• Titelbild
• Wahlabsage
• das erste: Streetwork mit Marx
• inside out: Im Osten nichts Neues.
• Jahresbericht 2018
• Full of Hell / The Body / Wayste / Hydren
• Captain Planet, Deutsche Laichen
• position: Unteilbare Gutbürger im Dienst fürs Kapital
• position: Von Kettenrauchern und Dieselautos
• position: Eine schrecklich nette Familie
• das letzte: Demokraten wider Willen?
Tobias Kraus unternimmt in dem 120 Seiten umfassenden Buch Reform vs. Revolution. Zur Relevanz marxistischer Theorie für die Soziale Arbeit das äußerst löbliche Unterfangen der Analyse und Kritik der (Theorie der) Sozialen Arbeit als Instrument und Produkt des kapitalistisch organisierten Staates. Ausgehend von den beiden Leitfragen »Welche Relevanz haben marxistische Theorien heute noch für die Soziale Arbeit angesichts des Spätkapitalismus?« und »Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?«(1)stellt er sich dieser Aufgabe. Kraus hat zur Beantwortung der Fragen eine Sichtung der aus den 1970er Jahren stammenden theoretischen Beschäftigungen der Sozialen Arbeit mit dem Marxismus unternommen und im Kontrast dazu eine Lektüre aktueller, sich als kritisch verstehender Literatur aus der Sozialen Arbeit betrieben. Sein Urteil aus diesem Vergleich: Die geäußerte Kritik gegenwärtiger (und vermeintlich) kritischer Sozialer Arbeit ist verkürzt.
Wie er zu diesem Ergebnis gelangt und was die inhaltlichen Gründe für seine Bewertung sind, entfaltet er im Verlauf seiner Arbeit. Er führt sie nach der Einleitung mit einer gestrafften Einführung in den historischen Materialismus sowie die Funktionsweisen und Tendenzen des Kapitalismus nach Marx und einer sehr gelungenen Auseinandersetzung mit den Begriffen Postfordismus, Neoliberalismus und Spätkapitalismus aus. Das dritte Kapitel stellt die Diskussionen aus den 1970er Jahren dar, in denen marxistische Gedanken im Nachklang der 68er-Bewegung Einzug in die Soziale Arbeit fanden(2). Dem folgt der Blick auf die kapitalismuskritische Soziale Arbeit der Gegenwart und den Gegenständen, welche diese bearbeitet. In diesem Abschnitt bestimmt Kraus die Grenze zwischen verkürzter und »antikapitalistische[r] Soziale[r] Arbeit«(3). Das Buch endet mit Überlegungen zu den Möglichkeiten, Problemen und Folgen einer ernstgemeinten antikapitalistischen Sozialen Arbeit.
Kraus zeichnet in seinem Buch nach, wie die Soziale Arbeit, die in der Nachkriegszeit für gesellschaftliche Ursachen sozialer Probleme blind gewesen zu sein schien und die Gründe für Notlagen ausschließlich im »fehlentwickelten« Individuum suchte und diese an ihm bearbeitete. Mit Beginn der 1970er Jahre wurde diese Soziale Arbeit durch den Einfluss marxistischer Theorien zunehmend Gegenstand der Kritik. Anhand der Auseinandersetzung mit der Methode der Sozialen Einzelfallhilfe bzw. dem case work wird die Ausblendung gesellschaftlicher Faktoren und die Konzentration der Sozialen Arbeit auf den psychosozialen Bereich innerhalb der Arbeit mit den Adressat*innen verdeutlicht. Nicht materielle Hilfe war das Ziel, vielmehr moralische Beeinflussung und normative Korrektur der Einzelnen im Sinne der repressiven Werte der Gesellschaft.
Strukturelle Gründe für soziale Problemlagen, Reflexionen über Sozialarbeit als verlängertem Arm der Herrschaft(4) und ihre politische Abhängigkeit vom Staat wurden hingegen zu Themen beim progressiven Teil der Sozialen Arbeit. Normabweichendes Verhalten wurde nun als gesellschaftlich produziert oder aber als Reaktion auf die erlebte Ablehnung durch die Gesellschaft verstanden und die Schichtzugehörigkeit der Einzelnen und Gruppen aus dem kapitalistischen Produktionsverhältnis abgeleitet. Am Phänomen der Armut stellt Kraus dar, wie die kritisch gewordene Soziale Arbeit in ihren Analysen die Bedingungen für Not in der ökonomischen Basis der Gesellschaft verortete.
Erste Bestimmungen dessen, was eine marxistische bzw. antikapitalistische Sozialarbeit ausmachen würde, wurden damals entwickelt. Sie wäre das Unternehmen mittels kapitalismuskritischer Analysen der Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Ursachen sozialer Probleme in der Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit Einhalt zu gebieten und aus diesen Analysen praktische Konsequenzen zu ziehen. Sie müsste politisch werden und auch ihre Adressat*innen als politische Subjekte begreifen. Sie müsste bei ihrer Klientel Einsicht schaffen ins falsche Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft und sie hätte sich »von politischen Abhängigkeiten freizumachen und das Interesse der Klient*innen zu vertreten, was konsequenterweise in der Bekämpfung der ökonomischen Struktur als primärer Ursache der Lebensbedingungen der Klient*innen enden würde.«(5) Mit einer solchen umgesetzten Radikalität, so die Vertreter*innen der kapitalismuskritischen Sozialarbeit nach Kraus, hätte man allerdings mit politischem Widerstand und dem Entzug der existenziellen Grundlage der Arbeit rechnen müssen.
Im Gegensatz zu dieser Auffassung einer radikalen Sozialarbeit, so der Autor, beschäftigt sich die heutige, sich als kritisch verstehende Soziale Arbeit überwiegend mit Überbauerscheinungen der kapitalistischen Basis(6): Den Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Gesellschaft und die Ökonomisierung der Profession und der darin Tätigen. Als Folgen dieser Einflüsse werden unter anderem die Vermehrung psychosozialer Problemlagen, steigende Arbeitslosenzahlen und die Zunahme der Verschuldung von Privathaushalten auf der Bevölkerungs- bzw. Adressat*innenseite genannt – individuellen Schuldzuschreibungen durch die Gesellschaft inklusive. Für die Akteur*innen der Sozialen Arbeit werden die Privatisierung sozialer Dienstleistungen mitsamt der ökonomischen Effizienzorientierung, die Schaffung prekärer Arbeitsplätze oder auch die Verknappung zeitlicher Ressourcen für den Kontakt mit den Klient*innen, neben anderen Beispielen, als eine Zumutung und Gefährdung der Qualität der professionellen Arbeit verstanden und kritisiert.
Für Kraus ist diese Kritik nur eine der Symptome des Neoliberalismus. Was sie ausspart, ist die Genese des Neoliberalismus und die kapitalistische Produktionsweise als gesellschaftliche Grundlage: »Es zeigt sich ein Glaube an eine bessere Gesellschaft ohne Neoliberalismus innerhalb kapitalistischer Strukturen.«(7) Die kritische Soziale Arbeit geht so der bürgerlichen Ideologie auf den Leim, weil sie sich selbst nicht als funktionalen Teil des bestehenden Unwesens begreift und nicht versteht, dass sie der Kaschierung des Klassenkonflikts und der Abfederung sozialer Unruhen dienlich ist. »Sie ist dem Paradox ausgesetzt, ein System zu unterstützen, das ihre eigenen Klient*innen hervorbringt und damit ihre vorgeblichen Ziele unterminiert. Aller Beteuerung und Profilierungen zum Trotz ist sie Objekt und Instrument des Kapitalismus.«(8)
Wie kann Soziale Arbeit eine antikapitalistische Kraft werden? Kraus ist der Ansicht, dass sie nur dann wirklich subversiv wäre, wenn ihr die Abschaffung der herrschenden Verhältnisse zum zentralen Anliegen wird. Es werden Voraussetzungen aufgezeigt wie Soziale Arbeit, in Anlehnung an die Bestimmungsversuche einer marxistischen Sozialarbeit aus den 1970er Jahren, Teil einer revolutionären Umwälzung werden könnte: