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• das erste: Hannah Arendt revis(it)ed
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• inside out: Stellungnahme des Conne Islands zum Artikel der Bild-Zeitung vom 20.09.16 und den Vorwürfen des CDU Stadtrats Ansbert Maciejewski
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• position: »Die denkbar größte Entartung der Gewalt« 1
• Ein Streit um den richtigen Ansatz
• doku: Was tun gegen rechts?
• leserInnenbrief: Seit Ihr eigentlich Geistig behindert?
• das letzte: Worauf Bettina Kudla anschlägt
Um eine Domäne der deutschen Geschichtswissenschaft, die Totalitarismusforschung, ist es in letzter Zeit etwas ruhig geworden. Ihre Annahmen haben indes längst Eingang in Politik und Gesetzgebung gefunden, auch und gerade weil es sich bei dieser Forschung um ein Liebligskind staatlicher Geschichts- und Wissenschaftspolitik handelt. Schließlich gelingt es mit den Theorien und Ergebnissen dieser Forschung, die Betrachtung der deutschen Geschichte so zu verzerren, dass sie nicht mehr so schlecht aussieht.
Eine herausragende Rolle spielt in dieser Branche das 1993 auf Initiative von ProtagonistInnen der DDR-BürgerInnenbewegung und auf Beschluss des sächsischen Landtags gegründete Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, eine Art Think-Tank des bundesdeutschen Anti-Kommunismus. Große Aufmerksamkeit hat es seitdem aber vor allem durch seine Wechselwirkung mit der Politik und durch verschiedene Personalquerelen erzeugt.
Der letzte Skandal betraf den Stasi-Mitarbeiter Manfred Richter. Der Historiker und langjährige wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut wurde Ende 2010 fristlos entlassen, nachdem seine Mitarbeit in der Stasi publik wurde. Diese war dem Institut bekannt und es stellte ihn nichtsdestotrotz ein, da er von der damaligen Gauck-Behörde ein Entlastungsgutachten bekam. Als später »gravierende, über den bisherigen Kenntnisstand erheblich hinausgehende Aktivitäten Dr. Richters als IM« - wie es Institutsdirektor Heydemann ausdrückte – bekannt wurden, sah das Institut sich schließlich doch dazu genötigt, Richter zu entlassen, nachdem es ihn 15 Jahre lang beschäftigte. Dass es sich dabei um keine Lapallie handelte, fiel nicht nur dem Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen Michael Beleites auf: »Wenn ein Institut, dessen Auftrag es ist, Diktaturverstrickungen aufzudecken, die Stasi-Verstrickungen des eigenen Wissenschaftlers über fünfzehn Jahre lang absichtlich und gemeinschaftlich geheim hält, hat es seine Vertrauensbasis verwirkt.«(1)
Doch schon vorher sorgte das Institut vornehmlich durch Personaldebatten für Aufmerksamkeit. Besonders der Streit um den damaligen Direktor Klaus-Dietmar Henke sowie seinen Stellvertreter Uwe Backes ist hier zu nennen. Der Streit entbrannte, nachdem Backes seinen Mitarbeiter Lothar Fritze, der in der Frankfurter Rundschau dem Hitler-Attentäter Georg Elser die moralische Legitimität seiner Tat abzusprechen versucht hatte, in Schutz nahm, wovon Henke sich distanzierte.(2)
In Folge des Streites und auf eine Entscheidung des Kuratoriums hin (mit der es seine Kompetenzen überschritt), ist Henke aus dem Institut ausgeschieden – trotz Protestes einiger Mitarbeiter, etwa des renommierten Historikers Saul Friedländer. Der damalige Kultus- bzw. spätere Wissenschaftsminister Matthias Rößler von der CDU hatte darauf schon länger hingearbeitet, nachdem er schon vorher signalisiert hatte, »dass eine breite Forschung zur NS-Geschichte, ohne vergleichende Perspektive, nicht in seinem Interesse sei«(3).
Es war auch bekannt geworden, dass er maßgeblich dazu beigetragen hatte, die Forschung im Institut nach politischen Maßstäben auszurichten.(4)
Die Förderung für das damals größte Drittmittel-Projekt am Haus wurde vom Geldgeber, der Dresdner Bank, in Frage gestellt und Saul Friedländer trat in weiterer Folge von seiner Mitarbeit im Institut zurück. Von der Regierung wurde das Institut jedoch nie in Frage gestellt.
Es ist nicht zufällig derselbe Personenkreis, der Totalitarismusforschung wie auch Extremismusforschung betreibt. Das liegt daran, dass beide Ansätze miteinander verknüpft sind – besonders auf politischer Ebene – und insofern kann die Totalitarismustheorie als Grundlage der Extremismustheorie betrachtet werden: Bei beiden handelt es sich um dichotome Begriffsbildungen, bei denen ein positives Idealbild – die bürgerliche Demokratie bzw. deren »Mitte« – und eine Negativfolie, also Totalitarismus bzw. Extremismus einander gegenüber stehen. Und in diesem Zusammenhang ist auch die politische Funktionalisierung der Forschung und die personelle Nähe zum Verfassungsschutz zu betrachten.(5)
Dass das Institut über erheblichen politischen Einfluss verfügt, zeigt sich am sächsischen Gedenkstättengesetz. Dieses entstand 2003 und hat die Gleichbehandlung des Gedenkens an Opfer von Nationalsozialismus und DDR zur Grundlage – »Opfer politischer Gewaltherrschaft«, wie es dort heißt. Aus diesem Grund waren die Verbände der Opfer des Nationalsozialismus aus der im Gesetz verankerten »Stiftung Sächsische Gedenkstätten« ausgetreten. Die Kritik an dem Gesetz blieb auch hauptsächlich ihnen vorbehalten. Das 2008 verabschiedete Bundesgesetz basiert ebenfalls im Wesentlichen auf der sächsischen Version. 2009 gab es dann auch erstmals einen gemeinsamen Gedenktag für Opfer sowohl der Nationalsozialismus als auch der DDR. Anfang des Jahres 2010 kehrten die Verbände – an Bedingungen geknüpft – in die Stiftung zurück.(6) Dass sich die Stiftung offenbar gerne selbst politisch aufs Glatteis begibt, zeigte sich zuletzt Ende 2015, als sie auf Twitter – durch den Mitarbeiter Bert Pampel, der dazu nicht authorisiert war – die Hetze von PEGIDA gegen Flüchtlinge verteidigte.(7)
Bewegte Geschichte eines Begriffs
Der Totalitarismusbegriff(8) wurde zuerst im italienischen Antifaschismus verwendet und – nachdem Mussolini ihn mit dem »stato totalitario« aufgegriffen hatte – auch in der faschistischen Bewegung, die sich den Begriff verklärend aneignete. Der NS-Jurist Carl Schmitt etablierte ihn später auch in der deutschen Staatslehre, dort aber im Sinne eines totalen Zuständigkeitsstaates.(9) Von dort gelangte der Begriff in den angelsächsichen Sprachraum und wurde nach und nach auch im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen und der kommunistischen Bewegung benutzt. Vor allem in den USA entwickelte sich ab 1936 eine vergleichende Totalitarismusforschung. Angesichts des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakts von 1939 fand in den USA die erste wissenschaftliche Konferenz zum Thema statt, das infolgedessen beachtlichen Aufwind genoss, da sich die bisherige Forschung in ihren Annahmen des Phänomens Totalitarismus bestätigt sah. 1941 kam es aufgrund des Bündnisses der Alliierten mit Stalin zu einer Zäsur, nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Wiederaufleben.(10)
Das erste grundlegende Werk der Totalitarismusforschung entstand durch Hannah Arendt. In ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft(11) liefert sie eine historisch-politische Analyse der totalen Herrschaft. Ihr empirisches Material gewann sie hauptsächlich dem Nationalsozialismus ab, was dem dürftigen damaligen Kenntnisstand über den stalinistischen Staat geschuldet war. Sie schildert die historische Entwicklung von Antisemitismus und Imperialismus im 19. Jahrhundert und deren Verknüpfung in der neuartigen Rasseideologie. Dabei geht sie auf verschiedenste Aspekte ein: die historische Entwicklung der Rolle der Juden in den europäischen Gesellschaften, den Antisemitismus der Liberalen oder die sich im Verbund mit dem Sozialdarwinismus und dem Kolonialismus kristallisierende und in Südafrika vorwegnehmende Rasseideologie. Sie betont dabei die Entwicklung der totalitären Bewegung aus der bürgerlichen Massengesellschaft heraus. Die ersten beiden Kapitel können daher auch als Vorgeschichte des Nationalsozialismus gelesen werden. Erst im dritten Kapitel kommt sie auf die totale Herrschaft zu sprechen, deren Wesen sie im Terror sieht.(12)
Arendts Werk wurde zwar weithin gelobt, aber in der Wissenschaft tatsächlich kaum angewandt. Viel größere Beachtung fand der Ansatz von Zbigniew Brzezinski und Carl-Joachim Friedrich.(13) In ihrem Werk Totalitäre Diktatur beschreiben sie sechs Merkmale, anhand derer eine totalitäre Diktatur zu charakterisieren sei: 1. eine zentrale, allumfassende Ideologie mit Ausschließlichkeitsanspruch, 2. die Herrschaft einer einzigen, auf Massenmobilisierung ausgerichteten Massenpartei, 3. ein ausgeprägter Terrorapparat, 4. Monopol auf Kontrolle der Massenkommunikationsmittel (Nachrichtenmonopol), 5. ein Waffenmonopol und 6., eine zentral gesteuerte Wirtschaft.(14)
Das Modell fand in den folgenden Jahren eine breite Anwendung, doch es war von Anfang an auch mit Problemen behaftet, da es eine sehr idealtypische und normative Klassifizierung war, die zudem empirisch nicht verifiziert werden konnte und zahlreiche Widersprüche aufwies.
Einige der für Totalitarismus vermeintlich charakteristischen Phänomene waren schon früh widerlegt – z.B. die Ähnlichkeit der Wirtschaftsordnung zwischen den beiden »totalitären« Systemen. So stellte etwa Manfred Funke fest, es handele sich bei der Wirtschaft im Faschismus um eine »durchstaatlichte Privatwirtschaft« – im Gegensatz zu einer zentralistischen Planwirtschaft unter Stalin.(15) Franz Neumann kam zu einem ähnlichen Bild(16). Er macht auch deutlich, dass wirtschaftliche Planung zwar notwendigerweise (v.a. durch die großen Kartelle wie I.G. Farben) betrieben wird, aber dass es sich insgesamt immer noch um eine Privatwirtschaft handelt(17).
Sogar das notwendige Vorhandensein eines umfassenden Terrorapparates als Merkmal totaler Herrschaft wurde mittlerweile relativiert oder gar revidiert. Selbst der bereits erwähnte Lothar Fritze etwa schließt Terror als Merkmal totaler Herrschaft gänzlich aus.(18) Und man braucht nun auch nicht viel Fantasie, um etwa auch die Doktrin des Marktes als Ideologie mit Ausschließlichkeitsanspruch bezeichnen zu können.
Abgesehen von diesen Gegebenheiten jedoch, ergab sich in den sozialistischen Ostblockstaaten mit der sogenannten Entstalinisierung – der Abschwächung des Terrors und Reduzierung der Gulags – ein Wandel, der in dem Modell von Friedrich und Brzezinski nicht vor(aus)gesehen war. Es folgte eine offenkundig notwendige Anpassung der Theorie v.a. durch Martin Drath (1958), der zwischen Primär- und Sekundärphänomenen totaler Herrschaft unterschied. So sei z. B. Terror nur noch ein Sekundärphänomen, das Vorhandensein einer zentralen Ideologie mit politischer Herrschaftsfunktion – d.h. genauer eines auf die Neuschaffung des Menschen ausgerichteten Wertungssystems – jedoch ein Primärphänomen.(19) Doch auch diese Anpassung wurde der Realität nicht gerecht, da auch die Ideologien – genau wie deren Durchsetzung – sich änderten, wie Peter Ludz bemerkt: »Eine sich wandelnde Gesellschaft jedoch, in der Terror und Zwang zwar vorhanden sind, jeweils aber einen anderen Stellenwert einnehmen, ist offenbar weder mit dem Ideal- noch mit dem Durchschnittstypus „totalitäres System“ adäquat zu erfassen.«(20)
Aufgrund der konstatierten, größer als bisher angenommen erscheinenden Wandlungsfähigkeit der staatssozialisischen Systeme forderte Ludz dann eine soziologische Überprüfung der Totalitarismustheorie, die er 1964 mit dem Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft selbst lieferte. Die zentrale Aussage seiner Arbeit, mit der er das bisherige Modell nach Friedrich und Brzeszinski faktisch widerlegte, war, dass »ein bolschewistisches System unter den Bedingungen der Industriegesellschaft […] eher zu einer autoritären, als zu einer totalitären Verfassung« tendiere. Er wandte diese Theorie dann in einer empirischen Studie über die Parteielite der DDR an, in der er zu dem Schluss kommt, dass sich dort eine moderne Industriegesellschaft gebildet habe, deren Regierung durch eine technokratische Elite auf den Einsatz von Terror weitgehend verzichten könne.(21)
Entsprechend war auch das (West-)Berliner Institut für Politikwissenschaft, das versucht hatte das Totalitarismusmodell empirisch anzuwenden, in den sechziger Jahren aufgrund der theoretischen Schwächen bald wieder davon abgerückt(22), ebenso wie die Nationalsozialismusforschung und in den siebziger und achtziger Jahren die Kommunismusforschung sich von der Theorie weitgehend abwandten(23).
Konjunkturabhängigkeit
Die Geschichte der Totalitarismustheorie ist zugleich die Geschichte ihrer politischen Instrumentalisierung. »Auf tiefe Abstürze folgten rasante Aufschwünge«, konstatiert Karl-Heinz Roth über diese Konjunkturabhängigkeit.
Für die Legitimation der Theorie wird schon das Ende der Weimarer Republik herangezogen. So sei deren »bürgerliche Mitte« durch die Kämpfe zwischen Nazis und KommunistInnen aufgerieben worden, die die Republik letztlich zerstörten. Es wird bewusst ignoriert, dass die Weimarer Republik von einem demokratisch legitimierten Bündnis u.a. aus NSDAP und Deutsch-Nationaler Volkspartei (DNVP), das sich unter Zustimmung konservativer Parteien diverser Mängel in der Verfassung – etwa des sogenannten Notstands-Paragrafen 48 – bediente, um die Verfassung und die Demokratie auszuhebeln, letztlich »von oben« aufgehoben wurde. Daher kam auch Hannah Arendt zu dem Schluss, dass die Bourgeoisie mit Hilfe der Nazibewegung den Nationalstaat zerstörte.(24)
Um nun der Gefahr einer erneuten Diktatur vorzubeugen, sollte in der Verfassung der Bundesrepublik 1949 eine sog. »wehrhafte« Demokratie gestaltet werden, die insofern negativ entworfen wurde, als sie ein Gegenmodell zum »Totalitarismus« darstellen soll und sich gegen die Bedrohung von den »Rändern« der Gesellschaft zu schützen imstande ist. Damit spielte die Totalitarismustheorie bereits in der Staatsgründung der BRD eine entscheidende Rolle. Diese enge Verknüpfung zur Politik bzw. zum Staat der BRD spiegelt sich etwa im oft von deren Protagonisten geäußerten Verständnis des Grundgesetzes als »lebendige Totalitarismustheorie«(25), der Totalitarismustheorie als »Weltanschauung des Grundgesetzes«(26) und dem Totalitarismus als »negatives Gegenbild zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung«(27) wieder.
Es verwundert daher nicht, dass die Totalitarismusforschung, nachdem sie 1941 aufgrund des Bündnisses der Alliierten mit der Sowjetunion weitestgehend eingestellt worden war, mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Teilung Deutschlands in zwei Staaten wieder neu aufgenommen wurde, um gegen die als totalitär angenommene Sowjetunion und die als illegitim betrachtete folgende Staatsgründung der DDR fungieren zu können. So etablierte sich die Totalitarismustheorie als ideologische Waffe im Kalten Krieg.
In den 60er Jahren erfolgte jedoch insgesamt ein Bedeutungsverlust der Theorie, hauptsächlich aufgrund politischer Entwicklungen. Hierbei ist v.a. die Phase der Entspannung im Kalten Krieg zu nennen, in die die deutsch-deutsche Annäherung der 60er Jahre fällt sowie die studentischen Protestbewegungen um das Jahr 1968, die sich offensiv gegen die antikommunistische Politik wendeten. Als zu dieser Zeit die tiefgreifende Verwicklung der CIA als Organisationszentrum im international geführten, antitotalitären Diskurs der damaligen Zeit publik wurde, distanzierte sich auch Hannah Arendt von der Vereinnahmung der Theorie durch die »Gegenideologie des Antikommunismus«, der sie einen Anspruch auf Weltherrschaft bescheinigte(28), und sprach sich gegen deren Anwendung auf die poststalinistischen Regime Osteuropas aus(29).
Nach dem Niedergang der sozialistischen Staaten des Ostblocks 1990 wurde die Totalitarismusforschung wieder verstärkt aufgenommen. Der vermeintliche Sieg der kapitalistischen Demokratien und das von Francis Fukuyama proklamierte »Ende der Geschichte«(30) bildeten dabei offenkundig die »politisch-legitimatorische Matrix« für die »Renaissance« der Totalitarismusdoktrin und das verstärkte Aufkommen des Extremismusbegriffs.(31) In diesen Aufschwung fällt auch die Gründung des Hannah-Arendt-Instituts 1993 in Dresden.
Manichäisches Weltbild
Die Totalitarismustheorie befindet sich Karl-Heinz Roth zufolge »in einer unauflöslichen Gegnerschaft zu offenen gesellschaftlichen Entwicklungen und damit zu jenen demokratischen Prozessen, die sie zu verteidigen vorgibt«(32). Es handelt sich um eine schwarz-weiß-Typologie eines negativen Gegenbildes zum als freiheitlich charakterisierten Idealbild – dem repräsentativ-demokratischen Verfassungsstaat. Dieser bildet den normativen Ausgangspunkt und wird, gegen jede Kritik immunisiert, von der weiteren Betrachtung ausgeblendet.(33) Die typisierende Betrachtungsweise erfasst »die eigentlich politisch-sozialen Phänomene kaum zureichend, weil nämlich bestenfalls als Abweichung von der Gattung oder von einem selbst normativ orientierten Durchschnittstypus«.(34)
Das Suchen nach vergleichbaren Phänomenen und das Zurechtbiegen von Gemeinsamkeiten läuft ins Leere, da es zumeist nur einzelne Phänomene aufgreift und so das »Ensemble« der Verhältnisse, die eine Gesellschaft oder eine Ordnung ausmachen, aus dem Blick verliert. Dazu kommt, dass der Vergleich immer schon an bestimmten Prämissen orientiert ist: der Einordnung in das Schema »totalitär«. Es handelt sich hier um das Forschen nach Kategorien, anhand derer bestimmte politische Systeme und Ideen vom eigenen Standpunkt aus abgegrenzt, als »totalitär« eingestuft und dämonisiert werden können, um damit dann politische Auseinandersetzungen zu führen. Aus der Prämisse »totalitäre Merkmale« wird dabei in einem klassischen Zirkelschluss das Ergebnis »totalitäres System«.
Relativierung der Shoa
Durch die Gleichsetzung vermeintlich totalitärer Systeme wird auch die Leugnung der Singularität der Shoa, also der Besonderheit des Verbrechens, zum alltäglichen Geschäft – zumeist begleitet vom Lippenbekenntnis eben einer Anerkennung dieser Singularität(35). Auschwitz war aber kein totalitäres, sondern ein nationalsozialistisches Phänomen. Der Historiker Leonid Luks betonte hingegen, dass sich »der nationalsozialistische Judenmord mit keinem Verbrechen der Kommunisten gleichsetzen [lässt]. Bei den Terrorfeldzügen der Bolschewiki gegen den Adel, gegen die Bourgeoisie oder gegen die Bauern handelte es sich niemals um die physische Vernichtung der gesamten sozialen Klasse, die gerade bekämpft wurde. Eine „falsche“ Herkunft konnte unter Umständen durch eine „richtige“ Gesinnung korrigiert werden. Ungeachtet des Terrors gegen die ehemalige Oberschicht hatte die Parteiführung keine Bedenken, sich auf zehntausende von bürgerlichen Spezialisten zu stützen, deren Einsatz das Überleben des sowjetischen Staates wahrscheinlich erst ermöglichte.« Viele Bolschewiki – Lenin eingeschlossen – seien immerhin selbst »adeliger oder „bürgerlicher“ Herkunft«(36). Er kritisiert weiterhin die »Verdrängung der Tatsache, dass die Judenvernichtung […] keine Differenzierung kannte. Hier war das Urteil gegen alle, unabhängig von der Klassen- oder Religionszugehörigkeit, von der politischen Gesinnung oder vom Alter, gleichlautend: „schuldig“.«(37)
Zweimal Diktatur gleich Totalitarismus
Die Bezeichnung der DDR als totalitäres Regime ist ebenso ein Allgemeinplatz – in Wissenschaft wie auch im Alltag. Diese Klassifizierung äußert sich implizit auch in den Floskeln von »den beiden deutschen Diktaturen« oder der »doppelten Vergangenheit«. Hannah Arendt selbst schrieb in ihrem Werk Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft, dass die totale Herrschaft »mit dem Tod Stalins in Rußland nicht weniger ihr Ende gefunden hat, als in Deutschland mit dem Tod Hitlers«(38). Doch das scheint den Totalitarismusforschern entweder nicht bewusst oder schlicht egal zu sein. Dass Eckhard Jesse, der zweite prominente Vertreter der Riege aus Sachsen, die DDR unter Honecker nicht mehr als totalitär betrachtet, ändert daran nichts.(39) Die Gleichsetzung von NS und DDR kennzeichnet die nach wie vor in der BRD anhaltende gesellschaftliche Tendenz zu verschiedenen Mechanismen der Abwehr der geschichtlichen Schuld und dem Wunsch nach Läuterung, einer weiteren Spezialität der Forscher aus diesem Umkreis.
Jesse hat sich bereits 1990 in dem zusammen mit Uwe Backes und Rainer Zitelmann herausgegebenen Band Schatten der Vergangenheit hervorgetan, in dem sie die historisierenden Thesen des Historikerstreits weiterführten und wo er u.a. schrieb, dass Juden heutzutage die Vorurteile gegen sie selbst hervorrufen würden, ja ihrer sogar bedürften, um ihre Interessen durchsetzen zu können.(40) Außer mit sekundärem Antisemitismus will man sich in dem Buch auch mittels Ausführungen zur progressiven Sozialpolitik des NS von den »Schatten der Vergangenheit« lösen.(41)
Der Unterschied der Verfolgung in NS und DDR ist nun allerdings offensichtlich. Der DDR-Führung mitsamt ihrem Spionagedienst Stasi, ging es nicht um die Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen, sondern um die Verfolgung politischer GegnerInnen. Damit besteht, was das Spektrum ihrer Opfer anging – das der Gestapo reichte über Juden, Sinti und Roma, über politische GegnerInnen bis zu Homosexuellen und als asozial Bezeichneten – ein entscheidender Unterschied. Die Stasi hat zudem in größerem Maße die Bespitzelung von BürgerInnen betrieben, da sie nicht auf so viel Mitwirkung aus der Bevölkerung beim Erreichen ihrer Ziele und eine so große Denunziationsbereitschaft zurückgreifen konnte, wie es bei der Gestapo der Fall war. Für Jesse ist das Anlass zu einer weiteren Unterscheidung, jedoch rein sprachlicher Art: die in eine deutsche Diktatur und eine Diktatur auf deutschem Boden.(42)
Die Gleichsetzung von DDR und NS ist somit vor allem Mittel für politische Zwecke. Der Totalitarismusbegriff ermöglicht keine Analyse, die den jeweiligen Systemen gerecht wird. Der Verzicht auf den Totalitarismusbegriff hieße nun dabei nicht, die Züge eines undemokratischen Überwachungsstaates, wie die DDR es war, aus dem Blick zu verlieren oder gar diese zu affirmieren. Vielmehr lässt sich die DDR ohne den Begriff viel differenzierter beschreiben.
Kritik der Massengesellschaft
Hannah Arendt stellt schon in ihrem Aufsatz Freiheit und Politik die Möglichkeit von Freiheit in Massengesellschaften in Frage, und meint »wo alle das gleiche tun, handelt niemand mehr in Freiheit«(43). Mit ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hat sie für die damaligen Verhältnisse eine vergleichsweise kritische Analyse der Entstehung des Nationalsozialismus geliefert. Mit der Kritischen Theorie eint sie, dass sie diese Ursprünge »nicht im Einbruch eines vormodernen Irrationalen, sondern in der modernen Gesellschaft selbst« sah.(44) Beide betonen die Kontinuität zwischen Faschismus und bürgerlicher Gesellschaft – beide benutzen den Begriff »totalitär«. Nach Arendt liegt die Dynamik dieser Kontinuität im Zwang des Kapitals zur Expansion und dem daraus resultierenden Imperialismus begründet, der die sozialen und geistigen Bindungen der Menschen zerstörte und zur Bildung der modernen Massengesellschaft führte. Diese Massengesellschaft verabsolutierte die schon vorher vorhandene Vereinzelung der Individuen zu einer starken Verlassenheit und Entwurzelung (bzw. auch wenn Arendt es nicht so nennt: Entfremdung).(45) Und der Versuch das Überflüssigwerden von Menschen in den Konzentrationslagern »herauszuexperimentieren« entspräche »aufs genaueste den Erfahrungen moderner Massen von ihrer eigenen Überflüssigkeit«(46). Herbert Marcuse zufolge handelte es sich bei totaler Herrschaft um eine Vollendung des Liberalismus auf einer fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung. »Der total-autoritäre Staat bringt die dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus entsprechende Theorie und Organisation der Gesellschaft«.(47) Während Arendt jedoch auch einen klaren Bruch feststellte und in jener ein grundsätzlich neues Phänomen sah(48).
Sehr ähnlich beschrieben Horkheimer und Adorno diesen Sachverhalt in der Dialektik der Aufklärung. Das für die Entstehung der Massenbewegung nötige Prinzip der Individualität »war widerspruchsvoll von Anbeginn. Einmal ist es zur Individuation gar nicht wirklich gekommen. [...] Jeder bürgerliche Charakter drückt trotz seiner Abweichung und gerade in ihr dasselbe aus: Die Härte der Konkurrenzgesellschaft.« Aber: »Zugleich hat in ihrem Gang die bürgerliche Gesellschaft das Individuum auch entfaltet.«(49) Denn mit den formalen Freiheiten des liberalen Kapitalismus schien das Individuum emanzipiert. Doch diese Individualität war auch die Vorbedingung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Jene folgte als die konsequente Aufhebung der Individualität und war Ausdruck wie Konsequenz der Formung des bürgerlichen Individuums und der Vereinzelung in der Industriegesellschaft, welche »an den Menschen bloß als an ihren Kunden und Angestellten interessiert« sei, ihr Dasein in dieser Formel erschöpft habe(50).
Horkheimer machte auch klar auf die Verknüpfung zur Ökonomie aufmerksam, wenn er wie Arendt oder Franz Neumann feststellt, dass die gesellschaftlichen Widersprüche, die sich durch die dem Kapitalismus immanente irrationale Wertform und das Tauschgesetz ergeben, im Faschismus zwar stillgestellt sind(51): »Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft, die von der Theorie von Anfang an getroffen war. Er fixiert die extremen Unterschiede, die das Wertgesetz am Ende produzierte. Ihn zu erkennen, bedarf es keiner Revision der ökonomischen Theorie. Der gleiche und gerechte Tausch hat sich selbst ad absurdum geführt, und die totalitäre Ordnung ist dies Absurdum. […] Dieselben ökonomischen Tendenzen, die durch den Konkurrenzmechanismus zur immer höheren Produktivität der Arbeit treiben, schlagen in Kräfte sozialer Desorganisation um.«(52) Dieser Begriff des Totalitären zielt jedoch Stefan Vogt zufolge auf den Zustand der nationalsozialistischen Gesellschaft als Resultat eines »Umschlags ohne Zusammenbruch«. »Die bürgerliche Gesellschaft wird totalitär in dem Moment, in dem sie sich vollständig durchgesetzt hat, und sie ist dann keine totalitäre Gesellschaft mehr.«(53) Und so kommt Horkheimer zu dem Schluss, der Faschismus sei „nicht wider die bürgerliche Gesellschaft, sondern unter bestimmten historischen Bedingungen ihre konsequente Form«. Und – nur auf den ersten Blick paradox – sieht er im selben Text mit dem Faschismus das Ende der bürgerlichen Gesellschaft(54). Angesichts dieser Diagnose schreibt auch der Philosoph Günter Figal: »Nach der Diagnose von Hannah Arendt ist der neuzeitliche Liberalismus, wo er den Menschen vom homo politicus zum animal laborans et consumens degradiert, eine notwendige Bedingung des Totalitarismus.«(55)
Mit Arendt
Für den politischen und öffentlichen Diskurs ist es nicht von großer Bedeutung, dass die Totalitarismustheorie überhaupt nicht schlüssig ist, solange der Begriff als politischer in ihm, ebenso wie in der Umgangssprache in Gebrauch ist und seinen Zweck erfüllt. Der Begriff des Totalitarismus und die dazugehörige Doktrin nützt damit vor allem demjenigen Spektrum, das sich selbst in die normative Mitte stellt, indem es sich von allem außen stehenden, seien es Totalitarismus oder Extremismus, abgrenzt. So werden die bestehenden Verhältnisse geheiligt und der positive Bezug auf die (geläuterte) Nation erleichtert.
Gegen dieses Denken, wie es die Totalitarismustheorie zur Grundlage hat, lässt sich mit Arendt einwenden, dass gerade solche Projekte, die als einzige nach dem Prinzip autonomer Selbstverwaltung organisiert sind und scheinbar per se unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen – alternative Jugend- und Kulturzentren – doch eigentlich im Sinne Alexis de Tocquevilles »Schulen der Demokratie« darstellten(56); dass die parlamentarische Repräsentation als Gefahr für die politische Freiheit anzusehen ist – ein gerne verdrängtes Eintreten Hannah Arendts für die Rätedemokratie(57), das sie heute wohl auch in die Nähe des Extremismus rücken würde – und dass die bis zur Verzweiflung treibende Vereinzelung in der Konkurrenz geradezu eine Grundlage des Zerfalls universaler Werte und der damit verbundenen Gefahr eines erneuten Umschlags in die Barbarei ist.
Das Geschichtsbild der Totalitarismustheorie dient in erster Linie der Läuterungspolitik und über den positiven Bezug auf die von ihren »Schatten« befreite deutsche Geschichte der nationalen Identität. Die durch die Totalitarismusdoktrin faktisch betriebene Gleichsetzung von Vernichtungslager und Gulag oder gar von DDR und dem NS-Reich ist davon ein wichtiger Bestandteil. Angesichts der offensichtlichen politischen Funktionalisierung und ihrer Orientierung an politischen Zwecken, ist es gerechtfertigt, dieser Forschung Geschichtsrevisionismus vorzuwerfen und an ein nach wie vor aktuelles Diktum Hannah Arendts zu erinnern: »Was heute auf dem Spiel steht ist die Existenz von Geschichte selbst, sofern sie verstanden und darum erinnert werden kann.«(58) Und daran, auch wenn es altbacken ist, »dass die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten.«(59)
marlon