• Titelbild
• Editorial
• das erste: Gott und Staat
• inside out: Jahresbericht 2015
• Klub: Electric Island X Veranda X Julian W. SWEET 18
• Filmriss Filmquiz
• Kleine Bühne Smokers Special
• 25 Jahre nach dem rassistischen Pogrom von Hoyerswerda
• Räbbordy #2 - Das Hip Hop Quiz
• DEATH INDEX / LA VASE (CAFEKONZERT)
• Endstation Griechenland. Flucht in eine Sackgasse.
• Wheelchair Skate Day
• Skeletons, White Wine Double Release
• All4HipHopJam 2016
• Boysetsfire + Wolf Down
• review-corner event: Tag der offenen Tür in der Flüchtlingsunterkunft Braunstraße
• position: »The world has avoided another war«
• doku: Unser Elend ist euer Kapital!
• doku: „Im Tal der Ahnungslosen“ – Rassismus in Sachsen damals wie heute
• doku: Offene Grenzen als Utopie und Realpolitik
• Digitalisierung und soziale Verhältnisse im 21. Jahrhundert
• das letzte: Die IHK Leipzig im Kampf um Freiräume für Investorenträume
• Neue Titel im Infoladen
Unter dem Leitwort »Seht, da ist der Mensch« findet in der letzten Mai-Woche der 100. Katholikentag in Leipzig statt. Dem Johannes-Evangelium zufolge sprach der römische Statthalter Pontius Pilatus diese Worte, als er dem Volk den gefolterten Jesus präsentierte. Nachdem sich Jesus ihm als außerweltlicher König offenbart hatte, »ging er zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen« und zog seine Freilassung in Betracht. Diese aber, so heißt es weiter, »schrien: Wenn du ihn freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich als König ausgibt, lehnt sich gegen den Kaiser auf«, und forderten: »Weg mit ihm, kreuzige ihn!« Stattdessen begehrten sie die Freilassung eines Straßenräubers namens Barabbas (der im Markus-Evangelium übrigens noch ein aufständischer Aufrührer war). Diese Darstellung der Juden im Johannes-Evangelium war traditionell eine Ressource des christlichen Antijudaismus: Das von den Römern regierte jüdische Volk lehnt sich unter Drohung mit der kaiserlichen Macht gegen den römischen Statthalter auf und drängt ihn so zur Kreuzigung Jesu. Jenes hinterhältig-manipulative Vorgehen der jüdischen Hohepriester ward Quelle der Phantasien geheimer jüdischer Herrschaft, die sich im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft in Gestalt des Geldes säkularisierte.
Dem Katholikentag jedenfalls gilt dieses Leitwort als »richtungsweisend«, dass der »Mensch [...] stets im Mittelpunkt stehen« müsse, »wenn wir nach Antworten auf die zahlreichen Herausforderungen unserer Gegenwart suchen.« Am Ende soll mit der abstrakten Rede vom Menschen dennoch nur über Gott gesprochen werden. Denn, so heißt es wenig später: »Wenn Pontius Pilatus auf den gefolterten und verspotteten Jesus zeigte und sprach: ›Seht, da ist der Mensch‹, dann [...] zeigte [er] auf den Gott, an den wir Christen glauben, einen Gott, der mit den Menschen leidet.« Dennoch sei das Leitwort auch eines, »das Position bezieht«, denn »es lenkt den Blick auf die Leidenden, Benachteiligten, Verfolgten, auf die Schwachen in unserer Welt.« Nicht das Position- oder Stellung-Beziehen für und an Seiten der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist damit gemeint, sondern der zu ihnen gerichtete barmherzige Blick. Selig aber »sind die Barmherzigen«, heißt es schon im Matthäus-Evangelium, »denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.«(1) In Zeiten einer herbeiprovozierten Flüchtlingskrise mögen die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit sogar modern anmuten, und sie sind es in einem negativen Sinne auch. Adorno äußerte bereits Ende der 50er Jahre den Verdacht, dass heute »nicht die Wahrheit oder Authentizität der Offenbarung entscheidet, sondern das Bedürfnis nach Orientierung, der Rückhalt am festen Vorgegebenen; auch die Hoffnung, man könne durch den Entschluss der entzauberten Welt jenen Sinn einhauchen, unter dessen Abwesenheit man so lange leidet, wie man als bloßer Zuschauer aufs Sinnlose hinstarrt.« Dies gehe einher mit einem »Obskurantismus, der viel bösartiger ist als alle beschränkte Orthodoxie von dazumal, weil er sich selbst nicht ganz glaubt.« Marx forderte dagegen mehr als einhundert Jahre zuvor die »positive Aufhebung der Religion.« Nicht das religiös induzierte gemeinsame Leiden, sondern »die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« So aber lässt sich der bisher teuerste Katholikentag (veranschlagte Gesamtkosten 9,9 Mio.) seine Missionierungsveranstaltung im Namen der Armen von der fünftärmsten Stadtbevölkerung Deutschlands (Anteil der Katholik/innen: 4,4%) mit 1 Mio. Euro kofinanzieren (weitere 3 Mio. wurden beim Land, eine halbe Mio. beim Bund beantragt). Oberbürgermeister Burkhard Jung bewies »Großmut« und erklärte Toleranz fange »hier an - Toleranz gegenüber einer Konfession, die in Leipzig klar in der Minderheit ist.« Die fiskalische Schmerzgrenze scheint damit längst nicht erreicht: Im kommenden Jahr fördert die Stadt Leipzig auch den kleinen evangelischen Kirchentag auf dem Weg mit knapp 1 Mio. Euro (Anteil der Protestant/innen im »Kernland der Reformation« (OB Jung): 11,8%).
Dabei meint es auch Papst Franziskus gut mit seinen hiesigen Schäfchen. Der neue Bischof des den Katholikentag ausrichtenden Bischoftums Dresden-Meißen, der Münsteraner Weihbischof Heinrich Timmerevers, sei, wie Diözesanadministrator Andreas Kutschke zu dessen Ernennung meinte, »ein hervorragender Hirte für unser Bistum«. Zwar sei der Wechsel »in die ostdeutsche Diaspora [...] ein großer Schritt«, lässt sich der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Reinhard Marx zitieren, doch schien »der in aller Regel angeratene theologische Doktortitel [...] diesmal nicht so wichtig zu sein wie die bischöfliche Erfahrung und das mit dem Amt verbundene Durchsetzungsvermögen«, sekundierten die zum erzkatholischen Münsteraner Medienmonopol gehörenden Westfälische Nachrichten. Die Erfahrung und das Durchsetzungsvermögen dürften sich darauf beziehen, dass Timmerevers' zur katholischen Hochburg Vechta gehörende bisherige Weihbischofsregion bereits so etwas wie die Diaspora im protestantischen Niedersachsen war.
Aus einer Bauernfamilie stammend, könne er mit Zahlen umgehen, verkündete der neue Hirte bei seiner Ernennung, und gab prompt ein Beispiel: »Das Bistum Dresden-Meißen hat eine Fläche von 16.934 Quadratkilometern. Das Bistum Münster hat eine Fläche von 15.934 Quadratkilometern. Also Dresden-Meißen ist von der Fläche her größer.« (Die Anzahl der darauf weidenden Schäfchen umfasst hingegen mit 141.000 wenig mehr als die Hälfte seiner bisherigen Bistumsregion.) Doch bei dem von Timmerevers vorgebrachten Rechenexempel stellen sich mitunter zwei Fragen: erstens, weshalb er diese Angaben spontan so präzise nennen konnte, und zweitens, warum sie dennoch falsch sind.
Die Antwort findet sich im Finanz-Skandal des ehemaligen Limburger Bischofs Tebartz-van Elst, der nach dem Eingeständnis des weitverbreiteten Kindesmissbrauchs erneut zur Verdopplung der Kirchenaustritte in einigen Bistümern geführt hatte. Das Bistum Münster reagierte wie andere und gab im Namen der Transparenz das Vermögen des eigenen Bischöflichen Stuhls an: 2,37 Mio. Euro. »Daneben«, hieß es weiter, »ist der Bischöfliche Stuhl auch Eigentümer von Immobilien. Hierbei handelt es sich aber nicht um Immobilien, die als Geldanlage gesehen werden könnten. Vielmehr« - da kann sich jeder Kapitalist in Sachen Einfallsreichtum noch etwas abschneiden - »befinden sich darauf Gebäude, die für dienstliche Zwecke des Bistums verwendet werden […]. Es handelt sich hier deshalb nicht um Vermögen, über das der Bischof oder ein anderer frei verfügen könnte.« Auf Nachfrage des Spiegel bezifferte das Bistum den Umfang 2013 auf 38 Immobilien mit einer Gesamtnutzungsfläche von 17.322 km². »Insgesamt«, hieß es weiter, »nennt der Bischöfliche Stuhl 163 Grundstücke sein Eigen, vorrangig Land- und Waldgebiete. Sie erstrecken sich über 3,1 Millionen Quadratmeter: eine Fläche, die mehr als siebenmal so groß ist wie der Vatikan.« Hinzu kommt eine knapp elfprozentige Beteiligung am kircheneigenen Investmentunternehmen Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft mbH und deren Tochter – da steht es unglücklicherweise doch im Namen – Aachener Grundvermögen Kapitalverwaltungsgesellschaft. Deren Geschäftsführer Frank Wetzel bescheinigte lächelnd, dass man »sehr sorgfältig« bei der Auswahl vorgehe und »nur in besten Lagen mit sicherer Wertentwicklung« kaufe – mit Erfolg: In den vergangenen zehn Jahren konnte sie ihren Vermögenswert auf 5,7 Mio. Euro mehr als verdreifachen. Der Stadtrat von Münster tat deshalb gut daran, die beantragten 1,2 Mio. Euro Förderung für den nächsten Katholikentag 2018 abzulehnen. Das zu den wohlhabendsten Städten Deutschlands gehörende Münster, in der jede/r zweite Bürger/in katholischen Glaubens ist, hatte die Entscheidung übrigens mit Verweis auf die eigene Kassenlage getroffen.
Der Münsteraner Bischof Felix Genn, dem die Westfälischen Nachrichten ein »gewichtiges Wörtchen« bei der Personalentscheidung des Bistums Dresden-Meißen zuschreiben, gibt Timmerevers, der ihm »ganz persönlich immer ein wertvoller, hoch geschätzter Wegbegleiter« gewesen sei, nur schweren Herzens ab. Doch die Stelle war durch den Wechsel des bisherigen Bischofs Heiner Koch nach Berlin vakant und wenn man als »römischer Personalplaner […] seinen Einfluss geltend machen« kann, kann man dies manchmal eben auch nur, weil man muss.(2)
Timmerevers, ein »Seelsorger aus Liebe zu Gott und den Menschen«, vergisst jedoch gelegentlich die Menschen. Zu seinem Neujahrsempfang kamen 2013 1.500 Demonstrant/innen, darunter 700 Mitarbeiter/innen von vier schließungsbedrohten katholischen Krankenhäusern, um gegen den mangelnden Einsatz des Weihbischofs zur Rettung des Klinikverbunds zu protestieren. Doch auf die Anrufung durch Buh-und Zwischenrufe (»Großfürst Heinrich berichte!«) folgte die Offenbarung: Seht, da sind die Lohnabhängigen. Fortan sammelte der Weihbischof des Bistums, das laut Generalvikar Norbert Kleyboldt »kein großes Geldvermögen« besitze, eifrig Spenden für Geflüchtete und Kinder in Not. Wegen des nicht abreißenden »Flüchtlingsstroms« ging Timmerevers sogar zu »unkonventionellen« Entscheidungen über und kündigte die Aufstockung der Caritas-Betreuer/innen an, ohne auf den Beschluss des Kirchensteuerrats, der bistumseigenen Haushalts- und Finanzabteilung, zu warten. Immerhin, das ist in der Region seines neuen Bistums nicht ganz unwichtig, gehörte er bereits 2008 zu den Mitbegründern des katholischen Würdenträger-Projekts gegen Rechtsextremismus und kritisierte auch öffentlich die rassistische Hetze führender CSU-Politiker. Das könnte ihn – zumindest potenziell – hin und wieder in Gegensatz zur sächsischen Landesregierung bringen.
Und dann schielt ihr mal wieder auf meine Hand,
und ich soll mit euch gehen.
Was ihr wirklich glaubt, was ihr wirklich denkt,
haben wir in Zwickau gesehen.
(NinaMarie - Der Fucking Kommandeur)
In seinem Grußwort zum Katholikentag beklagt Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU), es sei angesichts des »Elends vor Europas Toren« eine schwere Frage, wie »wir Humanität und Ordnung in guter Balance« - beides wird als existent unterstellt - halten können. Die Antwort hat er längst gegeben: Indem man die Elenden vor Europas Toren aussperrt oder schnellstmöglich wieder dahin befördert und den herrschenden Status Quo durch die Bekämpfung abweichender Elemente bewahrt. Bei der Präsentation des Jahresberichts des sächsischen Inlandsgeheimdienstes hob Ulbig hervor, dass »insbesondere die Asyldebatte eine starke Antriebskraft für links- und [sic!] rechtsextremistische Bestrebungen« geboten habe. Dabei ist der Anstieg als rechtsextrem anerkannter Straftaten am höchsten (+30% bzw. in der polizeilichen Kriminalstatistik +39%). Neonazistische Gewalt wurde landesweit registriert; »es gibt fast keinen Flecken, der ausgespart wird.« Das spiegelt sich auch in dem geheimdienstlich ermittelten Personenpotenzial wider, das mit 2.700 (+8%) fast das 3,5-fache des linksextremistischen bemisst. Für die Stadt Leipzig stellt der Innenminister jedoch ein unbefriedigendes Ungleichgewicht fest: »Jede achte rechtsextremistische Straftat wird in Leipzig begangen, dagegen ist es im linksextremistischen Bereich bereits nahezu jede zweite Straftat.« (45% (439), bei Gewalttaten sind es sogar fast 2/3 (180))(3). Die Stadt des indymedia-prämierten »Randalemeisters 2015« entwickelte sich damit - »mit quantitativem und qualitativem Abstand – neben Berlin und Hamburg auch bundesweit zu einem [...] Schwerpunkt linksextremistischer Gewalt.« Das stört den Staat umso mehr, als die von ihm als solche registrierten Gewalttaten gegen Polizeibeamte von links im letzten Jahr landesweit verdoppelt und auch die Angriffe auf staatliche und privatkapitalistische Einrichtungen zugenommen haben. Innenminister Ulbig will im Kampf gegen die Linksextremisten neben »Polizei und Repression« auch auf »neue soziale« und »städtebauliche Ansätze« zurückgreifen: »Man muss ganz allmählich dafür sorgen, dass bestimmte Stadtteile sich verändern, nicht abgeschottet existieren können.« Er nimmt damit Bezug auf eine Faktorenanalyse des Jahresberichts, die zu dem Schluss gelangt: »Große Teile der autonomen Szene haben sich in ausgesprochenen Szenevierteln fest etabliert. Dort befinden sich die für ihre Aktionen wichtige Logistik und Rückzugsräume.« Ulbigs Ankündigung mag zunächst an das Quartiersmanagement-Konzept der AG Stadtteilentwicklung Connewitz erinnern, die vor wenigen Jahren die militanten Anti-Gentrifizierungskämpfe in Connewitz befrieden sollte, meint jedoch Weitergehendes. Ging es damals vornehmlich darum, die kapitalistische Aufwertung des Stadtviertels unter Erhalt eines alternativen Wohlfühlflairs abzusichern, sollen diesmal die stadtteilübergreifenden widerständischen Strukturen durch Aufwertung und stadtplanerische Umgestaltung erodieren. Auch diese Idee ist nicht ganz neu und wurde erst zu Beginn des Jahres im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen rund um den zum polizeilichen Gefahrengebiet erklärten linksalternativen Berliner Stadtteil Friedrichshain explizit formuliert. »Die Ermittler«, schrieb damals die Berliner Zeitung, »hoffen dabei auch auf die Verdrängung der Autonomen aus den Kiezen durch steigende Mieten. Und so in Verbindung mit Druck ›ein Klima zu schaffen, in dem die Linken von alleine gehen‹, heißt es aus Polizeikreisen.«
Gegen die rassistischen Mobilisierungen fällt Sachsens Innenminister hingegen nur der Appell zur Selbstbesinnung des Einzelnen ein. Hatte er bereits angesichts des rechten Mobs in Clausnitz auf den »gesellschaftlichen Diskurs, will mal sagen, über den Gartenzaun« [sic!] gesetzt, so soll auch diesmal ein jede/r für sich die Augen offenhalten und »genau hinschauen, hinter wem er da mitläuft und für« oder besser: gegen »wen er sich einsetzt.« Hätten vor einem Jahr noch fast ausschließlich Neonazis »unter der Flagge des Asylprotests« agiert, so sei »inzwischen« - sagt's, als wäre er nie nach Schneeberg geeilt! - »die Lage schon so weit fortgeschritten, dass Rechtsextremisten die Demonstrationen ganz offen anführen. Trotzdem gehen viele Leute hin.« Dennoch besteht laut dem Inlandsgeheimdienst keine unmittelbare Gefahr, denn »eine erfolgreiche Einflussnahme von Rechtsextremisten auf GIDA-Veranstaltungen konnte nicht festgestellt werden. Spätestens mit Ende des Sommers 2015 konnten alle rechtsextremistischen Einflussnahmeversuche auf GIDA-Bewegungen als gescheitert betrachtet werden.«(4) »Bisher führten«, so will der Bericht uns glauben lassen, »politische Radikalisierungsprozesse vor allem zur Aufspaltung von asylkritischen Organisatorengruppen.« Dies spreche dafür, »dass die Abgrenzung zwischen bürgerlichem und offen [!] extremistischem asylbezogenen Protest nach wie vor überwiegend besteht.« Wir lernen also: die Aussage der Behörde im April 2015, dass sich Pegida infolge einer Spaltung der Organisator/innengruppe radikalisiert habe, war falsch: In der politischen Nebelwelt des Geheimdienstes hat sich Lutz Bachmann bei der bundesweit größten rechten Sammlungsbewegung herausradikalisiert und Katrin Oertel das Ruder überlassen. Vermutlich stellte deshalb Pegida tatsächlich »im Berichtsjahr kein Beobachtungsobjekt des Bundesamtes für Verfassungsschutz oder des Landesamtes für Verfassungsschutz Sachsen dar«.
Die Abgrenzung von rechtsextremistischen Einflussnahmeversuchen gilt als »eine permanente Herausforderung« für Asylkritiker/innen (LfV: »die demokratische Zivilgesellschaft«). Um der fortlaufenden »ideologischen und organisatorischen Instrumentalisierung« entgegenzuwirken, sieht der Geheimdienst Organisator/innen »asylkritischer Veranstaltungen in der Verantwortung, klare Grenzen zu Verfassungsfeinden zu ziehen. Insbesondere darf deren Vokabular [sic!] nicht Teil des asylkritischen Protests werden.« Diese auf der Sprachebene funktionierende, die inhaltliche Dimension völlig ausblendende Arbeitsweise ist ihm selbst nicht fremd. So hat er beispielsweise im vergangenen Jahr in Leipzig lediglich vier »asylfeindliche« öffentliche Veranstaltungen registriert. Wie kommt das? Zur »Abgrenzung von extremistischen und nichtextremistischen Veranstaltungen und Aktivitäten mit Asylbezug verwendet das LfV Sachsen« eine eigene, trennscharfe Sprachregelung: Als »asylkritisch« gilt ihm eine Veranstaltung, wenn sie »asylbezogen«, aber »nichtextremistisch« ist. »Eine Veranstaltung bleibt auch dann asylkritisch,« heißt es erläuternd, »wenn Rechtsextremisten daran teilnehmen, aber weder Organisation noch der Gesamtcharakter der Veranstaltung als rechtsextremistisch einzuschätzen sind.« Sie werden immerhin als »asylkritisch« statistisch erfasst, wenn Rechtsextremist/innen dort »in relevantem Maße in Erscheinung treten. Dies kann etwa durch einen rechtsextremistischen Redner oder auch eine Mitwirkung von einzelnen Rechtsextremisten an der Durchführung der Veranstaltung geschehen.« Sollte die Anzahl rechtsextremer Teilnehmer/innen hingegen überwiegen, ist die Veranstaltung »asylfeindlich«.(5)
Wir kennen diese Art, den Charakter einer Veranstaltung nach der Klassifikation seiner Teilnehmer/innen zu beurteilen, bereits von Sitzblockaden.³ Nur scheint dies aktionsungebunden für den »Phänomenbereich Linksextremismus« nicht gleichermaßen zu gelten. Selbst das zivilgesellschaftlich geadelte Aktionsnetzwerk Leipzig nimmt Platz! (letztjährig ausgezeichnet mit dem SPD-geförderten Gustav-Heinemann-Bürgerpreis), dem der sächsische Geheimdienst bisher keine Beteiligung von Linksextremisten nachgewiesen hat (und das im Jahresbericht nicht einmal erwähnt wird), konnte durch die Lageeinschätzung im Vorfeld einer Gegendemonstration von der geheimdienstlichen Beobachtung einzelner Gruppen und Personen erfahren. Die Sprecherin des Netzwerks Irena Rudolph-Kokot entdeckte zudem, dass im Jahresbericht bei einem Überfall von Neonazis auf Gegendemonstrant/innen Täter zu Opfern erklärt wurden, um den Vorfall dann als Beispiel linksextremistischer Gewalt zu präsentieren.
Hintergrund ist dabei die vom Geheimdienst ausgemachte Gefahr, dass Linksextremisten durch eine »Instrumentalisierung der Asylthematik« »Koalitionen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren« eingehen, die dazu führen, »dass linksextremistische Positionen zu diesem Thema« - »staatliches Handeln in Frage zu stellen und anzuklagen und so das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat zu schwächen« - »zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz finden.« Zwar stellen »die bereits zu beobachtenden Fälle von Zusammenarbeit zwischen Rechtsextremisten und nichtextremistischen asylkritischen Gruppen und Initiativen [...] in sich auch eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung insgesamt dar«, da hier die »Chance« besteht, »den demokratischen Konsens gegen Rechtsextremismus in Teilen erodieren zu lassen.« »Positiv ist« allerdings, »dass sich […] das bisherige Scheitern von Rechtsextremisten zeigt, asylkritischen Protest flächendeckend in asylfeindliche Aktivitäten umzuwandeln.« Stattdessen, wir hatten es bereits erwähnt, hätten politische Radikalisierungsprozesse »bisher [...] vor allem zur Aufspaltung von asylkritischen Organisatorengruppen« geführt, woraufhin sich »auch radikalere Strukturen gebildet« haben, »die die Grenze zum Rechtsextremismus überschritten haben.« Wie »positiv« diese Entwicklung ist, hatte der Geheimdienst in einem seiner wenigen klaren Momente eine Seite zuvor geschildert: »Die hier beschriebenen Entwicklungslinien werden sich fortsetzen und vor allem in Abhängigkeit der Entwicklung der Asylthematik auch weiter verschärfen können.[(6)] Unabhängig davon [!] werden die innerhalb der rechtsextremistischen Szene neu entstandenen Gruppierungen ihre Politisierungs- und Radikalisierungsprozesse fortsetzen. Auch unterhalb des Niveaus verfestigter [!] rechtsterroristischer Bestrebungen ist daher fortgesetzt mit einer hohen Gewaltbereitschaft gegen Asylbewerber und deren Einrichtungen zu rechnen.« Und weiter: »Das regelmäßige gemeinsame Agieren im Rahmen von asylfeindlichen und asylkritischen Veranstaltungen hat [...] zur Etablierung neuer Kontakte, Kennverhältnisse und Personennetzwerke geführt. Aus diesen regelmäßigen Kontakten heraus bildeten sich mittlerweile neue Gruppenstrukturen. Diese sind stark asylfeindlich eingestellt und verfügen über ein Binnenklima, das geeignet ist, Radikalisierungsprozesse zu befördern und zu beschleunigen. Es waren diese ausgebauten persönlichen Kontakte, die die Aktionsfähigkeit der rechtsextremistischen Szene erhöhten und die voraussehbar auch Bestand haben dürften [!], wenn die Asylthematik wieder in den Hintergrund tritt.« Biedermeier und Brandstifter. Diese beiden Einschätzungen, die bisher in keinem Presse-Artikel über den Jahresbericht auftauchten, sollte man im Hinterkopf behalten für den Zeitpunkt, wenn wieder niemand etwas gewusst und geahnt haben will. »Positiv ist« in den Augen des sächsischen Geheimdienstes, wenn die Biedermeier ihrem Rassismus »nach wie vor überwiegend« fdGo-konform frönen und in deren Mitte Neonazi-Gruppen wie Pilze aus dem Boden schießen, die (noch) »unterhalb des Niveaus verfestigter rechtsterroristischer Bestrebungen [...] eine hohe Gewaltbereitschaft« an den Tag legen.