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Anlässlich des Frauen*streiks am 8. März dokumentieren wir das zweite und dritte Kapitel von Ingrid Artus' Text zur Feminisierung von Arbeitskämpfen, der im Februar in der Reihe Analysen der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschien. Die komplette Broschüre kann unter www.rosalux.de/publikation/id/39917/frauenstreik/ bestellt oder kostenlos heruntergeladen werden.



Frauen*streiks!

Zur Feminisierung von Arbeitskämpfen

2 FEMINISIERUNG VON STREIKS
2.1 Erfolgreiche Frauen*streiks



Die Anzahl der Frauen*streiks hat in den letzten Jahren in Deutschland zugenommen. Weibliche* Beschäftigte vertreten ihre Interessen nicht nur häufiger, sondern zunehmend auch sehr kämpferisch – sowohl in den Arbeitskämpfen selbst als auch in der Öffentlichkeit. Hervorzuheben sind insbesondere die Streiks im Reinigungsbereich, im Einzelhandel, im Erziehungsbereich und in der Pflege: 2009 sorgte der Streik der Putzfrauen* für viel Aufmerksamkeit, die Tarifrunde war erfolgreich. Schwieriger und langwieriger waren die Auseinandersetzungen im Einzelhandel in den Tarifrunden 2009 und 2013. Der Streik der – überwiegend weiblichen* – Verkäufer*innen war eher defensiv geprägt. Es ging im Grunde um die Verhinderung tariflicher Verschlechterungen und die Aufrechterhaltung eines Mindestniveaus an Tarifbindung. Obwohl die Verhandlungen zäh und die Streikbedingungen äußerst prekär waren, erwiesen sich die Streikenden bei einer Vielzahl von eher kleinen Streikaktionen als extrem hartnäckig und entwickelten punktuell eine erhebliche Kampfkraft, die zu partiellen Erfolgen führte. Medial ausgesprochen viel Aufmerksamkeit erregte der Arbeitskampf im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste (S&E), auch bekannt unter dem Namen »Kita-Streiks«: Auf den ersten S&E-Streik 2009 mit rollierenden Streiktagen folgte 2015 ein vierwöchiger Vollstreik in fast allen Bundesländern. War das Thema Gesundheitsschutz anfänglich eher als tarifpolitischer Hebel benutzt worden, um rechtlich überhaupt arbeitskampffähig zu werden, erwies sich dieses Thema als extrem mobilisierungsfähig, weil es unmittelbar an die besondere berufliche Belastungssituation von Erzieher*innen anschließt. Ziel beider Streiks war aber letztlich die nachhaltige Aufwertung von Erziehungsarbeit – sowohl in materieller als auch in symbolischer Hinsicht. Explizit wurde hier die Angleichung des Werts von Frauen*arbeit an Männer*arbeit gefordert – sowie bessere Arbeits- und Sorgebedingungen (vgl. hierzu diverse Beitrage in Artus et al. 2017). Unter dem Motto »Mehr von uns ist besser für alle« waren auch die Kampfe in den Krankenhäusern äußerst erfolgreich und medienwirksam – mit der Berliner Klinik Charité als Flaggschiff. Inzwischen machen die Krankenschwestern (und wenigen – pfleger) bundesweit für eine bessere Personalausstattung und Pflege mobil – nicht nur in Berlin, sondern auch im Saarland, in Bayern, in Baden-Württemberg und in den Universitätskliniken in Düsseldorf und Essen.
Statistisch ist das Phänomen der Feminisierung von Streiks bislang allerdings nur sehr schwer zu fassen. Denn zu der Schwierigkeit, Streiks und Streikende überhaupt zu zahlen (Dribbusch 2018), tritt das fast vollständige Fehlen von Erhebungen zum Geschlecht von Streikenden. Bisher haben Informationen zu diesem Thema offenbar weder die Wissenschaft noch die Gewerkschaften besonders interessiert. Eine erfreuliche Ausnahme stellt die geschlechtsspezifische Streikstatistik von ver.di dar: Obwohl die Mitgliedschaft von ver.di zu rund 50 Prozent weiblich* ist, zeigt die Abbildung deutlich, dass Männer* bei gewerkschaftlichen Arbeitskämpfen im Organisationsbereich von ver.di (nach wie vor) überrepräsentiert sind. Ausnahmen stellen die Jahre 2001 und 2002, 2009, 2013 und das – für seine außerordentlich hohe Streikaktivität fast schon »berühmte« – Jahr 2015 dar (vgl. Artus 2017). Wahrend 2001 und 2002 die Arbeitskampftätigkeit insgesamt eher gering ausfiel und der Feminisierung von Streiks in diesen Jahren daher wenig (quantitative) Bedeutung zuzumessen ist, gehen die hohen Anteile weiblicher* Streikender in den Folgejahren vor allem auf die oben erwähnten Arbeitskampfe im Einzelhandel (2009 und 2013), in den Sozial- und Erziehungsdiensten (2009 und 2015) sowie im Gesundheitsbereich (2015 u. a.) zurück.
Ergänzende Informationen zum Geschlecht der Streikenden in anderen Branchen, insbesondere im Bereich der IG Metall, die quantitativ einen relativ hohen Anteil am gesamten deutschen Streikgeschehen haben, waren freilich wünschenswert. Bedenkt man jedoch, dass ein Großteil der Frauen*erwerbstätigkeit ohnehin im Dienstleistungsbereich stattfindet (und der Frauen*anteil unter den Mitgliedern der IG Metall bei etwa 18 Prozent liegt), so ist die obige Statistik sicherlich ausreichend als Grundlage für die Feststellung: Auch heute noch ist von mehrheitlich männlich* dominierten Arbeitskämpfen in Deutschland auszugehen. Dies hat sicherlich mit den institutionellen Organisationsbedingungen von Streiks in Deutschland zu tun: Angesichts eines schwachen Streikrechts, das den Gewerkschaften ein Monopol auf legale Arbeitskampfe zuspricht, wird das Streikverhalten sehr stark von den Politik- und Tarifstrategien der Gewerkschaften geprägt – und vergleichsweise weniger von spontanem Protest, Unzufriedenheit oder auch vom (vermeintlich geschlechtstypischen) Arbeitskampfwillen und von der »Kampfkraft« der Beschäftigten. Dem Streikgeschehen liegen also auch Entscheidungen zugrunde, die in überwiegend männlich* besetzten Gewerkschaftsgremien getroffen werden und auf der Einschätzung beruhen, dass Tarifforderungen eher in männlich* geprägten Branchen durchsetzbar seien und dass ein Konflikt eher in maskulinisierten* Berufsbereichen gewagt werden könne, sodass Streikgelder eher für die Wahrung und verbesserte Durchsetzung von Interessen in männlich* dominierten Branchen eingesetzt werden.
Trotz dieser Ausgangssituation ist eine Zunahme von Streikaktivitäten in feminisierten Berufsbereichen zu beobachten. So hat zum Beispiel ver.di im Fall der S&E-Streiks im Vertrauen auf die Mobilisierungsfähigkeit der Erzieher*innen einen durchaus kostspieligen Vollstreik riskiert und eine offensive Auseinandersetzung, die vor allem von Frauen* getragen wurde, strategisch geplant und durchgeführt.


2.2 Grunde für die Feminisierung von Streiks
Die Veränderung, die sich hier abzeichnet, ist zunächst einmal – relativ banal – im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel zu sehen, das heißt mit der Verlagerung von Beschäftigung vom Produktions- in den Dienstleistungsbereich (Tertiärisierung): Wenn mehr Menschen im Dienstleistungsbereich arbeiten, erscheint es logisch, dass sich auch die Arbeitskampfe und Streiks ein Stuck weit in diese wachsenden Branchen verschieben. Und Dienstleistungsarbeit ist von jeher ein relativ stark feminisierter Bereich.
Die Tertiärisierung der Wirtschaft – und das ist ein weiterer, vielleicht sogar der zentrale Grund für die Feminisierung von Streiks – ist verknüpft mit und partiell auch induziert vom starken Anstieg der Frauen*erwerbstätigkeit. Lag die Frauen*erwerbstätigenquote, das heißt der Anteil der Erwerbstätigen an allen (erwerbsfähigen) Frauen* (zwischen 15 und 64 Jahren), in den 1960er Jahren in Westdeutschland noch unter 50 Prozent, ist sie zwischen 2007 und 2017 von 66,7 Prozent auf 75,2 Prozent deutlich gestiegen (Destatis 2018a). Damit liegt sie zwar immer noch etwas unter der Männer*erwerbstätigenquote (83 Prozent), aber Deutschland liegt diesbezüglich in Europa mittlerweile (nach Schweden und Litauen) an dritter Stelle.
Diese Entwicklungen sind aus feministischer Sicht gleichzeitig als gut und als schlecht zu bewerten: Sie sind gut, weil die Hürden für die Integration von Frauen* in die Erwerbsarbeit offenbar zunehmend sinken. Zugang zu Lohnarbeit bedeutet in unseren kapitalistischen Gesellschaften Autonomie für Frauen*, die damit ihr eigenes Geld verdienen, ein unabhängiges Leben fuhren können, sozial abgesichert sind und Anerkennung erfahren. Auch wenn Marx und Engels so schon formuliert haben, »produktiver Arbeiter« zu sein, sei »kein Glück, sondern ein Pech« (Marx 1890/1984: 532), so ringen Frauen* aktuell immer noch darum, dieses »Pech« der Männer* teilen zu können. Frauen* wollen ihre Arbeitskraft nicht (nur) unbezahlt im Heim, am Herd und im Ehrenamt verausgaben, sondern wenigstens einen Lohn dafür erhalten – auch wenn dieser noch immer 21 Prozent niedriger liegt als der der Männer* und sie wesentlich häufiger als Teil des prekarisierten Teilzeitproletariats tätig sind (Destatis 2018b: 42 ff.). Die massive Steigerung der Qualifikation von Frauen* und die mittlerweile sogar errungenen Bildungsvorteile der Mädchen* gegenüber den Jungs* spielen für den verbesserten Zugang zum Arbeitsmarkt eine sehr große Rolle.
Auf der anderen Seite ist die Zunahme von Frauen*erwerbsarbeit aber auch auf den neoliberalen Umbau und Abbau des Sozialstaats zurückzuführen, wodurch sich die soziale Absicherung insbesondere von geschiedenen und alleinerziehenden Frauen* deutlich verschlechtert hat: Mutter müssen – selbst bei alleiniger Fürsorge für mehrere Kinder – dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfugung stehen, sobald der/die Kleinste drei Jahre alt ist. Die Einführung der sogenannten Hartz-Gesetze hat nicht nur dazu geführt, dass Arbeitslosigkeit staatlich schlechter abgesichert ist, sondern auch zu einem Verfall der Reallöhne – insbesondere in den unteren Segmenten des Arbeitsmarkts –, sodass Frauen* und Männer* gleichermaßen (ganz wie in der kapitalistischen Frühphase der Industrialisierung) zum Verkauf ihrer Arbeitskraft zu fast jeder Bedingung gezwungen sind, vor allem wenn Kinder ernährt werden müssen. Das Rollenmodell der Hausfrau war zwar unter emanzipatorischen Aspekten stets eine Katastrophe; gegenwärtig ist es aber auch deshalb weniger häufig anzutreffen, weil es (wieder) zum unerschwinglichen Luxusmodell avanciert ist. Die Zunahme der Frauen*erwerbstätigkeit ist also einerseits Ausdruck von Emanzipation und besserem Zugang zum Arbeitsmarkt, andererseits stellt sie aber auch die Folge eines verschärften Zwangs zur Lohnarbeit dar.
Fest steht, dass sich Frauen* zunehmend auf dem Arbeitsmarkt behaupten müssen – und dass sie dies auch tun. Sie fordern das Recht auf gleiche Bezahlung und gleiche Anerkennung ihrer Arbeit ein und sind immer öfter bereit, diese Ziele auch konflikthaft durchzusetzen. Das hat auch viel mit Selbstbewusstsein zu tun – und dem Gefühl, legitime Forderungen stellen zu können. Dies sind die zentralen Grunde für die Feminisierung von Streiks.
Der bereits erwähnte neoliberale Abbau und Umbau des Sozialstaats spielte aber noch in anderer Hinsicht eine Rolle für die Ausweitung feminisierter Arbeitskampfe. Er fuhrt nämlich dazu, dass sich die Arbeits- und Entgeltbedingungen gerade in vielen feminisierten Berufsbereichen erheblich verschlechtert haben. Angesprochen ist hiermit vor allem der sogenannte Care-Bereich, also der Gesundheitsbereich, die Altenpflege, die Kinderbetreuung und Erziehungsarbeit, all jene Bereiche der allgemeinen Daseinsfürsorge, die früher einmal fast ausschließlich von der öffentlichen Hand organisiert worden sind und nun Profit abwerfen sollen (vgl. Winker 2015). Im Zuge der Durchsetzung neoliberaler Prämissen haben diese Wirtschaftssegmente in den letzten 20 bis 30 Jahren einen Prozess der Ökonomisierung und Privatisierung durchlaufen. Damit verknüpft waren die Zerschlagung von Unternehmensstrukturen und das Outsourcing profitabler Geschäftsbereiche, Prozesse des Tarifdumpings und der Tarifflucht, der Abbau von Personal und die extreme Verdichtung von Arbeitsprozessen, die Verstärkung bürokratischer Kontrollmechanismen bei zugleich oft steigenden Arbeitsanforderungen. Dies hat insgesamt zu einer deutlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und zum Teil auch der erbrachten Dienstleistungen geführt. Typische Frauen*berufe in der Erziehung und
Pflege sind also besonders stark von der Austeritätspolitik des Staates und ihren negativen Folgen betroffen.
Zugleich stellt der Fachkräftemangel in den sozialen Berufen grundsätzlich eine günstige Voraussetzung für Arbeitskampfe dar – ein Sachverhalt, der in anderen, besonders stark prekarisierten und feminisierten Berufsbereichen (wie dem Einzelhandel, dem Reinigungsbereich oder der Systemgastronomie) so nicht vorhanden ist. Dennoch festigt und verbreitet sich auch in den letztgenannten Branchen offenbar die Überzeugung, dass Widerstand notwendig ist, um angesichts von Outsourcing, Tarifdumping und der systematischen und professionell geplanten Bekämpfung gewerkschaftlicher Interessenvertretungen (Union Busting) nicht völlig unterzugehen. Dies hat sich nicht nur im Reinigungsbereich gezeigt, sondern auch in erbitterten Kämpfen zum Beispiel bei dem Catering-Unternehmen gate gourmet 2005 (Flying Pickets 2007) oder der outgesourcten Service-Tochter der Charité CFM 2016/17 in Berlin.
Es ist also alles andere als zufällig, dass mehr oder weniger stark feminisierte Beschäftigtensegmente aktuell von den Gewerkschaften »entdeckt« werden, die nach dem radikalen Mitgliederschwund seit den 1990er Jahren aktuell um neue Zukunftsstrategien und -perspektiven ringen. »Organizing« (Wetzel 2013) bzw. »Organisieren am Konflikt« (Kocsis et al. 2013) heißen sowohl bei der IG Metall als auch bei ver.di die neuen Zauberworte, um sich aus der gewerkschaftlichen Defensive zu befreien. Im Dienstleistungsbereich stehen dabei insbesondere die Sorgearbeiter*innen im Fokus, die sich in Kindertagesstätten und Krankenhäusern als erstaunlich konfliktfähig und mobilisierungsbereit gezeigt haben. Wenn mehrheitlich männlich* geprägte Bereiche (wie die Mullentsorgung oder der öffentliche Nahverkehr) sukzessive privatisiert und/oder ausgegliedert werden, muss der Flächentarifvertrag im öffentlichen Dienst schließlich von irgendwem verteidigt werden.
Die Erosion des Flächentarifvertrags, aber auch neue Offensivstrategien der Arbeitgeberseite sind zudem dafür verantwortlich, dass sich aktuell die Schwerpunktsetzungen und Formen gewerkschaftlicher Arbeitskampfe wandeln: Die Zeiten, in denen Streiks vor allem als ritualisierte Showkämpfe und Machtdemonstrationen, sozusagen als »Begleitmusik« zu den alljährlichen Tarifrunden inszeniert wurden, sind zwar noch nicht völlig vorbei, hinzugekommen ist jedoch eine Kakophonie von neuen, oft sehr harten Auseinandersetzungen in Branchen, die bislang noch nicht oder wenig gewerkschaftlich erschlossen sind, in denen Arbeitskampfe eher ungewöhnlich und daher oft schwierig sind, in denen Menschen streiken, die dies noch nie vorher getan haben und möglicherweise noch nicht einmal Gewerkschaftsmitglied sind, und diese Menschen sind häufiger (als früher) weiblich*.
Aber was bedeutet dieser Trend zur Feminisierung von Streiks? Streiken Frauen* denn anders als Männer*? Was folgt daraus für Streikziele, Streikstrategien, für die Gewerkschaften, für die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse insgesamt und für die Frauen* selbst? Dies ist ein umfassendes Thema, das sicherlich an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden kann. Trotzdem sollen im Folgenden einige Thesen dazu formuliert werden.


3 STREIKEN FRAUEN* ANDERS? EINIGE THESEN ZUR POLITISCHEN EINORDNUNG FEMINISIERTER STREIKS
3.1 Neue Streikkultur

Um es kurz zu machen: Ja. Frauen* streiken anders. Das hat freilich nichts mit Biologie oder biologistischen Argumenten zu tun, sondern ergibt sich aus der Tatsache, dass wir nach wie vor in einer Gesellschaft leben, die in vielerlei Hinsicht geschlechtsspezifisch strukturiert ist. Folglich sind auch Streiks gegenderte Phänomene. Das zeigt sich auf unterschiedlichen Ebenen.
(1) Die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist in Deutschland nach wie vor geschlechtsspezifisch organisiert. Frauen* übernehmen – trotz neuer Väterlichkeit – nach wie vor den Löwinnenanteil an der unbezahlten Haus- und Familienarbeit, der sogenannten Reproduktionsarbeit. Das hat selbstverständlich Folgen für die Ressourcen und auch für die konkreten Formen von Arbeitskämpfen. Wer neben der Erwerbsarbeit immer noch die Kinder und vielleicht auch die Schwiegermutter mitbetreuen muss, hat weniger Zeit und Energie, um sich zu organisieren. Aber auch die zeitliche Organisation von Streiks und die kollektiven Ausdrucksformen werden sich unterscheiden, wenn die Streikenden im Alltag permanent (auch) Reproduktionsarbeiten zu leisten haben. Häufig bedarf es weiblicher* Netzwerke, um die Gleichzeitigkeit von Fürsorgearbeit und politischer Aktion zu ermöglichen. Manchmal mag es gewerkschaftlich organisierte Kinderbetreuungen geben, um Frauen* die Teilnahme an Streikversammlungen und Demonstrationen zu ermöglichen. Häufiger ist die Weitergabe der Care-Verpflichtungen – ganz im Sinne von »Care Chains« –an andere Frauen* (Omas, andere Mutter, Nachbarinnen, Tochter), seltener an männliche Bezugspersonen; oder die Kinder werden einfach mitgenommen zur Aktion. Arbeitskampfe sind immer Teil »des ganzen Lebens« der Kampfenden – nicht nur des Erwerbsarbeitslebens. Solange sich daher der typische Alltag von Frauen* von dem der Männer* unterscheidet, so lange werden sich auch Streikpraxen unterscheiden.
(2) Nach wie vor ist auch der Arbeitsmarkt selbst in feminisierte und maskulinisierte Berufsbereiche aufgeteilt (vgl. Hausmann/Kleinert 2014). Frauen* sind tendenziell in anderen Bereichen erwerbstätig als Männer*. In diese Bereiche fallen insbesondere jene bereits genannten, feminisierten Sorgeberufe, in denen viele aktuelle Arbeitskampfe stattfinden. Aber gerade in diesen Berufen herrschen auch spezifische Bedingungen für Arbeitskampfe, die das Streiken gar nicht so einfach machen (vgl. dazu insbesondere Punkt 5).
(3) All jene patriarchalen gesellschaftlichen und familiären Hierarchien, die weiter oben bereits als bedeutsam für die historischen Arbeitskampfe beschrieben worden sind, sind auch heute noch wirkmächtig: Schließlich haben es zum Beispiel die Krankenschwestern nach wie vor mit »Göttern in Weiß« zu tun, die das Aufbegehren der Untergebenen als illegitime Anmaßung einstufen. Und Frauen* haben immer noch Ehemänner*, die sagen: »Wie? Du gehst heute Abend noch zur Streikversammlung? Wer macht mir denn dann die Pizza?« Die Frage, wie Arbeitskampfe genderspezifisch in familiäre Beziehungen eingelagert sind, wurde für stark maskulin geprägte Streiks in der Vergangenheit wiederholt erforscht. Der Hinweis auf die wichtige Rolle solidarischer Ehefrauen* etwa bei den Kohle- und Stahlarbeiterstreiks fehlt in kaum einer Streikanthologie. Umgekehrt gibt es aber kaum Forschungen zum Einfluss der Ehemänner* auf streikende Ehefrauen*. Einschlägige Erfahrungsberichte (z. B. Borzeix/Maruani 1982), Romane oder auch Biografien von Streikführerinnen (z. B. Perrot 2012) weisen jedoch nachdrücklich auf die hohe Relevanz familiärer Unterstützung für streikende Frauen* hin. Manchmal ist die Solidarität von (evtl. gewerkschaftlich selbst engagierten) Partnern und Kindern extrem stärkend. Nicht selten fuhrt ein aufbrechendes politisches Engagement von Frauen* aber auch dazu, dass traditionelle Beziehungsstrukturen infrage gestellt oder sogar zerstört werden. Dies kann freilich auch ein Emanzipationsschritt sein: Ein in betrieblichen Kämpfen neu erworbenes Selbstbewusstsein von Frauen* lasst sie über traditionelle Rollenmodelle »hinauswachsen«. Die Konflikte in der Erwerbssphäre sind daher oft eng mit parallelen Krisen und Auseinandersetzungen im Privatleben verwoben. Diese Kampfe, Unsicherheiten und Neuorientierungen auszuhalten, dazu gehört viel Mut – privat wie beruflich.
(4) Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss, den das Gender-Stereotyp von der friedfertigen, demütigen und opferbereiten Frau auf das politische Engagement von Frauen* (noch immer) hat. Das sogenannte Helfersyndrom als typisches Berufsethos im Pflegebereich ist nicht genderneutral und musste deshalb eher als Helferinnensyndrom bezeichnet werden. Positiv formuliert bildet die Ethik fürsorglicher Praxis (Senghaas-Knobloch 2008), das heißt die professionelle Orientierung an den Bedürfnissen und am Wohlergehen von hilfebedürftigen Klient*innen, freilich den Kern vieler Sorgetätigkeiten. Die damit zum Teil einhergehende Zurückstellung eigener Bedürfnisse und Interessen und die Bereitschaft, betriebliche Organisations- und Personalmangel individuell zu kompensieren, gilt dennoch als eines der zentralen Hemmnisse bei der Entwicklung kämpferischer Interessenpolitik im Sorgebereich (vgl. z. B. Nowak 2017; Zender 2014), das es bei der Formulierung gewerkschaftlicher Ziele und Strategien adäquat zu berücksichtigen gilt.
(5) Auch das Phänomen, dass weibliche* Revolten nicht ernst genommen werden – oder jedenfalls als unbedenklicher eingestuft werden als männlich* geprägte Aufstände – ist nach wie vor zu beobachten. Dies lasst sich etwa anhand von Diskursanalysen der deutlich unterschiedlichen Medienberichterstattung über männliche* und weibliche* soziale Proteste zeigen (z. B. Einwohner et al. 2000). Die lustig-bunt streikende Erzieherin hat eine andere Außenwirkung und erfahrt ein – geschlechtsspezifisch – anderes Framing als der uniformierte Flugkapitän oder Lokführer. Eigenschaften wie Militanz, Organisiertheit und Durchsetzungsfähigkeit werden eher dem männlichen* Gebaren und Geschlecht zugerechnet. Die fröhlich-kreativen Frauen* mit Kind, Kegel und Luftballon sind zwar medienwirksam und illustrativ – ihre Forderungen werden aber nicht unbedingt ernst genommen.
Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass das Geschlecht von Streikenden nicht nur den sozialen Ort prägt, an dem die Arbeitskampfe stattfinden, sondern auch Einfluss hat auf die Zeit-, Energie und Machtressourcen der Streikenden sowie auf Aktions-, Wahrnehmungs- und Verlaufsmuster von Streiks.
Die Vergeschlechtlichung von Arbeitskämpfen unterstreicht auch das folgende Zitat eines (männlichen*) Mitglieds der Tarifkommission in den Sozial- und Erziehungsdiensten, der die Streiks 2015 wie folgt beschrieb: »Ja, es waren weibliche Streiks, aber es waren auch Streiks von Erzieherinnen, das heißt auch der Beruf selbst hat eine große Rolle gespielt. Wirklich auffallend war das Schillernde, das Bunte, die Kreativität der Streiks. Das liegt eben auch am Beruf der Erzieherinnen, an ihrer Ausbildung. Sie sind extrem einfallsreich, lebendig und auch demokratisch. […] Da war ein faszinierender Einfallsreichtum vorhanden. Und prägend war auch, dass man sich trotz der Konflikte immer vernünftig behandelt hat, auch nach der Schlichtung.« (Interview 2016) Das Zitat nimmt viele Motive auf, die [im ersten Kapitel] bereits als Merkmale von Frauen*streiks (im 19. wie im 21. Jahrhundert) genannt worden sind, ohne diese zu biologisieren. Vielmehr verweist der Interviewte auf die Relevanz des typischen Arbeitsvermögens feminisierter Berufe – in diesem Fall der Erzieherinnen – für konkrete Streikpraxen. Die Adjektive zur Beschreibung von Frauen*streiks ähneln in verblüffender Weise jenen, die sich bereits bei Michelle Perrot über die »greves feminines« im 19. Jahrhundert finden: Die Frauen*streiks seien bunter, kreativer als die der Männer*, festlicher. Da sind irgendwie immer Musik und Blumen mit von der Partie. Aber neu ist die Feststellung: Feminisierte Streiks sind angeblich demokratischer. Und dann erneut die Beobachtung: Der Umgangston ist nicht so rau. Die Frauen* sind nicht so militant und kompromisslos. Mit ihnen kann man(n) irgendwie besser reden, auch dann noch, wenn sie sich – wie teilweise im Fall der Streiks in den Sozial- und Erziehungsdiensten – im Zuge der Schlichtung übergangen und betrogen fühlten.


3.2 Neue Streikinhalte
Aber nicht nur die Streikkultur, auch die Streikinhalte sind gegenderte Phänomene, in denen sich der gesellschaftliche Ort und die aktuellen – spezifischen – Bedingungen von Frauen*erwerbsarbeit ausdrucken. Es wurde bereits erwähnt, dass die Aufwertung feminisierter Berufsfelder sehr explizit Gegenstand etwa der Streiks in den Sozial- und Erziehungsdiensten war. Der alte Kampf um »gleichen Lohn für gleiche Arbeit« geht aktuell offenbar in eine neue Runde, mit Parolen wie: »Warum bezahlen wir Menschen, die unsere Autos bauen, mehr als Menschen, denen wir unsere Kinder anvertrauen?« oder: »Wer eine Horde von Kindern managt, verdient ein Managergehalt«. (Auch) die neuen Frauen*streiks sind Anerkennungskämpfe. In ihnen geht es um den Wert der weiblichen Arbeitskraft und des weiblichen* Arbeitsvermögens – in symbolischer wie in materieller Hinsicht. Zudem richten sie sich (immer noch) gegen die Ideologie, wonach Frauen*lohne nur einen Zuverdienst darstellen. Frauen* sind langst auch Familienernährerinnen – und immer häufiger sogar die alleinigen.
Neben klassischen Forderungen nach höheren Lohnen, die mit genderspezifischen Argumenten legitimiert werden, zeichnen sich die feminisierten »Sorge-Kampfe« jedoch auch dadurch aus, dass sie qualitative Arbeitsbedingungen zum Thema machen. So thematisierte etwa der Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten 2009 unter dem Stichwort des »Gesundheitstarifvertrags« die hohen Arbeitsbelastungen im Erzieherinnenberuf. Im Erziehungs- wie im Gesundheitsbereich steht insbesondere die zu geringe Personalausstattung im Zentrum der Konflikte. Es geht um mehr Zeit für Kinder und Patient*innen – und um die Möglichkeit, qualitativ gute Dienstleistungen in gesellschaftlich zentralen Sorgebereichen leisten zu können. So hat der Streik an der Charité sogar »das deutsche Streikrecht erweitert. Denn lange war umstritten, ob für ein Anliegen wie mehr Personal überhaupt gestreikt werden darf« (Tügel 2017: 38). Dies ist mittlerweile zumindest für den Gesundheitsbereich – im Sinne der Streikenden – geklärt und die bundesweite Entlastungsbewegung für mehr Personal im Krankenhaus ist eine beeindruckende Folge.
Gerade mit ihrer Fokussierung auf die Qualität der Arbeit gehen die feminisierten Sorge-Kampfe zudem über klassische tariflich-begrenzte Interessenkonflikte hinaus und verallgemeinern diese im Sinne gesamtgesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Sorgedienstleistungen haben schließlich eine andere Stellung im Gefüge gesellschaftlicher Arbeitsteilung als etwa die Produktion eines Autos. Sie stellen eine soziale Infrastruktur für die Gesamtgesellschaft sicher – Dienstleistungen für alle sozusagen –, und wenn diese schlecht sind, dann geht das auch alle an. Die Finanzierungsmodi des Gesundheits- und Sozialsystems geraten geradezu zwingend in den Blick – ebenso wie die Rolle des Staates. Arbeitskampfe im Sorgebereich werfen also fast notwendig grundlegende, gesamtgesellschaftliche Fragestellungen auf wie: Was bedeutet eigentlich gute Arbeit? Und was ist diese wert? Nach welchen Prinzipien sollte Arbeit und sollte Entlohnung gestaltet werden? Wie kann eine gesellschaftliche Werteverteilung gesichert werden, die genügend Mittel für existenziell notwendige Dienste der Daseinsvorsorge bereitstellt? Welche Aufgaben hat der Staat? Wo ist profitorientiertes Arbeiten (vielleicht) sinnvoll – wo ganz sicher nicht? Wie mussten Gelder und Ressourcen umverteilt werden, um die Gesellschaft solidarisch zu gestalten? Welche Alternativen gibt es zu einem neoliberal verfassten Gesundheitssystem – und zum kapitalistischen Wirtschaftssystem? In welcher Gesellschaft wollen wir leben?


3.3 Neue Streikstrategien
Die feminisierten Sorge-Kampfe sind also häufig in einem umfassenderen Sinne »politisch« als »einfache« Lohnkonflikte. Sie müssen es jedoch vermutlich auch sein, denn ihre Machtressourcen sind tendenziell heikler als im Fall »klassischer Produktionsstreiks«.(1) Neue Streikstrategien sind nötig. Um die Problemlage nochmal kurz zu skizzieren: Traditionelle »fordistische« Streiks in industriellen Großbetrieben beziehen ihre Wirksamkeit daraus, dass einzelne oder auch größere Produktionsbereiche stillgelegt werden und dadurch eine ökonomische Schädigung der Produktionsmittelbesitzenden erreicht wird. In den feminisierten Berufsbereichen sozialer Dienstleistungsarbeit funktioniert dieses Verfahren nur bedingt – und zwar aus mehreren Gründen: Zunächst sind Dienstleistungen an Menschen im Krankenhaus und an Kindern in der Kita eben keine Produkte, die frau einfach mal so unproduziert lassen konnte. Denn die Einstellung der Sorgearbeit kann existenzielle Folgen für andere (am Konflikt Unbeteiligte) haben. Des Weiteren richtet der Streik möglicherweise nur wenig oder gar keinen ökonomischen Schaden beim Konfliktgegner an. Im Fall der Streiks in den Sozial- und Erziehungsdiensten waren vor allem die Eltern betroffen, die die Betreuung ihrer Kinder anderweitig sicherstellen mussten. Die kommunalen Arbeitgeber waren kaum tangiert – und sparten im Extremfall sogar Geld ein, weil sie den Erzieherinnen die Streikzeiten vom Lohn abziehen konnten. Der Streik traf also gar nicht oder nur bedingt die ökonomisch Verantwortlichen. Daraus lasst sich lernen: Die klassischen Strategien fordistischer Produktionsstreiks lassen sich nicht einfach eins zu eins auf Arbeitskampfe im Bereich der sozialen Dienstleistungen übertragen. Sie müssen vielmehr auf ihre Passfähigkeit überprüft, ergänzt und zum Teil revidiert werden. Dies geschieht bereits. Die sozialen Dienstleistungsbereiche sind ein Laboratorium für die Suche nach neuen Kampfstrategien. Darüber wurde bereits einiges geschrieben (z. B. Artus et al. 2017; Kutlu 2013; Nachtwey/Wolf 2013; Wolf 2017). An dieser Stelle soll daher eher stichpunktartig auf wesentliche Elemente der neuen Streikstrategien eingegangen werden:
Zentral ist zunächst die Solidarisierung zwischen Streikenden und Klient*innen, also in den Kitas zum Beispiel mit den Eltern und den Kindern oder in Pflegeeinrichtungen mit den Patient*innen selbst, aber auch mit deren Angehörigen. Es geht um die Konstruktion und Verdeutlichung eines übergreifenden gemeinsamen Interesses (an guten Dienstleistungen), die im Rahmen des Streiks vertreten werden – und auch konkret um die Organisierung eines Arbeitskampfs, der die Klient*innen möglichst wenig schädigt und »mitnimmt« und eine Solidarisierung aktiv begünstigt. Zu diesem Zweck und auch für die Entwicklung zielgenauer Streikstrategien, die den Interessengegner wirksam ökonomisch treffen, bedarf es teils neuer, auch rechtlicher Instrumente (z. B. Notdienstvereinbarungen, die verbindliche Betten-/Stationsschließungen im Fall rechtzeitiger Streikankündigung vorsehen; Revision von Betreuungsvereinbarungen, sodass Eltern nicht betreute Zeiten ihrer Kinder bei den Kommunen regresspflichtig machen können), in jedem Fall aber entwickelter basisdemokratischer Strukturen. Letztere sind zwar auch im Fall »traditioneller Produktionsstreiks« unabdingbar, in Bereichen, die »streikungewohnt« sind und in denen zugleich ein schnelles, flexibles und passgenaues Reagieren strategisch zentral und (für die Betreuten) existenziell notwendig sein kann, sind sie besonders wichtig. Die Tarifberater*innen an der Charité, das Teamdelegiertensystem in den Krankenhäusern der Entlastungsbewegung oder auch die Delegiertenversammlungen und die Mitgliederbefragung wahrend der Streiks in den Sozial- und Erziehungsdiensten sind Ausdruck der (bereits erfolgreichen) Suche nach solchen verstärkt basisdemokratischen Strategien. Dennoch bleiben die Machtressourcen im Fall der Dienstleistungsstreiks prekär – weshalb die gewerkschaftsübergreifende Zusammenarbeit, die Kooperation mit überbetrieblichen Unterstutzer*innengruppen (Solidaritätskomitees etc.) und eine streikbegleitende Öffentlichkeits- und Medienpolitik besonders zentral sind. Schließlich geht es um gesellschaftlich relevante Forderungen – die deshalb auch in die Gesellschaft hineingetragen werden können und müssen. Klassische Organizing-Techniken und Kampagnenarbeit eignen sich hier besonders als Instrumente – und in jüngster Zeit erweist sich auch die Initiierung von Volksentscheiden als ein sinnvolles Element im Werkzeugkasten, um originär gewerkschaftlichen Kämpfen eine breitere Öffentlichkeit zu verschaffen und um eine gesamtgesellschaftliche Mobilisierung zu bewirken.


3.4 Folgen für die Gewerkschaften
Welche Folgen haben nun aber die neuen weiblich* geprägten Streiks für die – bislang ja doch noch immer sehr maskulinisierten – Gewerkschaften? Welche Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse treten auf, wenn feminisierte soziale Bewegungen in einem männlich*dominierten Organisationsrahmen stattfinden? Zumindest für die Krankenhausstreiks lasst sich zunächst feststellen: Ver.di gewinnt viele neue weibliche Mitglieder und auch Aktivistinnen hinzu. Dass diese Veränderung auch sichtbare Konsequenzen für das Verhalten der Gewerkschaften hat, war allerdings bei den Streiks in den Sozial- und Erziehungsdiensten, mit ihren von vielen Beteiligten als wenig überzeugend wahrgenommenen Ergebnissen, weniger spürbar. Gerade der S&E-Streik von 2015 mahnt in manchen Aspekten daran, dass sich die Gewerkschaften vielleicht doch noch nicht so weit vom 19. Jahrhundert entfernt haben, wie frau gern glauben mochte: Etwa 90 Prozent der Streikenden waren damals Frauen*, etwa 75 Prozent der Anwesenden auf den Streikdelegiertenkonferenzen waren Frauen*, aber die Streikleitung und die Schlichtungskommission waren rein männlich* besetzt. Das alte Muster ist (zumindest manchmal) also nach wie vor intakt: Frauen*streiks werden von Männern* repräsentiert und angeführt.
Zugegebenermaßen mag der S&E-Streik ein etwas extremes Beispiel sein. Schließlich gilt bei ver.di (wie in den meisten deutschen Gewerkschaften) eine recht strenge Quotierungsregel und Frauen* sind langst aufgerückt auch in gewerkschaftliche Führungspositionen. So lasst sich hoffen, dass die männliche* Führung weiblicher* Arbeitskampfe in Zukunft der Vergangenheit angehört und es auch verstärkt weibliche* Führung von männlichen* Arbeitskämpfen geben wird. Für die symbolische Ebene vergeschlechtlichter kollektiver Deutungsmuster von »Streik« und Streikenden gilt jedenfalls: Das alte Bild von Frauen*, die passiv am Rand des Geschehens stehen, ist abgelöst. Die streikende Erzieherin und die streikende Krankenschwester haben sich als neue Prototypen von kämpferischem Aktivismus im gewerkschaftlichen Bewusstsein etabliert. Sie losen dort die militanten Mullmänner* und Stahlarbeiter der 1980er und 1990er Jahre ab. Der neue symbolische Platz von weiblichen* Arbeitskämpfen im gesellschaftlichen Bewusstsein korreliert mit einem deutlich gestiegenen Selbstbewusstsein der Frauen* in den Betrieben. Eine langjährige Gewerkschaftsaktivistin und Hortleiterin beschrieb diesen Sachverhalt wie folgt: »Was interessant, auch im Vergleich zu 2009, war, woraus die Gewerkschaft ver.di, vor allem der Vorstand, auch die Tarifkommission gelernt hat, die haben uns mehr oder weniger in den 2009er Tarifabschluss hineingedrückt, mit der Empfehlung: annehmen. Und uns gar nicht mehr groß informiert. Und da hat sich im 2015er Streik einiges geändert. Da hat man diese erstmalige Mitgliederbefragung gemacht, wo man dann komplett erschrocken ist, dass die Kolleginnen gesagt haben: ›Wir machen weiter‹. Damit hat die Gewerkschaftsspitze nicht gerechnet, von meinem Gefühl jetzt. Im Streik 2009 wurden wir noch geführt. Den Streik 2015 haben wir selbst in die Hand genommen.« (Interview 2016) Die zitierte Hortleiterin beschreibt einen kollektiven Lernprozess der Aktivistinnen, die sich zunehmend selbstbewusst innerhalb der Gewerkschaft verorten und ihre Arbeitskampfe »selbst in die Hand« nehmen. Es geht also um eine Art innerorganisatorischen Emanzipationsprozess.
Ganz ähnlich wirkt die Schilderung einer jungen Krankenschwester und Gewerkschaftsaktivistin aus dem Saarland wahrend einer Veranstaltung im September 2018: »Also, man muss klar dazu sagen, auch in der Gewerkschaft, gerade bei uns im Saarland, ist es noch so, dass es sehr männlich geprägt ist. Aber wir hatten eine Situation im Juni an zwei Warnstreiktagen, da haben sich die Kolleginnen durchgesetzt und haben gesagt: ›Nein, so könnt ihr das nicht machen.‹ […] Und wir waren dann an dem Punkt, wo wir das gegen den Sekretär durchgesetzt und gesagt haben: ›Du machst nicht das, sondern das, und das muss so erfolgen, ansonsten machen wir hier nicht mit.‹ Also es ist auch mittlerweile der Punkt, wo auch den Kollegen bei uns, also den männlichen Kollegen, klar ist, okay, wenn die Kolleginnen nicht mitziehen, dann stehen wir allein da. Weil sie bilden den Großteil von uns.« Das klingt nach einem neuen weiblichen Aufbruch »von unten«, der – jenseits von Quotierung und Gender Mainstreaming – weibliche Subjektpositionen in den Gewerkschaften zunehmend selbstbewusst durchsetzt.


3.5 Folgen für die Frauen* – und die Gesellschaft
Es wird deutlich: Die feminisierten Streiks sind gleichzeitig Ausdruck und Quelle eines neuen Selbstbewusstseins von Frauen* – am Arbeitsmarkt, in den Gewerkschaften und in der Gesellschaft. Dass dieses neue Selbstbewusstsein nicht nur die gewohnten geschlechtsspezifischen Hierarchien in den Gewerkschaften erschüttert, sondern – notwendigerweise – auch diejenigen am Arbeitsplatz (und auch im sogenannten Privatleben), soll im Folgenden erneut an einigen Zitaten und konkreten Beispielen aus den Krankenhausstreiks gezeigt werden. So berichtete etwa die bereits oben zitierte Krankenschwester von ihren eigenen Streikerfahrungen: »Ich habe eine Kollegin gehabt, die hat gesagt: ›Ich hatte den Arzt am Telefon. Ich habe innerlich gezittert. Der hat zu mir gesagt: Na ja, das Bett ist ja erst ab sechs Uhr morgen früh gesperrt. Da kann ich dir jetzt um zwölf noch jemanden hinlegen.‹ Und die gesagt hat: ›Ich hatte wirklich …, ich hatte Angst, aber ich habe wirklich zu ihm gesagt: Wenn du das tust, dann rufe ich dich ab vier Uhr alle fünf Minuten an, bis du mir dieses Bett wieder leergeräumt hast. Und dann habe ich einfach ganz schnell aufgelegt.‹ Aber es hatte zur Konsequenz, das Bett blieb leer. Das war eine jüngere Kollegin und eine altere Kollegin, die hat die Arme verschränkt, als der Arzt gesagt hat: ›Ich brauche ein Bett.‹ Und die hat gesagt: ›Nein, die Betten sind gesperrt.‹ Und er dann mit Fingerzeig auf das Bett meinte: ›Na ja, ich sehe das Bett doch, da ist es doch, es ist leer.‹ Und sie hat sich vor ihn gestellt und hat gesagt: ›Und dieses Bett ist gesperrt, du legst da niemanden rein. Wir haben kein Bett.‹ Das sind so Punkte. […] Das hattest du vor ein paar Jahren nicht gehabt, an dem Punkt warst du nicht gewesen. Und daran merkt man einfach, ja, dass die Kolleginnen sich nicht kleinkriegen lassen und an einem Punkt sind, an dem erheben sie ihre Stimme.« Die beiden Beispiele verdeutlichen gut, dass Streiks zwangsläufig immer einen Verstoß gegen alltägliche »normale« Hierarchien und Anweisungsverhältnisse bedeuten. Sie setzen Routinen außer Kraft und wirken dadurch subversiv auf etablierte Herrschaftsverhältnisse. Sie lassen das Potenzial an Veränderungsmöglichkeiten erahnen und sind im Keim daher utopische Momente. Sie revolutionieren zumindest ansatzweise und vorübergehend die Klassenverhältnisse – und im Fall feminisierter Streiks auch die Geschlechterverhältnisse.
Es besteht also kein Zweifel: Frauen*streiks haben Folgen für die Herrschaftsordnung – auf materieller und symbolischer Ebene, Folgen für gewerkschaftliche, aber auch gesamtgesellschaftliche Diskurse und Geschlechterbilder, Folgen für die Lohnarbeitswelt, aber häufig auch für das sogenannte Privatleben. Sie haben Folgen für die Selbstbilder und die Selbstwahrnehmung der beteiligten Frauen*. Sie ermöglichen es ihnen, sich als handelnde Subjekte zu erleben, Selbstwirksamkeit zu erfahren, gesellschaftlichen Einfluss auszuüben, hinzuzulernen, ihr Bewusstsein zu entwickeln und zu erweitern, Solidarität und Kollektivität zu üben und zu erfahren, gemeinsam etwas zu bewegen, die Erfahrung zu machen, dass sich Gesellschaft kollektiv verändern lasst. Das tut gut. Um es erneut und abschließend in den Worten der jungen Krankenschwester aus dem Saarland auszudrucken: »Ich bin mittlerweile an einem Punkt, wo ich für mich festgestellt habe, es ist unheimlich wichtig, diese Bewegung zu unterstützen, um zu sehen, was auch möglich ist. […] Und es ist richtig und es tut richtig gut, ein Teil davon zu sein.«




Literatur

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von Ingrid Artus

Anmerkungen

(1) Diese These gilt in ähnlicher Weise nicht nur für »Sorge-Kampfe«, sondern auch für Arbeitskämpfe in stark prekarisierten Erwerbssegmenten, die nicht selten ebenfalls stark weiblich geprägt sind (z. B. Einzelhandel). Vgl. zu Streik- und Konfliktstrategien in prekärem Terrain etwa Artus 2010 oder Riexinger 2013.

18.03.2019
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