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#254, Februar 2019
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Aktuelles Heft

INHALT #258

Titelbild
Wahlabsage
• das erste: Streetwork mit Marx
• inside out: Im Osten nichts Neues.
Jahresbericht 2018
Full of Hell / The Body / Wayste / Hydren
Captain Planet, Deutsche Laichen
• position: Unteilbare Gutbürger im Dienst fürs Kapital
• position: Von Kettenrauchern und Dieselautos
• position: Eine schrecklich nette Familie
• das letzte: Demokraten wider Willen?

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Von Kettenrauchern und Dieselautos

Wie die Bahamas das Volk für sich entdeckt

Daran erkennt man übrigens am sichersten den Bürger wieder: dass er von sich aus Widersprüche und Ratlosigkeiten introjiziert, die Teil der kapitalistischen Gesamtheit sind. Ehe er gegen den sozialen Bezug kämpft, der die Bedingungen der elementarsten Existenz zerstört, wird er seine Abfälle sortieren und mit Diesel fahren.
Tiqqun: Die Bürger-Fabrik


Manchmal kommt es vor, da ertappe auch ich mich in der Bahamas-Falle. Zumindest wurde mir diese beim viel diskutierten Vortrag von Thomas Maul im Conne Island(1) - auf meine Verwirrung bezüglich des Gefasels von Maul - von meinem euphorischen Sitznachbarn folgendermaßen erklärt: Provokation um des Skandals wegen und mithin Linke ärgern. Die Erkenntnis kommt da erst an zweiter Stelle. So zumindest erging es mir ein weiteres Mal beim Lesen der letzten Bahamas im Infoladen eures Vertrauens(2). Die Einleitungen und Überschriften zu den Artikeln ergeben eine Mixtur aus Trash, deren Kohärenz dann doch bisweilen interessiert – und dann wieder langweilt, da sich das Hintergrundrauschen treu bleibt und die Kritik mehr zur Selbstvergewisserung denn zur Analyse taugt.


So finden sich in der Ausgabe Nr. 81 zwei Artikel zu den Protesten der Gelbwesten in Frankreich von Sören Pünjer und Justus Wertmüller. Eine Bewegung, die massenhaft und diffus daherkommt, ohne sich explizit als politisch rechts oder links zu verstehen. Parteipolitische oder repräsentative Ambitionen sind dabei schnell Drohungen ausgesetzt, will man doch gerade nicht auf dem Müllhaufen des Vergessens landen, wie so viele andere soziale Bewegungen zuvor. Die Bewegung besteht zum großem Teil aus in die Provinz verdrängten Lohnabhängigen, die zumeist nur durch Pendeln ihre Arbeitsplätze erreichen können. Das Auto stellt also eine zwingende Voraussetzung zur Sicherung der eigenen Existenz als Arbeitskraftbehälter dar. Die angedrohte Erhöhung des Spritpreises im Sinne eines grünen Kapitalismus erzürnte im November 2018 einige Proletarisierte. In sozialen Medien wurden Videos hochgeladen und zu Blockaden der Verkehrskreisel aufgerufen. Unerwartet massenhaft wurde der erste ›Akt‹, wie sich die Aktionstage nennen, von 300.000 Personen umgesetzt. Das verbindende Merkmal war die gelbe Warnweste, die sich in jedem gut sortierten PKW befinden sollte. Der passende Chic, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen. Es folgten tägliche Blockaden und wöchentliche Demonstrationen. Dabei bediente man sich unbewusst der Mittel linksradikaler Praxis: selten wurde etwas angemeldet, Straßen blockiert und es wurde auch die Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt gesucht. Der Druck sollte keinem zahnlosen, angemeldeten Ritual weichen, sondern eine Dynamik entfachen, um den Staat tatsächlich unter Zugzwang zu stellen. Es sind diese Erkenntnisse, die »die Waisen des Existierenden« nie verstehen werden und die beständig den Untergang der Zivilisation beweinen, wenn es zu Riots kommt. ›Identitätsstiftung, Racket, Mackertum‹ – man kennt all die Vorwürfe, bei denen sich selten um ihren materiellen Gehalt gekümmert wird und die vielmehr eigener Fantasie (um nicht gleich Ideologie zu sagen) entspringen. Jedenfalls kam es bereits am 1. Dezember 2018 zu ungewöhnlich heftigen Ausschreitungen und der Entweihung des heiligen Arc de Triomphe, so dass sich die französische Regierung genötigt sah, die Erhöhung der Spritpreise zu verschieben. Dieser Aktion folgte kein Abebben der Proteste und ein weiterer ›Akt‹ am 8. Dezember stand abermals im Zeichen umfassender Umgestaltung vieler Innenstädte und Provinzen. Daraufhin meldete sich Präsident Macron erstmals direkt zu Wort und kündigte milliardenschwere Reformen sowie eine sog. nationale Debatte an. Eine Ansage mit Strahlkraft, sind doch schließlich alle massenhaften Proteste in der jüngeren Vergangenheit letztlich gescheitert. Und trotzdem gehen die Proteste bis heute weiter, wenngleich die Anzahl der Protestierenden rückläufig ist und sich zunehmend ein fester Kern herausgebildet hat. Die nationale Debatte wird von vielen als Spektakel belächelt und ihr Ende wurde achselzuckend zur Kenntnis genommen. Weitere Reformen wurden am 25. April 2019 angekündigt, auch wenn sie an den grundsätzlichen Forderungen, wie eine Erhöhung des Mindestlohns und der Rente, vieler Gelbwesten nichts ändern.


Eine lesenswerte Analyse der Ereignisse lieferte schon zu Beginn der Bewegung Joshua Clover(3). Er analysiert die Gelbwesten als klassischen Riot, wie sie gegenwärtig weitaus häufiger sichtbar sind als Arbeitskampf. Der Riot als Form kollektiven Handelns ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
1) Drang nach Festsetzung der Preise auf dem Markt
2) Zusammenbringen von Menschen, die nichts verbindet als ihre Enteignung
3) Entfaltung in der Sphäre der Konsumtion und damit Störung der Warenzirkulation
Es geht Clover zufolge bei der Auseinandersetzung um die »Kosten der individuellen Reproduktion«, wozu ein »bestimmtes Reproduktionsmittel zu einem niedrigeren Preis angeboten werden muss, damit die proletarische Reproduktion aufrechterhalten werden kann«. Die Blockaden und Angriffe auf Mautstellen sind demnach als Attacken gegen die »physischen Verkörperungen der Zirkulation« zu verstehen. Verbindendes Element sind die »Kosten der Dinge, die sie verarmen lassen«, weshalb es dem Protest um die »Festsetzung der Warenpreise« geht. Dabei sind Riots oder gar Aufstände immerzu schon von den Stoßrichtungen innerhalb der Bewegung geprägt. Erst kürzlich stellte das französische Kollektiv lundi matin in einer Nachbetrachtung zum 1. Mai 2019 in Paris fest, dass ein »guter Teil doch nur von einer Rückkehr zur Normalität, ohne dabei Macron unbedingt besonders zu mögen«(4), träumt, wenngleich es ihnen um eine Zuspitzung der Auseinandersetzung geht. Schon zu Beginn der Gelbwesten-Proteste mischten sich auch mehrheitlich migrantisch geprägte Teilnehmende aus den berühmt-berüchtigten Vorstädten. Für Clover logische Konsequenz zweier Seiten eines Zirkulationskampfes: »Auf der einen Seite die, denen der Zugang zum Lohn verwehrt wird. Auf der anderen die, deren Löhne nicht länger ausreichen, das zum Überleben Notwendige zu kaufen«. Sofern es nicht zu einer Ethnisierung sozialer Konflikte kommt, hat man es somit mit einer wünschenswerten Gemengelage zu tun, die sich nicht in Borniertheit eigener Privilegien gefällt, sondern an allgemeiner Bekämpfung von Ungleichheit orientiert ist.


Die Analyse in der Bahamas fällt anders aus. Die Erzählung beider Autoren ähnelt sich. Am Anfang steht das einfache, lohnabhängige Volk und dessen »Traum vom Leben, das sicherer, ruhiger und freundlicher« (Wertmüller) ist. Hierfür wird auch Jacline Moraud zitiert, die zu Beginn mit einem millionenfach angeklickten Video für Furore sorgte und sich als Vertreterin des Volkswillens präsentierte. Was sonst als personalisierte Kapitalismuskritik sofort zu einem klaren Fall von Antisemitismus deklariert wird, bekommt hier Verständnis. Psychoanalytisch bemüht stellt Pünjer fest: »Zur Wahrheit über das Syndrom des autoritären Charakters gehört auch, dass die Grenze zwischen Stereotypie und Erfahrung objektiv fließend ist, und das bedeutet wiederum zugleich, dass die subjektive personalisierende Projektionsleistung Mourauds sie nicht automatisch zu einer ausgemachten Antisemitin in gelber Weste macht, deren gesamte persönliche Existenz von Reflexionsausfall und pathischer Projektion bestimmt würde«. Es darf bezweifelt werden, dass ähnlich viel Verständnis gegenüber sich als links verstehende Personen aufgebracht wird, scheint man es laut Pünjer dort stets mit »Reflexionsausfall und pathischer Projektion« zu tun zu haben. Und tatsächlich ist der Feind schnell ausgemacht, denn schon bald kamen die »üblichen Verdächtigen aus den Banlieus und die üblichen Mobilisierten von links und rechts in ausreichender Zahl (…) um ihren Riot-Ritualen nachzugehen« (Pünjer). Wertmüller vermutet hierin gleich eine Verschwörung, denn wenn der gute, bürgerliche »Pöbel Rabatz macht, will man ihm die Staatsorgane oder wahlweise bewaffnete Antifaschisten und Antirassisten auf den Hals schicken«. Erst diese »antifaschistische und antirassistische Linke (…) mit ihren Brüdern of colour« seien für den Antisemitismus innerhalb der Bewegung verantwortlich. Eine falsche, wie auch kuriose Fehleinschätzung. Zum einen gibt es berechtigte Gründe für die »üblichen Verdächtigen«, sich an einer Revolte gegen Ungleichheit zu beteiligen. Wie bei Clover bereits erwähnt, fehlt es hier häufig am Zugang zu Lohnarbeit. Man muss kein Spinner essenzialisierender Philosophie sein, um trotzdem vorhandene Privilegien zu reflektieren. Die Mittel, um auf bestehende Ungerechtigkeit hinzuweisen, sind dabei auch von diesem Standpunkt aus zu betrachten. Zumal es ein simples, allzu einfaches Unterfangen ist, den Krawall bestimmten Personengruppen zu unterstellen. Vielmehr wuchs die Akzeptanz der Riots mit jeder weiteren Konfrontation mit der Polizei, so dass es bisweilen zu Standing Ovations für den Black Block kam, weil dieser auch eine schützende Funktion vor staatlicher Gewalt einnahm. Auch wissen die pazifistischen Teile der Bewegung um den erzeugten Druck durch den Krawall, welche die staatlichen Zugeständnisse sicherlich in beträchtlichem Maß erst erzwungen haben. Doch die Freunde der bürgerlichen Zivilisation scheinen solche feinen Nuancen nicht zu kennen und vertrauen loyal der Ideologie bürgerlicher Demokratie.


Beim Lesen der Artikel fühlt man sich an Alexander Gauland und Jens Spahn erinnert, wenn es um das Kerngeschäft der Bahamas geht: Linken-Bashing(5). Die aktuellen Proteste werden von Pünjer als Gegensatz zum monatelangen Aufbegehren 2016 gegen eine Reform des Arbeitsgesetzes gesehen, welche deutlich stärker von Gewerkschaften und linken Gruppen geprägt war. So bedient er das Bild des zeitlich flexiblen linken Studenten, der abends noch die Zeit zum Plausch beim Nuit debout (temporäre Besetzungen von Plätzen von denen gelegentlich Aktionen ausgingen) hat. Im Gegensatz zu den Gelbwesten, die »ganz spießig am Samstag demonstrierten, denn Nächte durchmachen und danach der Lohnarbeit nachgehen, verträgt sich nicht besonders gut«. Dabei machte ein großer Teil der damaligen Proteste das lohnabhängige Lager, zumeist in der CGT organisiert, aus. Diese demonstrierten bevorzugt am Donnerstag und blockierten bisweilen ihre Arbeitsplätze. Das verehrte einfache Volk fand sich aber auch trotz der unterschiedlich gewählten Aktionstage in den Reihen gegen das Arbeitsgesetz. Pünjer und Wertmüller betreiben das falsche Spiel von Ideologie, wo Linke per se als ideologisch aufgeladen gelten und abseits davon das scheinbar pragmatische, an Sachpolitik verbundene Bürgertum zu verteidigen ist. Pünjer sieht sodann in einer »weltoffen-antinationalen Gemeinde« die »ideologische Vorhut des postmodernen Kapitalismus« und Wertmüller das »klassen- und generationenübergreifende Projekt ›Rettet die Welt‹«. Letzterer lässt sich gar zu dem Hirngespinst verleiten, darin den »Einklang mit massenhaft geführtem, wahrhaft klassenübergreifenden Dschihad« zu erkennen. Eine gedankliche Meisterleistung, wie man sie von so vielen der Extremismus-Doktrin verpflichteten Experten kennt, die nie Äpfel von Birnen – sprich: Allgemeines und Besonderes – voneinander unterscheiden können. Der drohenden Apokalypse von »moralisch oder ethnisch begründetem Identitätsterror durch die Agenturen des postnationalen Staats und seiner linken und islamistischen Hilfstruppen« folgt die Auslieferung an die »einzig verbliebene Alternative (…) der moralischen Gegengesellschaft islamischen Zuschnitts«. Das Ganze ähnelt nicht zufällig an die permanent wahrgenommene Angst vor dem kommenden Bürgerkrieg, wie man sie gegenwärtig aus den Mündern vieler autoritärer Persönlichkeiten kennt, die sich für mehr Staatsgewalt und Grenzabschottung stark machen. Wenn dann französische Intellektuelle wie Didier Eribon oder Édouard Louis die Gelbwesten Bewegung öffentlich verteidigen und intervenierend vor den bekannten Spaltungstendezen entlang von Herkunft oder Sexualität warnen, vermutet Pünjer dahinter den »Ungeist postmoderner Selbstviktimisierung« und lehnt die Fürsprache der benannten Personen folglich vehement ab.


Nach dem Lesen der Artikel bleibt wieder einmal die Erkenntnis, dass die Bahamas beim ständigen Drang nach Links-Bashing auf dem üblichen Niveau des staatstreuen Wutbürgers angekommen ist – und sich in dieser Rolle auch gefällt. Ideologisch sind da immer die anderen und man selbst versteht sich als herrlich wertneutral und an Vernunft orientiert. Wie viel davon Verschwörungstheorie und letztlich simples Ressentiment ist, wurde zuletzt auch im Conne Island im Zuge zweier Veranstaltungen deutlich gemacht(6). Eine Erkenntnis, die sich bei den Artikeln bestätigt hat.

Ivan Tuw

Anmerkungen

(1) https://www.conne-island.de/news/214.html

(2) Ihr findet die aktuelle Ausgabe im Infoladen des Conne Island [Anm. d. Red.: 2. OG, Di-Do 17-20 Uhr geöffnet] Nutzt Dataspace: http://ildb.nadir.org/

(3) deutsche Übersetzung: https://non.copyriot.com/die-verkehrskreisel-riots/ Eine Einführung in die Riot-Theorie von Clover fand am 16.10.2018 im Conne Island statt & wurde aufgezeichnet: https://www.freie-radios.net/91688

(4) deutsche Übersetzung: https://de.indymedia.org/node/32450

(5) Zum Trendsport Linken-Bashing: https://jungle.world/artikel/2019/19/sind-die-linken-die-neuen-faschisten

(6) 2.10.2018: Grenzarbeit - Zur Verteidigung einer antideutschen Linken gegen die Querfront (nachhörbar: https://www.freie-radios.net/91704 ), 30.1.2019: Mütterimagines, Mückenstiche und die selbstverschuldete Unmündigkeit der Frau (nachhörbar: http://audioarchiv.blogsport.de/2019/02/22/muetterimagines-mueckenstiche-und-die-selbstverschuldete-unmuendigkeit-der-frau/ )

27.08.2019
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