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Wir dokumentieren im Folgenden einen vom Autor leicht überarbeiteten Nachruf auf Jean Améry, welcher zuerst online auf dem Polit-Blog Die Achse des Guten (www.achgut.com) erschien.



Jean Améry

Ein Linksintellektueller im Nachkriegsdeutschland

Am 17. Oktober vor 41 Jahren starb Jean Améry im Alter von 65 Jahren. Nur zwei Jahre, nachdem er mit seiner philosophischen Abhandlung über den Selbstmord die Bundesrepublik polarisierte und darin die Szene seines Suizids beschrieb, setzte er diese Überlegungen mittels einer Überdosis Schlaftabletten in die Tat um.
Wer war der Schriftsteller und Intellektuelle, der in Hand an sich legen den Selbstmord als eine Wahl der Freiheit legitimierte? Der gebürtig Hans Mayer hieß und sein »Weltvertrauen« während der Folter durch die Gestapo im belgischen Fort Breendok irgendwo zwischen Brüssel und Antwerpen verlor?
Améry floh nach dem ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 ins noch unbesetzte Belgien, wo er sich dem kommunistischen Widerstand anschloss. Nach der Verteilung antifaschistischer Flugblätter wurde er 1943 von der Gestapo festgenommen und von der SS gefoltert. Nachdem seine Aktivitäten im Widerstand bekannt wurden, deportierten die Nationalsozialisten ihn aufgrund seiner doppelten Eigenschaft als Jude und als Angehöriger der belgischen Résistance unter anderem über die Konzentrationslager Bergen-Belsen und Gurs nach Auschwitz-Monowitz, dem Nebenlager jenes Ortes, der wie kein anderer für die unvergleichlichen Verbrechen der Deutschen gegenüber den europäischen Juden steht.

Das Nachkriegsdeutschland konfrontieren
Obwohl in der alten Bundesrepublik die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht immer wieder zur Disposition gestellt wurde, war Améry spätestens nach dem Erscheinen von Jenseits von Schuld und Sühne im Jahre 1966 nie ein Protagonist ohne Name und ohne Gesicht. Seine Erfahrung von Flucht, Verfolgung und Deportation beschrieb er in einem Deutschland, das eben erst aus dem Nationalsozialismus hervorgegangen war. Améry konfrontierte die deutsche Öffentlichkeit, indem er sich in intellektuelle Debatten einmischte. Vor dem Hintergrund des Eichmann-Prozesses bestritt er sowohl Hannah Arendts These von der »Banalität des Bösen« und kritisierte die positivistische Philosophie – nicht zuletzt aus einem existenzialistischen Freiheitsverständnis heraus.
In der Kulturzeitschrift Merkur setzte er sich mit den Vorlesungen Theodor W. Adornos auseinander, dem er auch in einem Brief seine Hochachtung bescheinigte. Adorno wiederum machte Amérys Essay Die Tortur zum Gegenstand seiner Frankfurter Vorlesung über Metaphysik und Tod nach Auschwitz. Vor dem historischen Hintergrund der durch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 1960er Jahren erschien die bereits erwähnte Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne - Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Améry beschreibt darin den Lageralltag des Intellektuellen, reflektiert über die Frage der Heimatlosigkeit und des inneren Exils sowie seine jüdische Biographie.
Aber auch tagespolitisch bezog er immer wieder Position. Debatten, in die er sich einmischte, waren solche über die Reparationszahlungen an Israel (1950er Jahre), die Debatte über den Sechstagekrieg in der deutschen Linken oder die Diskussionen über die Militanz der militanten Linken.
Amérys Biographie und die Debatten über die deutsche Erinnerungskultur kreuzten sich auch im örtlichen Sinne: Am 28. Juli 1940 wurde er in Gurs interniert, einem Lager des Vichýregimes in der Nähe der spanischen Grenze. Wegen der vergleichsweise späten Aufarbeitung der Kollaboration des südlichen Frankreichs mit den Nationalsozialisten wurde eine offizielle Gedenkstätte für das Internierungslager, das vorrangig für Antifrancisten im Spanischen Bürgerkrieg errichtet worden war, erst in den 1990er und 2000er Jahren eingerichtet. Doch erst vor zwei Jahren forderte die Landtagsfraktion der AfD in Baden-Württemberg in einem Änderungsantrag(1) »zum Entwurf des Staatshaushaltsplans«, die Landesförderung in Höhe von 120.000 Euro für die Gedenkstätte Gurs zu streichen. Von ihr beklagt wurde der angebliche »Erinnerungstourismus in den Pyrenäen« sowie die »einseitige Betonung der dunklen Geschichtskapitel bei gleichzeitiger Verdrängung unserer historischen Leistungen.«

Die Schmach der Vernichtung
Die Folterung durch die Gestapo im Jahr 1943 bezeichnet Améry als »das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.« Die traumatische Erfahrung der Folter hielt er im bereits erwähnten Aufsatz Die Tortur fest. Die in den Gestapo-Protokollen mit deutscher Genauigkeit festgehaltene Folter sei ein nichtrationaler Akt und gleichzeitig notwendige Essenz der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Er betont das Gefühl absoluter Entmenschlichung und des Ausgeliefertseins sowie das Nichtvorhandensein einer Hilfserwartung. Dieser öffentlichkeitswirksame Text, inklusive der Beschreibung der Schmerzen und Schläge in der »kellerig-feuchten Luft der Festung Breendok«, stellten in der jungen Bundesrepublik ein Novum dar: Sie legten die viehischen Züge des Nationalsozialismus offen.
Diese Animalität des NS-Vernichtungsvollzuges bringt Améry an die Grenzen des Verstandes; er spürt die Fragilität des eigenen Lebens. In seinem häufig rezipierten Essay spricht er vom »in der Tortur eingestürzten Weltvertrauen«. Die Folter begleitete ihn sein Leben lang, da sie in einem gewissen Sinne nie wirklich vorbei sei. Die Schmach der Vernichtung durch die Folter lasse sich nicht tilgen, das eingestürzte Weltvertrauen nicht wiedergewinnen.
Amérys Texte haben es »eilig« und gehen nicht chronologisch vor. In Die Tortur wechseln Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wobei der Gefolterte sein Erlebnis aus historischer und existenzphilosophischer Perspektive schildert. Améry springt zwischen der Beschreibung seiner persönlichen Folter und gesellschafts- und geschichtspolitischen Reflexionen hin und her. Während er die Folter als »Essenz des Nationalsozialismus« bezeichnet und diesen deshalb als nicht reformierbar betrachtet, gesteht er konträr zu totalitarismus-theoretischen Vorstellungen der UdSSR zu, sich entstalinisiert zu haben. An anderer Stelle beschreibt er den totalen Zusammenbruch der ästhetischen Todesvorstellung in Auschwitz, um dieses Ereignis unmittelbar danach auf die deutsche Romantik sowie Wagner, Schopenhauer und Thomas Mann zu beziehen.

Vehemente Kritik an der deutschen Linken
Neben der literarischen Verarbeitung der Zeit zwischen 1938 und 1945 behielt er immer ein kritisch-solidarisches Verhältnis zur deutschen und globalen Linken, wobei er es sich nicht nehmen ließ, die weit verbreitete schwarz-weiße Weltsicht, die vulgärmarxistische Ideologie sowie den linken Antizionismus vehement zu kritisieren.
Trotz Sympathien gegenüber der Linken – 1943 trat er der österreichisch-kommunistischen Widerstandsgruppe bei – war er von der schlechten Aufhebung der Achtundsechziger in K-Gruppen und die Grünen enttäuscht. Ein Dorn im Auge war ihm die inflationäre Verwendung des Begriffs ›Faschismus‹, die auch vor der Diffamierung Israels nicht haltmachte und in der linken Debatte zum Sechstagekrieg virulent wurde. Darum hielt er im Vorwort einer Neuauflage von Jenseits von Schuld und Sühne 1977 fest:
»Das sowohl politische und jüdische Nazi-Opfer, das ich war und bin, kann nicht schweigen, wenn unter dem Banner des Anti-Zionismus der alte miserable Antisemitismus sich wieder hervorwagt. [...] Das hätte ich mir nicht träumen lassen, als 1966 meine Schrift in erster Auflage erschien und ich als Gegner nur jene hatte, die meine natürlichen sind: Die Nazis, die alten und neuen, die Irrationalisten und Faschisten, die reaktionäre Brut, die 1939 die Welt in den Tod geführt hatte. Daß ich mich heute wider meiner natürlichen Freunde, die jungen Frauen und Männer der Linken, zu erheben habe, ist mehr als die strapazierte Dialektik«
Die Kritik der regressiven Linken (aktualisiert in Amérys Unmeisterliche Wanderjahre (1971)), ist auch im Jahr 2019 noch aktuell. Immer noch wird der Holocaust politisch instrumentalisiert, immer noch Schindluder mit dem Faschismusbegriff betrieben. Améry blieb bis zum Ende ein Mahner, der das Ressentiment gegenüber den Deutschen hegte, was sich auch in der Bewertung der deutschen Sprache widerspiegelte. Im resignativen Duktus urteilte er über die Sprache der Täter: »Du warst zu fremd.«
Jean Améry war ein Linksintellektueller, der versucht hat die deutsche Nachkriegsgesellschaft über die NS-Verbrechen aufzuklären, der die Erfahrung des Konzentrationslagers vermitteln wollte, ohne dabei auf die sogenannte Lagerliteratur reduziert werden zu können. Im Unterschied zu seinem »Barackenkameraden« Primo Levi konnte er den Deutschen nicht mehr verzeihen. Améry wurde am 31. Oktober 1912 in Österreich geboren und starb am 17. Oktober 1978 in Salzburg. Seine Erfahrung deutscher Tortur ließ ihn nie mehr los: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt.«

Literatur
Heidelberger-Leonard (2005), Jean Améry. Revolte in der Resignation. Biographie. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta.S. 85 -98; S. 145 – 185; S. 200 -216;
Haury, T. (2002). Antisemitismus von links: Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburg;
Jean Améry: Werke, Bd. 2: Jenseits von Schuld und Sühne
Unmeisterliche Wanderjahre; Örtlichkeiten. Hg. von Gerhard Scheit. Hg. v. Deutschlandfunk. Online verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/jean-amery-werke-bd-2-jenseits-von-schuld-und-suehne.730.de.html?dram:article_id=101991,%20zuletzt%20gepr%C3%BCft%20am%2013.07.2019

von Jérôme Buske

Anmerkungen

(1) http://afd-fraktion-bw.de/aktuell/233/Gedenkstätte+Gurs

13.12.2019
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