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Vitamin X, Night Fever, Messerschießerei
Offenes Antifa Treffen
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Unversöhnlich in Wurzen

Irgendwo in Sachsen: Wurzen
Das bundesweite Bündnis Irgendwo in Deutschland hat am 02.09.2017 zu einer antifaschistischen Demonstration in Wurzen unter dem Titel „Das Land – rassistisch. Der Frieden – völkisch. Unser Bruch – unversöhnlich“ aufgerufen. Anknüpfend an eine Demonstration anlässlich des 5. Jahrestags der Selbstenttarnung des NSU im November 2016 in Zwickau, hat das Netzwerk in diesem Jahr Wurzen ausgewählt, das sowohl als Blaupause für den bundesweit verbreiteten rechten Konsens herhalten, als auch spezifisch für seine ausgeprägten Neonazistrukturen kritisiert werden sollte. Die Demonstration fand nicht zufällig am Wochenende des Tages der Sachsen, des größten sächsischen Volksfestes, statt, das zeitgleich in der Kleinstadt Löbau begangen wurde. Sachsen feiert sich selbst und präsentiert sich „bunt statt braun“. Wir haben das zum Anlass genommen, die darunter begrabene xenophobe Realität des Landstriches zu betonen.
Sachsen ist die Hochburg der völkischen Mobilisierung in Deutschland und führt die Chroniken der rassistischen Angriffe an. Im Fokus bundesweiter Öffentlichkeit haben Orte wie Bautzen, Clausnitz, Freital oder Heidenau einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt und stehen synonym für Rassismus und Gewalt gegen Geflüchtete und Linke. Wurzen hingegen wurde scheinbar aufgrund seiner langen rassistischen Historie aus den Augen verloren und die hiesigen Zustände finden weniger Beachtung. Ziel der antifaschistischen Demo war es, Wurzen als ein Zentrum rassistischer und neonazistischer Gewalt in Erinnerung zu rufen und als ein exemplarisches Beispiel für die rassistische Normalität in Sachsen anzugreifen.(1)
Wurzen ist seit Jahren eine Hochburg rassistischer Bewegungen und organisierter Neonazistrukturen und war bereits in den 1990er Jahren bekannt als selbsterklärte »national befreite Zone«. Das Zusammenspiel von organisierten Neonazistrukturen, Mob und rassistischer Bevölkerung lässt sich hier idealtypisch verfolgen. Neonazis können sich in Wurzen ungehindert bewegen und sind selbstverständlicher Teil der Stadtgesellschaft, etwa im lokalen Sportverein. Aus derartiger Ruhe agiert es sich umso besser: Aus Wurzen kamen einige der ca. 50 Nazis, die bei dem gewalttätigen Angriff auf Spieler, Verantwortliche und Fans des Vereins Roter Stern Leipzig am 24.10.2009, während des Auswärtsspiels des RSL beim FSV Brandis, dabei waren. Mindestens acht Personen aus Wurzen waren auch an dem Nazi-Angriff auf Connewitz im Januar 2016 beteiligt. Zudem kam es häufig zu massiven rassistischen Angriffen gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte. Erst im Juni, nach beispielhafter Vorarbeit von Polizei und Lokalpresse, versammelten sich 60 Personen, um eine Wohnung von Geflüchteten zu stürmen.
Da es in Wurzen keine großen Sammelunterkünfte gibt, sind Angriffe auf den Wohnraum von Geflüchteten verbreitet. Und sie sind erfolgreich: Bereits vor zwei Jahren mussten Geflüchtete wegen permanenter Anfeindungen während des Tages der Sachsen sogar aus Wurzen ausquartiert werden. Ein Haus in dem nun eine Neonazi-WG statt Geflüchteten wohnt, passierten wir mit unserer Demonstration. Die wenigen bestehenden antirassistischen und demokratischen Strukturen vor Ort waren ebenfalls mehrfach Attacken ausgesetzt. Im August letzten Jahres wurden beim Netzwerk für Demokratische Kultur die Fensterscheiben eingeworfen. Einige Monate später versuchten Neonazis dort ein Treffen von Refugee-Supporter*innen zu stören und die Aktivist_innen einzuschüchtern. Das sind nur wenige Beispiele des rassistischen Normalzustands in großen Teilen der sächsischen Provinz und auch in Wurzen. Hier zeigt sich die dringende Notwendigkeit antifaschistischer Intervention, die – wie in großen Teilen von Sachsen und Deutschland – bisher leider ausgeblieben ist.

Abwehr, Realitätsverweigerung und Kriminalisierung durch Medien und lokale Bevölkerung
Die mediale Berichterstattung der lokalen und regionalen Presse im Vorfeld der Demonstration, insbesondere durch LVZ und MDR, zeigen deutliche Strategien der Leugnung eines rassistischen Klimas wie auch der Kriminalisierung und Delegitimation antifaschistischer und linksradikaler Kritik und Interventionen. Die immerhin rund sechs Wochen vor der Demonstration beginnende, fast schon ironisch anmutende Berichterstattung war dominiert von den Ängsten der Bevölkerung vor Randale und Zerstörung, einfallenden linken Horden und der Verteidigung gegen eine pauschale Verurteilung als Rassist*innen. Vom Stolperstein bis zur Praktikumsbörse wurde alles als Anzeichen der Unrichtigkeit der Anschuldigungen unseres Aufrufs verwandt, am Ende landeten die verbarrikadierten Scheiben eines von Neonazis betriebenen Sonnenstudios als Beleg für scheinbar verängstigte Bürger im Artikel.
Auch in den sozialen Medien ließ sich der Geisteszustand vieler Wurzener leicht ablesen. So wurde eigens die Facebookgruppe Wurzen gegen Krawalltourismus gegründet, in welcher gegen die antifaschistische Demonstration gehetzt und zu Gegenprotesten aufgerufen wurde. Den Siedepunkt erreichte die bürgerliche Wut durch die Verlegung der Dinosaurierausstellung, die in Wurzen just am Demo-Tag eröffnet werde sollte und aus Angst vor dem »schwarzen Block« an den Stadtrand verlegt wurde. Dies interpretierte ein Teil der Wurzener Bürger*innen als massive Einschränkung ihrer Grundrechte und bereits bestehende Forderungen nach einem Verbot der linken Demonstration wurden erneuert und bekräftigt – auch von kommunalpolitischer Seite. Die Frage, ob derartige Maßnahmen für notwendig erachtet oder vollzogen worden wären, wenn an diesem Tag eine AfD-Kundgebung oder -gida-Demonstration stattgefunden hätte, wurde nicht gestellt.
Ergebnis dieser Panikmache und Kriminalisierung war, dass die mehr 400 Demonstrant*innen am 2. September nicht nur von Polizei in übertriebener Personenstärke, sondern zusätzlich von mindestens fünf Wasserwerfern, Riotcops und schwerbewaffneten SEK-Einheiten in Empfang genommen wurden. Was eine derartige mit Maschinenpistolen bewaffnete Einheit überhaupt bei einer Demonstration zu suchen hat und wie die Szenarien aussahen, unter denen die handeln sollte, bleibt ebenso zu klären, wie der auf Twitter dokumentierte »Odins Rabe«(2), den ein SEK-Beamter auf seiner Uniform angebracht hatte.

Drecksnest at its best
Dass Wurzen »Homezone« von einer starken Neonazistruktur und damit »Feindesland« ist, war im Vorfeld klar und schließlich auch der Grund für eine unversöhnliche Demonstration an diesem Ort. Dennoch war die feindselige Stimmung, die den Demonstrant*innen entgegen schlug unerwartet groß und ist sicherlich auch durch die mediale Stimmungsmache im Vorhinein geschürt worden. Ursprünglich waren zwei Gegenkundgebungen, eine davon von einem einschlägig bekannten Neonazi, angemeldet worden. Diese Anmeldungen wurden am Vortag allerdings zurück gezogen, während unsere Route verlegt und derart eingeschränkt wurde, dass wir dadurch nicht direkt am ehemaligen Streetwear-Laden von Benjamin Brinsa protestieren durften. Neben den unvermeidlichen Wurzener Neonaziaktivisten wurde unsere Demonstration auch von der lokalen Bevölkerung aus den Küchenfenstern beobachtet oder einfach umsäumt. Dabei war das lokal dominante Politische selbstverständlich nicht zu übersehen: Neben den Hitler- und Kühnengrüßen(3) waren es auch zahlreiche Mittelfinger, Beschimpfungen und Bedrohungen, die den Demonstrant*innen entgegen schlugen. Neonazikleidung und Codes wurden gut erkennbar zu Schau gestellt, die »normalen Wurzener*innen« hatten keine Berührungsängste mit bekannteren Nazigesichtern.
Trotz der starken Polizeipräsenz kam es zu Angriffsversuchen von Neonazis, die von den Teilnehmer*innen der antifaschistischen Demonstration souverän abgewehrt wurden. Die oben bereits erwähnten Hitler- und Kühnengrüße, die am Rande der Demo zu sehen waren, konnte oder wollte die Polizei nicht ahnden, denn sie war laut eigener Aussage für die Demonstration und nicht für das umliegende Geschehen zuständig. Die Demonstration konnte lange nicht starten, da die Stangen der mitgebrachten Schilder angeblich »zu kurz« gewesen seien. Einen weiteren längeren Halt musste sie einlegen, als das Abknibbeln von Neonaziaufklebern von einem Linkspartei-Plakat zum Anlass für eine Personalienfeststellung genommen wurde. Während sich einige wenige Beamt*innen erschrocken vom Wurzener Mob zeigten, plauderten andere angeregt mit Anti-Antifas, anstatt sie davon abzuhalten, Demonstrant*innen zu fotografieren oder zu filmen.
Trotzdem gelang es uns, durch eine ruhige, aber entschlossene Demo ein Zeichen zu setzen und durch Redebeiträge und Begleittexte auch inhaltlich zu unterfüttern. Besonders möchten wir hier unseren Respekt jenen Wurzener*innen aussprechen, die sich unserer Demonstration anschlossen. Dass dies unter den oben beschriebenen Bedingungen keine Selbstverständlichkeit ist, finden wir nachvollziehbar und mutig. Wie die Zustände in Wurzen sind, macht unter anderem eine Nachricht an den Fotografen Kohlhuber deutlich, in welchem sich ein Mensch aus Wurzen für die Demo bedankt und eindrücklich schildert, dass er sich in der Stadt nicht sicher fühlt.(4)

Unversöhnliche Intervention als Antwort auf eine unerträgliche Situation
Unversöhnliche Interventionen werden häufig als nicht zielführend kritisiert. Natürlich ist das autoritäre Konzept der »Bestrafung« statt »Aufklärung«, wie es in der Form der unversöhnlichen Intervention angelegt ist, zutiefst streitbar. So musste sich auch unsere Demo immer wieder den Hinweis gefallen lassen, dass dies keine (nachhaltige) politische Aktion sei. Dies ging soweit, dass lokale (sächsische) linksradikale Zusammenhänge eine solidarische Unterstützung verweigerten.
Für uns hingegen zeigte sich in Wurzen wieder einmal, dass unversöhnliche Interventionen sinnvoll und notwendig sind!
Denn unversöhnliche Interventionen haben keinen pädagogischen Anspruch, sie fordern auch keine tiefere Auseinandersetzung mit den Rassist*innen. Sie setzen allein darauf »die Kosten für das Ausleben des Rassismus möglichst hoch zu treiben«(5) und hoffen, damit nicht nur vor Ort, sondern bundesweit abschreckend zu wirken. Im Fall von Wurzen ist es uns gelungen, den völkischen Frieden über die Ortsgrenzen hinaus zu stören. Wir haben die deutschen Zustände am Beispiel von Wurzen in (über-)regionalen Medien sichtbar gemacht.(6)
Regionalpolitiker*innen, örtliche Medien und lokalpatriotische Sächs*innen haben exakt so reagiert, wie wir es vermutet und befürchtet haben. Der rassistische Konsens zwischen Neonazis, Politik, Polizei und schweigender bis zustimmender Mehrheitsgesellschaft wurde am 2. September in Wurzen, in der LVZ, dem MDR und auf Twitter für viele sichtbar. Mit unserer antifaschistischen Demonstration haben wir der einig-völkischen Gemeinschaft vor Ort gezeigt, dass es ein Außen gibt, das ihre Taten beobachtet, verurteilt und auch bereit in solche Orte zu fahren.
Ein Angriff auf Orte wie Wurzen bedeutet nicht nur einen Angriff auf das »ganz normale Dorfleben«, das sich dort entfaltet, sondern insbesondere auf die dazugehörige offensive wie subtile rassistische Vernetzung, die dort stattfindet.
Wir sind uns bewusst, dass die gegenwärtigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die in Wurzen deutlich sichtbar wurden, nicht zu unseren Gunsten stehen. Uns ist klar: Das ist ein Notwehrprinzip. Es ist ein Setzen auf Autorität gegen Autoritäre, auf Unterdrückung statt auf Aufklärung. Eine bessere Gesellschaft wird dabei nicht entstehen.
Aber wir halten der hässlichen deutschen Fratze den Spiegel vor: Wir stören, wir drohen, wir zeigen, dass wir diese Zustände nicht akzeptieren. Im besten Falle schüchtern wir die Verursacher*innen ein und empowern die Widerständigen. Dass dies auch funktionieren kann, zeigt uns die Zustimmung gerade auch aus der Region in und um Wurzen, die wir auch von vereinzelten bürgerlichen Akteur*innen für #wurzen0209 erhalten haben – während sich gleichzeitig Linksradikale in Kritik und Ablehnung übten.

Wo warst du?
Wirklich viele waren wir nämlich nicht vor Ort. Dass es tatsächlich nur 400-500 Antifaschist*innen zu unserer Demonstration nach Wurzen geschafft haben, macht uns teilweise ratlos und auch wütend. Wir fragen uns (selbst)kritisch, woran das lag. Natürlich werden wir als Bündnis unsere Mobilisierungs- und Pressearbeit überdenken und versuchen, diese beim nächsten Mal anders und vor allem besser zu machen. Aber daran liegt es eben nicht allein. Uns ist flau im Magen, dass uns im Vorfeld ohne eine inhaltliche Auseinandersetzung Unterstützung verweigert wurde und die Diskussion im Nachgang bei dem SEK-Einsatz endet. Versteht uns nicht falsch: Die Anwesenheit des SEK bei einer kleinen, antifaschistischen Demonstration in einem kleinen Drecksnest ist eine Ansage des autoritären Staates und muss skandalisiert werden. Aber wieso bekommt daneben in der linksradikalen Berichterstattung kaum noch Platz, warum wir nach #wurzen0209 gefahren sind? Nämlich, weil es Orte gibt, in denen die völkische Hegemonie so erdrückend ist, dass alle jenseits der Volksgemeinschaft zum Jagdobjekt erklärt wurden. Das sind die Orte, an denen die nächsten rassistischen Angriffe und Pogrome vorbereitet werden. Das sind die Orte, in denen Menschen die nicht der völkischen Norm entsprechen in (Lebens-)Gefahr sind. Wir alle wissen, dass Wurzen kein deutscher Einzelfall ist.
Deshalb fragen wir uns: Wo warst du am 2. September 2017? Und wo wirst du beim nächsten Mal sein?


Bündnis Irgendwo in Deutschland

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Gute Nacht ihr Könige von England ihr Prinzen von Wales

Anmerkungen

(1) Wurzen: Chronik einer rechten Hochburg, de.indymedia.org/node/13328

(2) Anm. d. Red.: Zum Hintergrund siehe facebook.com/hnnsklng/posts/360783097679491

(3) Anm. d. Red.: Der Kühnengruß ist eine Abwandlung des verbotenen Hitlergrußes.

(4) facebook.com/soeren.kohlhuber/posts/1108038372664548

(5) Café Morgenland (1992): Exzesse., cafemorgenland.net/archiv/1992/1992.05.20_Exzesse.htm

(6) Eine ausführlichere Presseschau findet ihr in unserem Twitter-Account, bereits vor der Demonstration gefiel uns dieser Artikel hier: zeit.de/gesellschaft/2017-08/wurzen-rechtsextremismus-rassismus-sachsen-gewalt

04.10.2017
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