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Aktuelles Heft

INHALT #247

Titelbild
Ein Angriff auf uns alle
• das erste: Der Stress mit Weihnachten ist vorerst vorbei.
The Menzingers
Sepultura
Terrorgruppe
Chain & the Gang
The Pains of Beeing Pure at Heart
• position: Abwege einer Polemik
• das letzte: Den Schaden haben die Anderen

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Den Schaden haben die Anderen

»Ich weiß nicht, welche Vorstellung Sie vom Prenzlauer Berg haben,« fragte die ZDF-Journalistin Marietta Slomka den debil dauergrinsenden CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt Anfang dieses Jahres, »aber da wohnen vor allem deutsche Familien mit kleinen Kindern, die so bürgerlich sind, dass sogar ein Eiscafé Ärger wegen Ruhestörung bekommt. Die gehen auf Weihnachtsmärkte - die werden auch so genannt, das ist ja auch für Sie ein Thema – , die schwenken Deutschland-Fahnen, wenn wieder Fußball-Weltmeisterschaft ist; also gegen wen wollen Sie da eine Revolution anführen?« Der Rechtsaußen-Politiker hatte zuvor in Springers Welt im besten NS-Wegbereitersprech eine »konservative Revolution«, also eine Konterrevolution, gefordert und dies mit der Aussage »Wir sind nicht Prenzlauer Berg« bekräftigt.
In Leipzig hatte bereits Anfang Dezember die SPD-Stadtratsabgeordnete Nicole Wohlfahrt zur Verteidigung der zentrumsnahen östlichen Stadtteile unter dem Motto ›Reudnitz ist nicht Connewitz‹ aufgerufen. Anlass war ihr die polizeiliche Unterbindung einer Party im Hausprojekt Klaushaus im angrenzenden Stadtteil Anger-Crottendorf. Das Bauordnungsamt hatte die als Privatveranstaltung geplante Party aufgrund ihrer öffentlichen Bewerbung untersagt. Die Polizei blieb trotz öffentlicher Absage der Veranstalter/innen am Abend vor Ort und zog sogar zusätzliche Einheiten hinzu, um Personen im unmittelbaren Umfeld kontrollieren und abweisen zu können.
Dieser Ansatz, eine wochenlang öffentlich beworbene Party wenige Stunden vor Beginn zu unterbinden, musste sich als kontraproduktiv erweisen. So sammelten sich vor dem Hausprojekt über den Abend bis zu 200 eintreffende Partygäste und von den Kontrollen betroffene Anwohner/innen, solidarisierten sich miteinander und ließen sich schließlich auf einem Teil der vor dem Haus gelegenen Kreuzung nieder, um lautstark gegen die polizeiliche Gängelung und Unterbindung der Feier zu protestieren. Die Polizei hat mit ihrem Vorgehen somit nicht nur die Party, sondern auch den Zugang zu umliegenden Häusern und faktisch die unmittelbar davor liegenden Verkehrswege für Straßenbahnen und Busse blockiert.
Nachdem die Versammelten der polizeilichen Aufforderung sich zu zerstreuen nicht nachkamen, wurden sie »durch die Anwendung einer deeskalierenden Taktik der Polizeikräfte« (O-Ton), d.h. mittels Pfefferspray und sog. Schmerzgriffe an Gesicht und Hals,(1) von der Kreuzung geräumt.
Soweit zufriedenstellend der Abend für Polizei und Ordnungsamt verlief, so symptomatisch war das Geschehen für SPD-Stadträtin Wohlfahrt. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, erklärte sie, »dass sich das staatsverachtende Gedankengut der linksextremen Szene [...] in gezielten Aktionen zeigt«. Schon seit langem befürchtet sie, dass sich im inneren Osten Leipzigs »weitere Anti-Demokraten ansiedeln« und »Zustände wie in Connewitz entstehen«. Anti-Demokraten, das sind für Wohlfahrt all jene, die von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen, auch wenn dies in unmittelbarem Gegensatz zur Auffassung staatlicher Exekutivorgane steht.
»Die Geschehnisse«, meint die 29-Jährige Theologin, »sind nicht nur für Anwohner, betroffene Fahrgäste der LVB und die Polizisten ärgerlich, sie sind ein offener Angriff auf unseren Rechtsstaat.« Davon abgesehen, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Protestierenden von den polizeilichen Schikanen betroffene Anwohner/innen waren, sehen jene den Rechtsbruch klar auf Seiten der Polizei und werfen dieser eine »massive Beschneidung ihrer Grundrechte« vor. Die wiederum schrieb von einer »unerlaubten Ansammlung«, da sich ihr gegenüber niemand als Versammlungsleiter/in gemeldet habe. Da es sich bei dem Protest jedoch um eine sog. Sofortversammlung handelte, lag es in der Natur der Sache, dass es keine/n Veranstalter/in gab. Für Wohlfahrt aber legten die Protestierenden »die Axt an die Wurzeln unserer Demokratie«, unter welchen sie offensichtlich nicht die Bürgerrechte, sondern die polizeiliche Ordnungsmacht versteht.
Ermuntert durch die Ausfälle der Stadträtin richtete sich ein weiterer Anwohner »stellvertretend für 42 Anwohner, Gewerbetreibende und Vereine in der Straße« an LVZ und Stadt, um seine Erleichterung über den »endlich« aufgebauten Druck der Behörden zu bekunden. Was sich als Generationen-, Schicht- oder Milieu-Konflikt deuten ließe und zunächst von Wohlfahrt ideologisch verzerrt wurde, wird hier ins Alltagsbewusstsein rückübersetzt. Gefordert wird der Schutz der »arbeitenden Anwohner, welche die Nacht zum Schlafen brauchen«, da man etwa alle zwei Wochen durch den Lärmpegel der anliegenden Clubs und Bars in der Nachtruhe gestört werde.
Hatte die SPD-Stadträtin noch auf eine von ihr obrigkeitsstaatlich verstandene Gesetzeskonformität beharrt, wurde im Leserbrief des Anwohners nun gefordert, dass sich die Nachbar/innen doch »gesellschaftskonform verhalten« sollen.
Gesellschaftskonform zu sein heißt unter den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die Nachtruhe nicht deshalb zu wünschen, um am nächsten Tag gut erholt ein paar notwendige Dinge gemeinsam zu erledigen und sonst den eigenen Bedürfnissen nachgehen zu können, sondern die Erholung vom vergangenen Arbeitstag dringend zu brauchen, um Tags darauf seine Arbeit wieder unter das Kommando eines Kapitalisten stellen zu können und gegen etwas Lohn dessen Vermögen zu vermehren. Statt sich gegen die fortlaufende Beschädigung des eigenen Lebens durch die Zwänge der Lohnsklaverei zu wenden, werden diese zur Tugend erklärt und selbst den Lohnarbeiter/innen im Wartestand abgefordert.
Leider ist unbekannt, ob es sich bei dem Anwohner um Claus Gröhn, den Präsidenten der Leipziger Handwerkskammer, handelt. Dieser hat jüngst beim Festball des Unternehmerverbandes Sachsen im Hotel Westin bekannt, er »tanze nur ganz selten«, sondern »arbeite lieber«. »Arbeit ist unser Lebenselixier«, schob er zur Begründung nach. Er meint die Arbeit anderer, wäre zu präzisieren. Doch es bedarf längst nicht unbedingt eines Unternehmers, um der Arbeit eine Wertschätzung zukommen zu lassen. Wo die Organisationen der lohnabhängig Beschäftigten, die Gewerkschaften, »faire Löhne für gute Arbeit« (DGB) fordern, ist die Marxsche Kritik des herrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnisses längst aufgegeben.(2) Dabei hatte der anarcho-sozialistische Redakteur Johann Most bereits zu Marxens Lebzeiten in seiner von diesem autorisierten Kapital-Broschüre Kapital und Arbeit darauf hingewiesen, »daß alle Staatsanwälte, Polizisten und Soldaten zusammengenommen der ›Gesellschaft‹ keinen so großen Dienst leisten als diese Form – Arbeitslohn.«
Wer diesen »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (Marx) und ihre im Konfliktfall gewaltförmige Absicherung nicht akzeptieren will, »darf« nach Ansicht Wohlfahrts »gern die Vorzüge des deutschen Passes nutzen und sich ein entsprechendes Reiseziel suchen um das zu verwirklichen.« Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland eben verlassen; »Träume« von einem Leben, in dem der Mensch kein »erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes, verächtliches Wesen« (Marx) mehr ist, gilt es hier nicht zu verwirklichen.
Dass solcherlei Vorwürfe am tatsächlichen Geschehen vorbeigehen, zeigen die beschwichtigenden Reaktionen der protestierenden Anwohner/innen auf den öffentlichen Angriff der SPD-Stadträtin: Die von ihr gefürchteten besetzten Häuser gebe es in den Vierteln überhaupt nicht, »auch die beiden aktuell im Fokus stehenden Gebäude seien rechtmäßig [!] von Mietern bewohnt.« (LVZ). Außerdem sei nach Auflösung des Protests die Kreuzung »gefegt und aufgeräumt« worden. Seinen Prenzlauer Berg, da muss sich Nicole Wohlfahrt keine Sorgen machen, bekommt Leipzig so schon von ganz allein.


von Ludwig-August Weiß

Anmerkungen

(1) So schilderten es Anwohner/innen in einer Pressemitteilung. Dem Pfefferspray-Einsatz widersprach in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) Polizeisprecher Uwe Voigt: »Weil es erkennbar passiver Widerstand war, hat der Polizeiführer angeordnet, darauf zu verzichten.« Angesichts der sächsischen Zustände wäre jedoch auch ein erneuter, »nicht zulässiger« Einsatz von Feuerlösch- und Frostschutzmittel vorstellbar, schließlich hatte das sächsische Innenministerium dieses bereits in der Vergangenheit als »milderes Mittel gegenüber dem Einsatz von Pfefferspray oder eines Schlagstocks« gewürdigt. Siehe auch: www.inventati.org/leipzig/?p=1603

(2) Dagegen dieser: »Die kapitalistische Produktion ist nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. Der Arbeiter produziert nicht für sich, sondern für das Kapital. Es genügt daher nicht länger, daß er überhaupt produziert. Er muß Mehrwert produzieren. Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient. [...] Der Begriff des produktiven Arbeiters schließt daher keineswegs bloß ein Verhältnis zwischen Tätigkeit und Nutzeffekt, zwischen Arbeiter und Arbeitsprodukt ein, sondern auch ein spezifisch gesellschaftliches, geschichtlich entstandnes Produktionsverhältnis, welches den Arbeiter zum unmittelbaren Verwertungsmittel des Kapitals stempelt. Produktiver Arbeiter zu sein ist daher kein Glück, sondern ein Pech.«, in: Das Kapital. Bd. 1, MEW 23, S.532. Welche Vorstellungen sich jemand also zu Qualität und Nutzen seiner Arbeit macht, ist dafür ob und wie diese stattfindet überhaupt nicht ausschlaggebend.

11.02.2018
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