Brigaden, die eigentlich wirkmächtige Waffe. Mit General Qassem Soleimani hat sie nun ihren Kopf abgeschlagen bekommen.
Der auch als »Schattenkommandeur« bekannte General mit dem Silberbart war zuletzt so etwas wie die Galionsfigur des »islamischen Widerstands«, um die sich ein regelrechter Kult entspann. Für manche war er gar die zweitwichtigste Person der Islamischen Republik. Es ist kein Widerspruch, wenn Gilles Kepel schreibt, Soleimani sei im Iran das Objekt der »Sehnsucht nach einem Militär als möglichem Widerpart zur Geistlichkeit« gewesen und habe zugleich das Ethos der Islamischen Republik verkörpert: »Mit seiner Aura des erfolgreichen Verteidigers gegen die Takfiristen [Ungläubige; Anm. d. A.] beruhigt General Soleimani sowohl fromme Schiiten – volkstümliche Klientel des Regimes – als auch die Mittelschicht, die im Privaten gerne ihren Agnostizismus, ja Atheismus zur Schau stellt und dem IS und Konsorten mit derselben Mischung aus Schrecken und Abscheu begegnet wie ihre europäischen Pendants.«.
1957 in einem Dorf nahe Kerman, der Geburtsstadt der wichtigsten iranischen Sagengestalt Rostam aus dem Königsbuch »Shahname« des Nationaldichters Ferdosi, geboren, brachte Soleimani die erste Voraussetzung mit, zu einer neuen, quasi-sagenhaften Heldengestalt zu werden.
Und tatsächlich: »[S]eit 2015 prangt Soleimanis Porträt auf Souvenirs, von Geschirr bis zu Wäsche, die auf den Basaren in schiitischen Pilgerstätten feilgeboten werden«, wie Kepel schreibt.
1979 trat Soleimani in die Revolutionsgarden ein und verdiente sich in den 1980er Jahren seine ersten militärischen Lorbeeren bei der Niederschlagung des separatistischen kurdischen Aufstands und im Krieg gegen den Irak. Seine Tapferkeit bei Einsätzen hinter feindlichen Linien machten schnell von sich reden, ebenso wie bald auch seine Effektivität als Kommandeur einer kleinen, selbst ausgebildeten Einheit aus seiner Heimat Kerman. So blieb ihm das Schicksal vieler jugendlicher Rekruten erspart, denn diese wurden als Kanonenfutter »in die Minenfelder geschickt, um den Soldaten freie Bahn zu den gegnerischen Linien zu verschaffen«, was natürlich in massenhaften Verlusten resultierte. In einer im New Yorker erschienen Biografie zitiert ihn der renommierte Kriegsreporter Dexter Filkins Soleimani: »I entered the war on a fifteen-day mission, and ended up staying until the end... We were all young and wanted to serve the revolution.«


Die Sepah, wie die Revolutionsgarden im Iran heißen, sind so etwas wie die religiös aufgeladene Armee der Islamischen Republik und Staat im Staat. Mittels Stiftungen kontrollieren sie Unternehmen und Fabriken, Schifffahrtsgesellschaften und sogar See- und Flughäfen, weswegen sie von Kepel auch als militärisch-industrieller Komplex bezeichnet werden. Doch eigentlich sind sie mehr als das, nämlich eine jener alternativen staatlichen Strukturen und konkurrierenden Machtblöcke, die Franz Neumann als ein Charakteristikum der Struktur des nationalsozialistischen Staats sah, den er deshalb lieber als einen Unstaat verstanden wissen wollte.
Zurück zu Soleimani: in den 1990ern bekämpfte er in seiner Provinz Kerman den Drogenanbau und -handel sowie die illegale Einwanderung aus Afghanistan und stieg um 1997 zum Kommandeur der Quds-Brigaden auf, der im Ausland tätigen Eliteeinheit der Revolutionsgarden. In dieser Funktion verhandelte er nach dem 11. September 2001 sogar kurzzeitig auf Augenhöhe mit amerikanischen Generälen in deren Kampf gegen Saddam Hussein und al-Qaida, obgleich die anfängliche Zusammenarbeit bald scheiterte und sich nach US-Präsident George W. Bushs Anklage der »Achse des Bösen« in Konfrontation verkehrte. Vollends zur lebenden Legende wurde er, als er Bashar al-Assads Truppen im syrischen Bürgerkrieg unterstützte, ihm damit vielleicht den Arsch rettete, und im Irak – erneut zusammen mit den USA und deren Luftwaffe als Rückendeckung – die schiitischen Milizen im Kampf gegen den IS orchestrierte. Kepel zitiert eine Umfrage, laut derer Soleimani 2018 die beliebteste Persönlichkeit im Iran war, noch vor Außenminister Dschawad Zarif und dem beliebten Sänger Morteza Pashaei.


Mit Soleimani traf es nun wie so oft einen, der in der Vergangenheit bei mehr als einer Gelegenheit mit den USA nicht nur zusammengearbeitet hat, auch wenn er insgeheim wohl immer Krieg mit ihnen geführt hat. Zuguterletzt dürften auch die erstmals direkten iranischen Angriffe auf Israel von syrischem Territorium aus vor zwei Jahren auf Soleimanis Konto gehen. Was die Auslandsoperationen des Iran angeht, liefen die Fäden bei Soleimani zusammen, der von einem CIA-Agenten auch als »single most powerful operative in the Middle East today« bezeichnet wurde.(1) Der General hatte am Vormarsch des Iran im gesamten Nahen Osten wohl den wesentlichsten Anteil. Es ist deswegen gut, dass Soleimani tot ist.
Trotzdem ist das kein Grund zu überschwenglicher Freude. Denn so wie man die Tötung, wie Oliver M. Piecha in der jungle world(2), als Betriebsunfall in der iranischen Strategie betrachten kann, so sehr kann man sie als antifaschistischen Betriebsunfall innerhalb der aktuellen amerikanischen Strategie des Rückzugs ansehen, sowie ganz allgemein der letzten Jahrzehnte katastrophaler US-Außenpolitik, die zwischen verheerenden geopolitischen Interventionen mit vermeintlich humanitärem Hintergrund einerseits, kurzsichtigen Stellvertreterkriegen und der Unterstützung für faschistische Terrorregimes, Dschihadisten und andere Halbwahnsinnige im Namen des Antikommunismus, sowie zuletzt, haarsträubendem Isolationismus und dem Fallenlassen von Verbündeten andererseits pendelt. Die aktuelle Planlosigkeit von US-Präsident Trump in Bezug auf den Nahen und Mittleren Osten ist dabei nur die Fortführung – oder besser: Zuspitzung – der Planlosigkeit seines Vorgängers Obama.(3) Dass dies von einer ebenso haarsträubenden Strategielosigkeit und isolationistischen Tendenz in Europa begleitet wird, die vor allem Putin Tür und Tor öffnet, sei hier nur der Vollständigkeit halber noch erwähnt.
Der Abzug der US-Truppen aus Irak und Syrien im Laufe der vergangenen beiden Jahre hat dem Iran das Feld erst überlassen. Und angesichts des wachsenden Unmuts der (auch schiitischen!) Bevölkerungen des Irak und Libanons gegenüber dem stetig wachsenden Einfluss Irans hat sich letzterer unter Zugzwang gesehen, weshalb wieder einmal das alte Feindbild und die eingeübten Flaggenverbrennungen an der amerikanischen Botschaft in Bagdad aufgewärmt werden mussten, vermutlich alles koordiniert von Soleimani, der wohl eigens mit einem Linienflug aus Beirut anreiste. Es spricht vieles dafür, dass der General sich diesmal zu weit nach vorne gewagt hat, zu unvorsichtig geworden war.
Unterstützung für das Argument einer iranischen Fehleinschätzung liefert auch der frühere BND-Chef Hanning in einem Interview mit dem Tagesspiegel: »Zwischen den Interventionsparteien in der Bürgerkriegsregion Syrien-Irak, also Amerikanern, Iranern, Russen und Türken, gab es offenkundig informelle oder zumindest stillschweigende Vereinbarungen, gegenseitige militärische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Nach meinem Eindruck war auch das Regime von Syriens Präsident Baschar al-Assad eingebunden. Diesen Konsens hat der Iran mit seinen Angriffen auf US-Einrichtungen im Irak verletzt. Offenbar glaubte die Führung in Teheran, dass Präsident Trump nicht willens und nicht fähig wäre, auf iranische Provokationen militärisch zu reagieren. Weil Trump in seinen Wahlkampfreden wiederholt angekündigt hatte, militärische Abenteuer zu vermeiden und die US-Truppen zurück in die Heimat zu beordern. Außerdem haben sich die US-Truppen teilweise aus Syrien zurückgezogen. Ziel der offenbar von General Soleimani mit seinen Verbündeten im Irak verfolgten Strategie war, durch gezielte Nadelstiche die Kriegsmüdigkeit der US-Bevölkerung und die angenommene Handlungsunfähigkeit der US-Administration im amerikanischen Wahljahr auszunutzen. Und so die USA zu einem baldigen Rückzug aus dem Irak zu veranlassen.«(4)
Soleimani war eben kein Politiker, er war ein Kriegsheld, ein Krieger, ein Militär. Jemand der militärisch denkt und handelt, der militärische Lösungen anbietet. Und darin war er ziemlich gut.
Davon abgesehen war er halt leider auch eine Ausgeburt eines der niederträchtigsten Schurkenstaaten der Welt. Deswegen ist das ganze Blabla von Völkerrecht bzw. einer völkerrechtswidrigen »Kriegserklärung«, das nach der Tötung wie automatisch wieder von den Nahostexperten und Außenpolitikkarrieristen aller Länder in den Äther emittiert wurde, bestenfalls scheinheilig, genau genommen ist es aber scheißegal. Denn so oder so, es ist gut, dass das Kapitel Soleimani zugeschlagen wurde.




Gilles Kepel: Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen, Verlag Antje Kunstmann, München 2019, 496 Seiten, 28,00 EUR, ISBN: 978-3-95614-320-5.

von Marlon

Anmerkungen

(1) https://www.newyorker.com/magazine/2013/09/30/the-shadow-commander

(2) https://jungle.world/artikel/2020/02/heldenreise-ins-paradies

(3) Vgl. mein Artikel »The world has avoided another war« in CEE IEH #233, Mai 2016, online unter https://www.conne-island.de/nf/233/index18tml

(4) https://www.tagesspiegel.de/politik/frueherer-bnd-chef-warnt-der-iran-ist-in-der-lage-terroranschlaege-in-deutschland-auszufuehren/25391158.html

11.03.2020
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