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Aktuelles Heft

INHALT #243

Titelbild
Ätsch!
Das ist Wahnsinn! Warum schickst du mich in die Hölle?!
The Dillinger Escape Plan
Jeff Rowe
No Crap - Flohmarkt
Lesung »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« mit der Autorin Manja Präkels
Prawn + Todo Para Todos
Andreas Dorau
• position: Das Pulli-Archipel
• doku: Demoaufruf Wurzen
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Das Pulli-Archipel

Die Sentinelesen sind die wohl abgeschotteste Gemeinschaft der Welt. Sie leben auf North Sentinel Island, das westlich der südlichen Andamanen im Indischen Ozean liegt und verwehren sich gegen jede Kontaktaufnahme. Die indische Regierung stellte jegliche Kommunikationsversuche ein, nachdem ihre Hubschrauber mit Pfeil und Bogen beschossen worden waren.(1)

Nicht so abgeschottet lebt es sich in der Subkultur des politischen Hardcore-Punks und des DIYs, aber es scheint, als werde dies bedauert. Stattdessen ist man Teil einer größeren Gemeinschaft, die in langen Auseinandersetzungen Rechtssprechung, Krankenversorgungen usw. institutionalisierte. Diese Gemeinschaft wird von den Subkulturangehörigen nicht nur genutzt, sondern durch Kauf von besteuerten Konsumgütern auch mitfinanziert. Woran weder eine oberflächlich antikapitalistische Attitüde noch partieller Konsumverzicht etwas ändert.

Trotzdem herrscht im Allgemeinen die Auffassung, dass man selbst gröbere Verstöße gegen geltendes Recht und erlittene Traumata in den kleinen Bekanntengrüppchen und Plenas klären könne, obwohl es an benötigtem Fachwissen sowie dem emotionalen Abstand fehlt. Man stelle sich vor, diese Leute versuchten eine offene Schienbeinfraktur auf die gleiche Weise zu behandeln.(2)

Mit dem »Outing«(3) von Wolfdown sieht sich die »Szene« mit einem Thema konfrontiert, das die meisten Ottonormalbürger überfordert.Trotz der Beteuerung von Feminismus und Antisexismus reagiert auch die involvierte Subkultur wenig kompetenter. Konnten ihre Mitglieder die eigene Sozialisierung doch nie völlig abstreifen und die öffentlich vorgetragenen Ansprüche verkommen gar zu eingeübten Affekten der Empörung, die ohne Reflexion auf die wirklichen Vorgänge auskommen.

Im Gegensatz zu szenetypischen Anschuldigungen gelingt es den beiden Autorinnen gut, sexuelle Übergriffe zu schildern und konkrete Tatbestände zu benennen. Dies machen sie aber an der völlig falschen Stelle, nämlich in einem Online-Appell an die eigene Szene. Dies birgt nicht nur die Gefahr eines juristischen Nachspiels, sondern entfachte ebenfalls einen Onlinepranger inklusive eines Shitstorms auf den Facebookseiten der Band und den Vertriebsstrukturen.


Falsch verstandener Feminismus, Opfermentalität, Selbstjustiz und die vollkommene Ablehnung der staatlichen Rechtsprechung schlugen sich in den Debatten in den öffentlichen sozialen Netzwerken Bahn.(4) Jeder Versuch, diese Ausbrüche zu zügeln, wurde sofort mit dem Schlagwort »Rape Culture« und dem Totschlagargument der Definitionsmacht in das Lager der Angeklagten und potentieller Mittäter befördert. Dass das Konzept der Definitionsmacht höchst problematisch ist, weil es gerade nicht versucht nach objektiven Maßstäben die Schuldigen von den Unschuldigen zu trennen, scheint vergessen oder wird willentlich ignoriert.(5)

Es wird nicht erkannt, dass das Familiensubstitut der kleinen Fan-Szene genau so viel Oppressionspotential besitzt wie traditionelle Bluts- und Schicksalsgemeinschaften. In ihnen wird sich über ästhetische Homogenität definiert, Abweichungen Einzelner werden moralisierend getadelt oder führen zum Ausschluss. Das zeigt sich besonders an den Vorbehalten der Betroffenen sowie der sich zu Wort meldenden Ex-Sängerin(6): Sie alle beschreiben, dass sie ihre Erlebnisse erst jetzt öffentlich teilen, weil die Angst, selbst aus Freundeskreisen und ähnlichen Gemeinschaften ausgeschlossen zu werden, zu groß war. Paradoxerweise richtet sich das Outing genau an diese Gruppen, denen man nicht traute.


Die Forderung der Betroffenen dementsprechend auch szenetypisch ausgerichtet: Man möchte nicht nur die zwei Typen und ihre Band aus der Szene tilgen, sondern auch jedem Merchverkäufer, Konzertveranstalter und Wolfdown-Pulliträger Probleme bereiten, die der Band nicht baldigst abschwören.

Verschiedene Labels und Distros nahmen Wolfdown unverzüglich aus ihrem Sortiment und leisteten ein kurzes Lippenbekenntnis zu Feminismus und Antisexismus.(7) Manchem oder mancher reichte aber auch das nicht aus: Man stieg in die Schlammschlacht ein: Wer wusste Bescheid? War der Ausstieg von Bandmitgliedern nicht bereits vorher geplant?(8) Eine konkrete Beweisführung blieb man schuldig. Ein verbales Unken, Hauen und Stechen, das den primitiven Regungen der Sentinelesen nur wenig nachstehen dürfte. Geht es hier neben Verkaufsinteressen doch um ein ähnliches Prinzip: Der Tilgung von gefühlt unreinem Verhalten und die Wiederherstellung der Stammesroutine.

Die Verteidiger von Common Sense und Zivilisation, welche ein respektvolles Miteinander und Gleichberechtigung voraussetzen, haben eben diese verraten, indem sie sich – als es drauf ankam – in Klatschmäuler und Wutbürger transformierten. Der Vorstellung eines befreiten und emanzipierten Umgangs wich der Verfolgungseifer.


Vielleicht kann aber eine ganzheitliche Problembehandlung gar nicht der Anspruch einer kleinen gesellschaftlichen Insel sein. Vielleicht wäre der Anspruch viel eher der, zu wissen, wann ein Problem für die Insel zu groß ist und man den Kontakt zur modernen Gesellschaft suchen muss, deren vergangene soziale Kämpfe die juristische Verfolgung solcher Taten und die professionelle Versorgung Betroffener etabliert haben. Eine Gesellschaft mit Opferberatungen, die in Szeneausschluss und Sprachhygiene nicht das Allheilmittel sehen.

Oft ist diese Hilfe nicht immer unmittelbar oder leicht zu bekommen und verlangt den Betroffenen einiges ab. Um diesen Weg zu beschreiten bedarf es eben dort der Unterstützung durch Familie, Freunde und Bekannte. Hobby-Psychologen, Aufwiegler und impulsive Dauerbetroffene in den Kommentarspalten sind keine Hilfe, sondern machen sich zum willigen Futter von Internettrollen und Frauenfeinden.

PEOPLE: RUNTER VON DER INSEL

WENN IHR SOLCHEN SCHEISS IM FREUNDESKREIS MITERLEBT, DANN BRINGT DIE LEUTE ZU ENTSPRECHENDEN BERATUNGSSTELLEN UND ÜBERLASST SIE NICHT DEM SZENETRIBUNAL ODER DEM INTERNETPRANGER.

EGAL, WIE MOLLIG SIE SICH SONST FÜR EUCH ANFÜHLEN: BRECHT DEN KONTAKT ZU PERSONEN, FREUNDESKREISEN UND SZENEN AB, DIE NICHT FÜR EURE SEELISCHE UND KÖRPERLICHE UNVERSEHRTHEIT SOWIE EURE PERSÖNLICHE ENTFALTUNG EINSTEHEN WOLLEN ODER KÖNNEN.

von V. Nerada

Anmerkungen

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Sentinelesen
(2) Beides »heilt« nicht von selbst und bedarf der Aufmerksamkeit durch ausgebildete Fachkräfte.
(3) http://wolfdownouting.blogsport.de/
(4) Siehe die Kommentarspalten auf facebook.com/wolfdownhc
(5) https://lesmadeleines.wordpress.com/tag/definitionsrecht/
(6) https://www.facebook.com/photo.phpfbid=1512362222156033
(7) https://www.facebook.com/evilgreedstore/posts/1411216028999034
(8) https://www.facebook.com/PowertripRecords/posts/1189327867840533

11.09.2017
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