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Aktuelles Heft

INHALT #258

Titelbild
Wahlabsage
• das erste: Streetwork mit Marx
• inside out: Im Osten nichts Neues.
Jahresbericht 2018
Full of Hell / The Body / Wayste / Hydren
Captain Planet, Deutsche Laichen
• position: Unteilbare Gutbürger im Dienst fürs Kapital
• position: Von Kettenrauchern und Dieselautos
• position: Eine schrecklich nette Familie
• das letzte: Demokraten wider Willen?

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Streetwork mit Marx

Rezension von Tobias Kraus' Reform vs. Revolution. Zur Relevanz marxistischer Theorie für die Soziale Arbeit.

Tobias Kraus unternimmt in dem 120 Seiten umfassenden Buch Reform vs. Revolution. Zur Relevanz marxistischer Theorie für die Soziale Arbeit das äußerst löbliche Unterfangen der Analyse und Kritik der (Theorie der) Sozialen Arbeit als Instrument und Produkt des kapitalistisch organisierten Staates. Ausgehend von den beiden Leitfragen »Welche Relevanz haben marxistische Theorien heute noch für die Soziale Arbeit angesichts des Spätkapitalismus?« und »Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?«(1)stellt er sich dieser Aufgabe. Kraus hat zur Beantwortung der Fragen eine Sichtung der aus den 1970er Jahren stammenden theoretischen Beschäftigungen der Sozialen Arbeit mit dem Marxismus unternommen und im Kontrast dazu eine Lektüre aktueller, sich als kritisch verstehender Literatur aus der Sozialen Arbeit betrieben. Sein Urteil aus diesem Vergleich: Die geäußerte Kritik gegenwärtiger (und vermeintlich) kritischer Sozialer Arbeit ist verkürzt.
Wie er zu diesem Ergebnis gelangt und was die inhaltlichen Gründe für seine Bewertung sind, entfaltet er im Verlauf seiner Arbeit. Er führt sie nach der Einleitung mit einer gestrafften Einführung in den historischen Materialismus sowie die Funktionsweisen und Tendenzen des Kapitalismus nach Marx und einer sehr gelungenen Auseinandersetzung mit den Begriffen Postfordismus, Neoliberalismus und Spätkapitalismus aus. Das dritte Kapitel stellt die Diskussionen aus den 1970er Jahren dar, in denen marxistische Gedanken im Nachklang der 68er-Bewegung Einzug in die Soziale Arbeit fanden(2). Dem folgt der Blick auf die kapitalismuskritische Soziale Arbeit der Gegenwart und den Gegenständen, welche diese bearbeitet. In diesem Abschnitt bestimmt Kraus die Grenze zwischen verkürzter und »antikapitalistische[r] Soziale[r] Arbeit«(3). Das Buch endet mit Überlegungen zu den Möglichkeiten, Problemen und Folgen einer ernstgemeinten antikapitalistischen Sozialen Arbeit.
Kraus zeichnet in seinem Buch nach, wie die Soziale Arbeit, die in der Nachkriegszeit für gesellschaftliche Ursachen sozialer Probleme blind gewesen zu sein schien und die Gründe für Notlagen ausschließlich im »fehlentwickelten« Individuum suchte und diese an ihm bearbeitete. Mit Beginn der 1970er Jahre wurde diese Soziale Arbeit durch den Einfluss marxistischer Theorien zunehmend Gegenstand der Kritik. Anhand der Auseinandersetzung mit der Methode der Sozialen Einzelfallhilfe bzw. dem case work wird die Ausblendung gesellschaftlicher Faktoren und die Konzentration der Sozialen Arbeit auf den psychosozialen Bereich innerhalb der Arbeit mit den Adressat*innen verdeutlicht. Nicht materielle Hilfe war das Ziel, vielmehr moralische Beeinflussung und normative Korrektur der Einzelnen im Sinne der repressiven Werte der Gesellschaft.
Strukturelle Gründe für soziale Problemlagen, Reflexionen über Sozialarbeit als verlängertem Arm der Herrschaft(4) und ihre politische Abhängigkeit vom Staat wurden hingegen zu Themen beim progressiven Teil der Sozialen Arbeit. Normabweichendes Verhalten wurde nun als gesellschaftlich produziert oder aber als Reaktion auf die erlebte Ablehnung durch die Gesellschaft verstanden und die Schichtzugehörigkeit der Einzelnen und Gruppen aus dem kapitalistischen Produktionsverhältnis abgeleitet. Am Phänomen der Armut stellt Kraus dar, wie die kritisch gewordene Soziale Arbeit in ihren Analysen die Bedingungen für Not in der ökonomischen Basis der Gesellschaft verortete.
Erste Bestimmungen dessen, was eine marxistische bzw. antikapitalistische Sozialarbeit ausmachen würde, wurden damals entwickelt. Sie wäre das Unternehmen mittels kapitalismuskritischer Analysen der Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Ursachen sozialer Probleme in der Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit Einhalt zu gebieten und aus diesen Analysen praktische Konsequenzen zu ziehen. Sie müsste politisch werden und auch ihre Adressat*innen als politische Subjekte begreifen. Sie müsste bei ihrer Klientel Einsicht schaffen ins falsche Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft und sie hätte sich »von politischen Abhängigkeiten freizumachen und das Interesse der Klient*innen zu vertreten, was konsequenterweise in der Bekämpfung der ökonomischen Struktur als primärer Ursache der Lebensbedingungen der Klient*innen enden würde.«(5) Mit einer solchen umgesetzten Radikalität, so die Vertreter*innen der kapitalismuskritischen Sozialarbeit nach Kraus, hätte man allerdings mit politischem Widerstand und dem Entzug der existenziellen Grundlage der Arbeit rechnen müssen.
Im Gegensatz zu dieser Auffassung einer radikalen Sozialarbeit, so der Autor, beschäftigt sich die heutige, sich als kritisch verstehende Soziale Arbeit überwiegend mit Überbauerscheinungen der kapitalistischen Basis(6): Den Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Gesellschaft und die Ökonomisierung der Profession und der darin Tätigen. Als Folgen dieser Einflüsse werden unter anderem die Vermehrung psychosozialer Problemlagen, steigende Arbeitslosenzahlen und die Zunahme der Verschuldung von Privathaushalten auf der Bevölkerungs- bzw. Adressat*innenseite genannt – individuellen Schuldzuschreibungen durch die Gesellschaft inklusive. Für die Akteur*innen der Sozialen Arbeit werden die Privatisierung sozialer Dienstleistungen mitsamt der ökonomischen Effizienzorientierung, die Schaffung prekärer Arbeitsplätze oder auch die Verknappung zeitlicher Ressourcen für den Kontakt mit den Klient*innen, neben anderen Beispielen, als eine Zumutung und Gefährdung der Qualität der professionellen Arbeit verstanden und kritisiert.
Für Kraus ist diese Kritik nur eine der Symptome des Neoliberalismus. Was sie ausspart, ist die Genese des Neoliberalismus und die kapitalistische Produktionsweise als gesellschaftliche Grundlage: »Es zeigt sich ein Glaube an eine bessere Gesellschaft ohne Neoliberalismus innerhalb kapitalistischer Strukturen.«(7) Die kritische Soziale Arbeit geht so der bürgerlichen Ideologie auf den Leim, weil sie sich selbst nicht als funktionalen Teil des bestehenden Unwesens begreift und nicht versteht, dass sie der Kaschierung des Klassenkonflikts und der Abfederung sozialer Unruhen dienlich ist. »Sie ist dem Paradox ausgesetzt, ein System zu unterstützen, das ihre eigenen Klient*innen hervorbringt und damit ihre vorgeblichen Ziele unterminiert. Aller Beteuerung und Profilierungen zum Trotz ist sie Objekt und Instrument des Kapitalismus.«(8)
Wie kann Soziale Arbeit eine antikapitalistische Kraft werden? Kraus ist der Ansicht, dass sie nur dann wirklich subversiv wäre, wenn ihr die Abschaffung der herrschenden Verhältnisse zum zentralen Anliegen wird. Es werden Voraussetzungen aufgezeigt wie Soziale Arbeit, in Anlehnung an die Bestimmungsversuche einer marxistischen Sozialarbeit aus den 1970er Jahren, Teil einer revolutionären Umwälzung werden könnte:



  1. Aufklärung der Klient*innen über gesellschaftliche Verhältnisse und Mündigmachung der Adressat*innen;
  2. Losmachen vom staatlichen Auftrag und Befreiung von der finanziellen Abhängigkeit vom Staat
  3. Klare politische Positionierung gegen Staat und Kapital.



Dass diese Punkte nur schwer gegen die bestehende Gesellschaftsformation umgesetzt werden können, wird von Kraus illusionslos eingeräumt.
Es dürfe aber auch nicht sein, dass die sozialarbeiterische Unterstützung derer, die sich in Not befinden, gänzlich einzustellen sei, nur weil sie diese Radikalität nicht umsetzen kann. Als kurz- und mittelfristige Ziele sollte sich die Soziale Arbeit dafür einsetzen, dass ihren Klient*innen bessere Lebensbedingungen ermöglicht werden bzw. diese nicht weiter verelenden sowie die schon erwähnte Befähigung zur Mündigkeit der Klient*innen angestrebt wird. Hier greift Kraus auf Hollsteins Urteil aus den 70ern zurück, dass nicht die Sozialarbeiter*innen die Revolution machen werden, sondern maximal die von ihr Betroffenen. Was die Soziale Arbeit demnach lediglich tun kann, ist Bedingungen für die Selbstorganisation der Klient*innen zu schaffen. Als Disziplin hätte sie die Aufnahme der Analyse und Kritik der Gesellschaft in die Lehrpläne zu forcieren und eine an die Wurzel gehende politische Bildung zu betreiben. Sollten dies die Hochschulen unterbinden, müssen andere Wege der Selbstbildung gesucht werden.
Kraus' Schrift ist ein empfehlenswertes »Einführungsbuch«(9) für alle jene, die sich grundsätzlich mit dem kritisch-theoretischen Potential der Sozialen Arbeit auseinandersetzen wollen und nicht der Wunschphantasie anhängen, Soziale Arbeit könnte die kapitalistisch verfasste Welt in ihren Grundlagen verändern. Dass sie gestern wie heute nur Feuerwehr (oder schlimmer: Polizei) spielen darf und muss, wenn es zu gesellschaftlich verursachten sozialen Problemen kommt, wird bei Kraus deutlich herausgestellt. Der Bezug auf die Theoriearbeit aus den 1970ern stellt dabei – vermittelt über die Kontrastierung mit aktuellerer Literatur - einen begrüßenswerten Wiederbelebungsversuch kritischen Denkens dar. Kritisiert werden kann an dem Buch, dass die kurze und lehrbuchartige Skizzierung des historischen Materialismus und der kapitalistischen Funktionen und Tendenzen nur für Kenner*innen der Materie eine für die Zwecke des Buches ausreichende Handreichung darstellen dürfte. Ist sie doch durch die gepackte Form und den verwendeten Fachwörtern nicht gerade eine Einladung zum Kennenlernen und zur Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophischen und marxistischen Basics. Hier empfiehlt sich eine weiterführende Lektüre zu den angerissenen Thematiken. Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Auswahl der aktuellen kritischen Sozialarbeitstheorie durch Kraus. Er arbeitet sich zu großen Teilen am »Schwarzbuch Soziale Arbeit« von Mechthild Seithe ab und hat daher leichtes Spiel, neoliberal domestiziertes Denken und sozialdemokratische Kritik an negativen Erscheinungen der Gesellschaft ausfindig zu machen. Hier wäre ein breiteres Spektrum an Quellen wünschenswert gewesen. Eine Beurteilung auch der Arbeiten von Timm Kunstreich, Ulrike Eichinger, Frank Bettinger, Helga Cremer-Schäfer oder auch Michael Winkler hätten Gegenstände der Analyse sein können.


Kraus, Tobias: Reform vs. Revolution. Zur Relevanz marxistischer Theorie für die Soziale Arbeit.
Erschienen 2018 im PapyRossa Verlag. Preis: 9,90€. ISBN 978-3-89438-682-5.

von Thomas (Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Leipzig)

Anmerkungen

(1) S.14

(2) Hier wird insbesondere auf die beiden Sammelbände aus dem Jahr 1973 Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen, herausgegeben von Hollstein/Meinhold, und Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, herausgegeben von Otto/Schneider, Bezug genommen.

(3) S.80

(4) Zu den Funktionen der Sozialen Arbeit unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen gibt es ein gleichnamiges Unterkapitel im Buch, welches insbesondere die Analyseergebnisse von Hollstein wiedergibt. S.73ff.

(5) S.73

(6) Als Ausnahmen werden Arbeiten von Ackermann, Burri und Khella genannt.

(7) S.95

(8) S.102

(9) So Sebastian Friedrich in seinem Vorwort, S.11.

27.08.2019
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