• Titelbild
• Editorial
• das erste: Sich radikal in der eigenen Zurichtung fühlen können
• Über die Rückkehr des Proletariats.
• Escape-Ism / Lassie
• Linke Politik unter rechtem Kurs: Das Beispiel Österreich
• Die schwärzeste Grauzone
• Die Sächsische Schweiz braucht ein AZ!
• review-corner buch: Meinst du, der Feind meines Feindes ist mein Freund?
• position: Kritik der unkritischen Kritik
• doku: Vom Wert der Familienbande
• das letzte: #6: Alles für den Kiez
Eines der wenigen Dinge, an die ich mich, ehrlich gesagt, überhaupt noch aus meinem Studium der Politikwissenschaft erinnere, ist, dass es immer die Dümmsten waren, die nach morgendlicher Spiegel Online-Lektüre in den Seminaren zu den Internationalen Beziehungen am lautesten über die sog. Außenpolitik schwadronierten. Der Maßstab des Themas korrespondiert nicht unbedingt mit der Größe der Erkenntnis. Und wenn doch, dann meistens umgekehrt proportional. Es lässt sich bekanntlich am bequemsten – vorzugsweise von expertenhaften Gesichtsausdrücken und Gesten begleitet – fachmännisch, äquidistant, wissenschaftlich eben über das ›Weltwetter‹ schwadronieren, wenn man/frau eh nichts fürs ›Wetter‹ kann. Da sah man/frau beides bereits in ein und derselben Gestalt: Die politisch interessierten BürgerInnen am Frühstückstisch und den PolitikexpertInnen vom Frühstücksfernsehen, die sich beim Käffchen in die Rolle mal der einen, mal der anderen Regionalmacht unverbindlich einfühlen.
Dem konkret-Autoren und Redakteur von german-foreign-policy.com Jörg Kronauer wird man mit so was natürlich nicht gerecht. Trotz des pathetischen Jewtuschenko-Zitats im Titel und des Verweises auf einen angeblichen »Kalten Weltkrieg«, ist das Buch voll mit wertvollen Hinweisen rund um den Konflikt Russland vs. die NATO bzw. ›der Westen‹ gespickt.
Im Schnelldurchlauf und dennoch faktenreich skizziert er die historische Entwicklung und die Grundlinien der aktuellen Russlandpolitik Deutschlands und der USA. Alles wertvolle Hinweise, die öfters in der Debatte fehlen und die vorschnell zur Dämonisierung Russlands verleiten. Was die deutsche Ostpolitik angeht, fängt Kronauer merkwürdigerweise erst in der Weimarer Zeit an, als sich Teile der deutschen Bourgeoisie mit dem jungen sozialistischen Russland arrangieren mussten, weil ihnen ihre Geschäftsbeziehungen aus der Zarenzeit drohten flöten zu gehen. Das ist eben die Konfliktlinie zwischen verschiedenen Bourgeoisiefraktionen, die sich durch die gesamte Geschichte der deutschen Russlandbeziehungen zieht und manchmal abenteuerliche ideologische Formen annimmt: Mit dem ›Westen‹ zusammen den ›wilden Osten‹ kolonisieren, mit Russland gegen den verhassten Rest von Europa oder gar im Alleingang gegen den Rest der Welt Mist an allen Fronten bauen? Selbst nach dem desaströsen Ausgang des Zweiten Weltkrieges,, formierten sich mit der Gründung der BRD in den 1950er Jahren wirtschaftliche Interessengruppen im sog. Ost-Ausschuss, die Handelsbeziehungen mit dem sog.sozialistischen Ostblock anstrebten. Dabei unterstützte man immer gerne nationalistische Zentrifugalkräfte wie z.B. den ukrainischen Nationalismus bzw. die exilierten Überreste der »Ukrainischen Befreiungsarmee«, der faschistischen Kollaborateurentruppe OUN-UPA. Wie diese politische Unterstützung mit der Arbeit des Ost-Ausschusses konkret zusammenhing, verrät uns Kronauer nicht. Er schildert aber deutsche Versuche, die kollabierte wirtschaftliche und die geschwächte außenpolitische Lage der zerfallenen Sowjetunion auszunutzen und ehemalige Teile davon in den eigenen Einflussbereich hineinzuziehen – wie es z.B im Fall der Ukraine trotz florierender wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Russland 2014 passierte.
Die USA hingegen, so Kronauer, waren ebenfalls seit Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts daran interessiert, den möglichen Rivalen um die Welthegemonie unten zu halten. Später kam zu diesem Interesse noch der ausgeprägte Antikommunismus hinzu. Die Versuche, dem expandierenden Ostblock eine vergleichbare Macht entgegenzusetzen, mündeten über einen längeren Zeitraum in die Gründung der NATO. Gleichzeitig versuchten aber die USA dem deutschen Expansionismus und der deutschen Bündelei mit Russland entgegenzuwirken. Wie auf Brzezinskis The Grand Chessboard geht es machtzynisch zu, als es gilt die kleineren, militärisch zu vernachlässigenden Staaten Russlands Orbit zu entreißen und in die NATO einzugliedern. Demgegenüber erscheint die von der BRD angetriebene EU-Erweiterung als ein Konkurrenzunternehmen. Die Kleinen aber, um die hier geschachert wird, gehen als willenlose Bauernopfer durch, über deren Schicksal woanders entschieden wird. Das Beispiel Montenegros, welches 2017 gegen den Bevölkerungswillen der NATO beitrat, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. (Und der versuchte Putsch im Oktober 2016 mit deutlicher russischer Handschrift oder die pro-russischen Inszenierungen in Serbien im Januar 2019 umso bezeichnender. So wird offensichtlich auf diesem »Schachbrett« gespielt). Kronauer scheint es sich nicht vorstellen können, dass die kleinen Nationen ihre guten Gründe haben, Russland nicht den Rücken zuzukehren und im Zweifelsfall militärisch nicht alleine dastehen wollen. Wie und warum sich solche Diskurse im Inneren ändern und verschieben, wird aus der außenpolitischen Perspektive allein nicht sichtbar. Hier kommen die sog. Farbrevolutionen ins Spiel, vor denen sich das russische Establishment so sehr fürchtet, dass es seit 15 Jahren nicht mehr aufhört über das »Orangene Gespenst« zu schimpfen. So sehr Kronauers Schilderungen ausländischer (sprich: europäischer und US-amerikanischer) Einmischung in die Proteste richtig sind, sollte man nicht so tun, als wäre es die selbstverständliche Pflicht eines jeden Untertans und einer jeden Untertänin, ihre Despoten zu lieben und immer gegen die ausländische Dekadenz zu verteidigen. Alles bezahlte und ›aufgestachelte‹ Leute, ohne eigenen Willen und Interessen, die auf die Straßen gehen? Das hätte man im Kreml gerne so. Bei den Protesten gegen das Verbot des Internetmessengers Telegram (der auch bei den Unruhen im Iran eine wichtige Rolle spielte) im Frühjahr 2018 waren nicht nur die liberalen VertreterInnen städtischer Mittelschichten, sondern auch Nazis und radikale Linke dabei. An einem ›regime change‹ sind sie alle interessiert, können aber gegen die – ohne die Beteiligung ausländischer Stiftungen hergestellte – Lethargie im Lande nichts ausrichten. All die Leute auf dem Maidan-Platz 2013/14: Für wie viel Geld ließen sie sich von einem Bruch mit den sowjetischen Traditionen bei Polizei und Justiz, die die Ukraine wie die Luft zum Atmen gebraucht hat, überzeugen? Ich frage mich, ob die Think-Tanks wissen, mit wie viel Geld, sagen wir mal, die zehn größten russischen Städte sich ›kippen‹ lassen, Otpor hin oder her? Oder weil es so gut zum Thema des Buches passt: Das wüsste vielleicht noch der Geheimdienst des Deutschen Reichs, der die Bolschewiken sponserte, als es im Zarenreich kriselte.
Wo wir endlich beim Gegenspieler angelangt sind, erfahren wir etwas über die Anfänge des russischen Faschismus im Milieu der ›weißen‹ Emigration in Europa Anfang des 20. Jahrhunderts, vom sog. ›Eurasismus‹, der sich fast folgenlos verläuft, bis er hundert Jahre später vom allseits bekannten Alexander Dugin ausgebuddelt wird. Ich will nicht darüber spekulieren, wie viel Herzblut im Wiederaufbau der russisch-europäischen Beziehungen seitens Russland in den 1990er und 2000er Jahren steckte, ob da wirklich an der europäischen Reserviertheit die Herzen brachen, oder ob es sich auf beiden Seiten um Geschäfte handelte. Fühlt sich die russische ›Elite‹, also der von den Wirren der 90er Jahre nach oben gespülte Nachwuchs des Sowjetsystems, zu wenig geschätzt, gar hintergangen? Wer sich so menschlich in die Staatsbelange einfühlt, hat früher wahrscheinlich auch an die Friedfertigkeit der UdSSR geglaubt.(1) Wie auch immer, die neuen wirtschaftlichen Beziehungen werden vor allem in Ost- und Zentralasien, aber auch in Nord- und Zentralafrika ausgebaut, die alten wirtschaftlichen Beziehungen zu allen möglichen Despotien sind reaktiviert und das Militär für neue Herausforderungen reformiert worden. Im Inneren wurde die Entwicklung von einer revanchistischen, neo-imperialen Religion des starken Staats, die sich postmodern gleichzeitig zaristischer und sowjetischer Symbolik bedient und vom aus der nationalistischen Mottenkiste geholten Russophobie-Gejammers des Modernisierungsnachzöglings (der so etwas wie der Vernichtungsantisemitismus nur gegen Russen sein soll) flankiert. Ich stimme Kronauer vollkommen zu: Leute wie Dugin sollte man nicht überschätzen. Unterschätzen allerdings auch nicht, und sie haben ihre Rolle durchaus gespielt.(2) Um ein Gleichgewicht der Kräfte wie einst im sog. Kalten Krieg geht es Russland nicht mehr. Ich werde hier auf die Schilderungen eines von Nazis durchgeführten Maidans nicht näher eingehen, auch nicht auf den sog. ›Bürgerkrieg‹ im Osten der Ukraine. Es ist ja nicht so, dass InformNapalm.org nicht genügend Beweise für die Präsenz russischer Armeeverbände in den sog. Volksrepubliken gesammelt hätte, dass man heutzutage das Gerede vom »Bürgerkrieg« noch ernst nehmen müsste. Der Sinn und Zweck von ›privaten‹ paramilitärischen Verbänden wie z.B. Wagner, ist eben, die Präsenz der regulären Truppen zu vertuschen, die so ›privat‹ seien, wie der Krieg ein »Bürgerkrieg« ist, in dem Russland irgendwelchen Aktivisten nur »unter die Hände gegriffen« hätte.(3) Alles nur ein gerechter Gegenschlag, inklusive der breit gestreuten Desinformation und Förderung rechtsextremer Parteien und Organisationen in der EU. »Auge um Auge«, wie Kronauer schreibt. So abstrakt der Feind, d.h. der Liberalismus, so wenig kann er es Russland wieder recht machen. Wem galt das gemeinsame Sapad-Manöver 2017 mit Belarus? Der NATO, dem »lieben Nachbar« Lukaschenko gar? Wem versprach Putin das christliche Paradies, während der Rest der Welt direkt im atomaren Feuer verbrennen sollte? Es richtete sich, genau wie der nekrophile Siegeskult, die geplante Militärkathedrale in Tarnbemalung und die wiederholten Berichte über die Zerschlagung des IS und den Abzug russischer Truppen aus Syrien(4), an die eigenen Untertanen, die weiterhin hinter ihren ungeschickten Herrschern stehen sollen. Die sog. Volksrepubliken sind eine halbe Lösung und somit keine ganze, das Publikum im Inneren verliert langsam das Interesse an dieser Aventüre. Den kollektiv geträumten Siegeszug hat man aber oben wie unten bitter nötig, ohne ihn klappt die russische Gesellschaft zusammen und der Bürgerkrieg kommt womöglich dorthin, wo er hingehört – ins potjomkinsche Gaspromdorf.
Jörg Kronauer ist freilich ein Feind der deutschen bzw. EU-Bourgeoisie, was man/frau ihm nicht verübeln kann. Und hier kommt die eigentliche Schwierigkeit. Er ist kein Freund der russischen UntertanInnen, die für die imperial-revanchistischen Bestrebungen ihres Racketstaates(5) – ob freiwillig und bewusst oder nicht – mit ökonomischem Wohlstand und politischer Selbstbestimmung bezahlen müssen. Was dieses Gerede von der Freundschaft bezeichnen soll, ist nicht einfach zu erklären. Zu subjektiv, zu unbestimmt ist die hier gebrauchte Begrifflichkeit. Was Russlands ›Siege‹ im Nordkaukasus, in der Ukraine oder in Syrien für diese Gesellschaften bedeutet, ist recht evident. Wir beim Grossen Thier haben im Laufe der Jahre viel mehr versucht zu bestimmen, was diese ›Siege‹ mit der russischen Gesellschaft machen. Darum geht es: Man kann kein Freund Russlands sein, ohne ein Freund der Ukraine zu sein. Einen Freund in diesem Sinne würde ich sogar Boris Reitschuster nennen, den »Autor mehrerer modischer Anti-Putin-Bücher«, wie ihn Kronauer nennt. Ja, ich meine jenen Reitschuster, der vor lauter Demokratieduseligkeit und Friedfertigkeit auf die gewaltsamen Grundlagen des guten bürgerlichen Staates nicht reflektieren und folglich keinen Unterschied zwischen dem NSU und den HausbesetzerInnen von der Rigaerstraße 94 erkennen kann. Der weiß wenigstens, wie das alltägliche Leben eines durchschnittlichen rechtlosen Untertanen des ›siegreichen‹ Staates aussieht und wünscht ihm eine baldige Ernüchterung vom patriotischen Rausch.(6) Ohne diesen wiederum wird das kleptokratische Regime Putins, das angesichts der fallenden Erdölpreise seine Untertanen nach dem Motto »Menschen sind das neue Erdöl« behandelt,(7) recht schnell zusammenkrachen. Russland in seiner gegenwärtigen Verfasstheit ist auf kleine siegreiche Kriege angewiesen.
Ich empfehle das Buch selbstverständlich weiter. Unter anderem als ein Beispiel, wie ein intellektueller Kniefall vor der Herrschaftslogik funktioniert. Wenn jemand aufgrund seines/ihres zarten Alters noch nie gesehen hat, wie ein linker Intellektueller aus Deutschland diverse Despoten in Schutz nimmt, kann er oder sie hier mal nachschlagen.(8) Die Aufgabe eines linken Intellektuellen besteht bekanntlich darin, zu jedem Schlamassel ein passendes Zitat zu finden, das das schlechte Ganze wieder gut und vernünftig aussehen lässt. Wie das von Karl Radek z.B.: »Die Spaltung im Lager des Imperialismus und die Fesselung des einen Feindes Sowjetrusslands durch die Hände des anderen (sei) der Hauptfaktor der ganzen Geschichte der äußeren Politik Sowjetrusslands«. Jetzt dürfte klar sein, dass wir nicht die sich verschärfende Konkurrenz unter verschiedenen Blöcken kapitalistischer Staaten erleben, sondern uns wieder im Systemgegensatz befinden.(9)
Jewgenij Jewtuschenko, dessen berühmte Gedichtzeile dem Buch als Titel dient, kann freilich nichts dafür, dass er so gerne auf DDR-Nostalgieveranstaltungen sowie auf querfrontlerischen Friedensmahnwachen zitiert wird. ›Babyj jar‹ kennt man. Vielleicht weiß man noch, wie er - wie immer in schlichten und genialen Worten - der Niederschlagung des Prager Aufstands 1968 durch die Sowjetarmee widersprochen hatte. Aber das politische Gespür hat auch dem alten Dichter einen Streich gespielt, als er sich 2015 der russischen Propaganda zur Verfügung gestellt hatte.(10) Wie man sieht, ist Kronauers Buch in dieser Hinsicht fast ein abgerundetes Kunstwerk. Richtig ist zwar sein Hinweis, dass die notwendige Abrüstung auf beiden Seiten nur »gegen das Establishment erkämpft« werden muss. Vielleicht kann er noch sagen, was »Meinst du, die Russen wollen Krieg?« eigentlich bedeutet – übersetzt aus dem innen- und außenpolitischen Orwellschen Sprech des Putin-Regimes?
Kronauer, Jörg: Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg, PapyRossa-Verlag 2018, 207 Seiten, ISBN 978-3-89438-650-4, 14,90 EUR
Seepferd / Das Grosse Thier