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Aktuelles Heft

INHALT #232

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Editorial
• das erste: Ästhetik des Eigensinns – Goth zwischen bürgerlichem Befreiungsideal und Duldung der Barbarei
"Yo, Fatoni" - Tour 2016
The Hotelier + Support
Rotten Sound | Abigail Williams | Cult Leader
Nonkeen / Andrea Belfi
Mine - "Das Ziel ist im Weg" Tour 2016
TRAPPED UNDER ICE, NO TURNING BACK, STRENGTH APPROACH, WORLD EATER, REDEMPTION DENIED
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Ästhetik des Eigensinns – Goth zwischen bürgerlichem Befreiungsideal und Duldung der Barbarei

I.

Design und Ästhetik ist in der Schwarzen Szene immer schon ein besonderer Stellenwert und hohe Bedeutung beigemessen worden. Das hat verschiedene Gründe, von denen einzelne in diesem Artikel angedeutet werden sollen, es hat aber vor allem ganz konkrete Konsequenzen, etwa für die szeneübliche Präsentation und Bearbeitung des Selbst und der eigenen Lebenswelt.
Die Tickets des Wave-Gotik-Treffens in Leipzig, des größten Events dieser Szene, haben entsprechend ein aufwändiges und symbolisch aufgeladenes Design. Als 2004 diese Tickets(1) als zentrales Symbol eine schwarze Sonne(2) trugen, war es also keineswegs unbegründet, dass diese Entscheidung sowohl in als auch außerhalb der Szene entsprechend ernst genommen wurde und Akteure der organisierten Linken gegenüber der Szene eine Positionierung einforderten.
Die Unbekümmertheit, mit der rechte Symbole und Inhalte in der Schwarzen Szene verwendet werden können, belegten nicht zuletzt die hierdurch kaum zurückgehenden Besucher*innenzahlen der Veranstaltung. Anstatt die Veranstalter*innen und die von ihnen verwendete nationalsozialistische Symbolik zu kritisieren, stieß die öffentliche Auseinandersetzung bei vielen Besucher*innen auf Unverständnis oder Ablehnung. Nur wenige Bands bzw. Künstler*innen, wie ASP und Das Ich (die dieses Jahr jedoch wieder auftreten werden), und Szenemitglieder protestieren, bleiben fern, äußern sich öffentlich gegen rechte Inhalte in der Szene. „Gruftis gegen Rechts“(3), die sich zu diesem Zeitpunkt zusammenfanden, stellten als offen politische Organisierung eine marginale Minderheit der Szene dar.
Für die politische Außenwahrnehmung der Schwarzen Szene durch die Linke hatten diese und weitere Ereignisse, wie die Auseinandersetzungen zwischen Antifas und Szenemitgliedern auf dem WGT 2007 sowie das Ausscheiden des Werk 2 aus den klassischen WGT- Locations 2014 aufgrund des Unwillens der neuen Veranstalter*innen des WGT auf politisch eindeutig problematische Bands zu verzichten, entsprechende Folgen: Wo Ende der 90er noch Subgenres wie der Neofolk im Zentrum kritischer Beobachtung standen, schien sich zunehmend die Szene als Ganze nicht nur als anti-politisch, sondern als offen regressiv zu entfalten.
Gerade für Linksradikale in Leipzig ist dies von besonderer Bedeutung, fand das erste WGT 1992 doch im Conne Island statt und etablierte so Leipzig als Hochburg der Schwarzen Szene. Entsprechend legt sich die Frage nahe, wie sehr schon 1992 die regressiven Züge in der Schwarzen Szene hätten identifiziert werden können oder ob in diesem Punkt doch ein substanzieller Wandel in den letzten 20 Jahren aufzuweisen ist, der zu einem späteren „Rechtsruck“ im Goth führte. Damit einher geht die Frage, wie diese Vereindeutigung regressiver Tendenzen zutreffend zu begreifen ist. Ob es sich um mehrheitliche Duldung, um Konfliktvermeidung, um Ignoranz oder sogar um aktive Bejahung durch die Szene handelt, soll in diesem Artikel in Verbindung mit der ersten Frage beantwortet werden. Selbstverständnis und Ideologie der Subkultur, der deutschen Szene im Speziellen, sollen hierzu aus der ästhetischen und historischen Entwicklung der Szene abgeleitet werden. Dabei spielen die Momente der unterschiedlichen Prägung in Ost- und West-Deutschland der 80er Jahre und der Wende eine wichtige Rolle.


II.

Goth als eigene Subkultur beginnt ihre Entwicklung in Großbritannien und anderen Teilen Westeuropas in den späten 70er und frühen 80er Jahren. Dabei lässt sich die Entwicklung aus zwei verschiedenen Richtungen beschreiben. Einerseits als Bewegung aus dem Punk heraus, namentlich dem Post-Punk im wortwörtlichen Sinne, und andererseits als Bewegung gegen die moderne Gesellschaft und Massenkultur, die sich mit der Entwicklung des Mitte der 70er entstehenden Industrial verbinden. Damit wird für den Goth identitätsbildende Distanz zum aggressiv- rebellischen Punk, als auch – gemeinsam mit dem Punk – zur Mehrheitsgesellschaft, die mit Repression, Kommerzialisierung, Vermassung und Entfremdung identifiziert wird, entscheidend.
Die Distanz zum Punk begründet sich dabei mit der Problematisierung von Aggression und Antiintellektualismus. Punk erscheint den Goths als stumpf und dumm, sowohl in seiner Ästhetik, dem Klang als auch dem Auftreten der Punks selbst. Dagegen entwickelt sich im Goth ein Selbstbild und der soziale Anspruch auf Reflexion und respektvollen Austausch bis hin zur Meidung offener Konflikte, das aus dem Konzept bürgerlicher Bildung abgeleitet wird und das auch immer wieder in Selbstinszenierung und Motivarbeit in Songs, Bandkonzepten, Zitationen usw. entfaltet wird. Songtexte beruhen dementsprechend etwa auf Literaturanspielungen und thematisieren Liebe als Mangel und sehnsüchtige Ohnmacht anstatt die aktive Eroberung eines Liebesobjekts, das tagtägliche Einklauen oder die Stammkneipe nebenan.
Das Bedürfnis, das in dieser Distanzierung vom Punk zum Ausdruck kommt, ist, dass von anderen keine Bedrohung für die*den Einzelnen ausgehen soll, insbesondere nicht, wenn sie*er von den Anderen abweicht. Ohne Angst nicht mit anderen übereinzustimmen (oder dies zu müssen) ist dabei der emanzipatorische Kern des Toleranzideals des Goth. Die Vergesellschaftung in der Szene soll, so das Postulat, nicht darauf beruhen, sich einig oder gar gleich zu sein, sondern auf einem geteilten Verhaltenskodex; die Ästhetik der Anderen wird nicht notwendig affirmiert, aber man lässt ihr ihren Raum.
Das Toleranzideal ist damit als anti-konfliktäres Ideal zu beschreiben: Es geht darum, einander „in Ruhe“ zu lassen und niemandem eine Auseinandersetzung aufzunötigen. Pogo liegt hinter einem und der Platz auf der Tanzfläche, für den eigenen Ausdruck, wird jeder und jedem Einzelnen gelassen.
Die Konsequenz eines solchen Kodex ist, dass jegliche Konfrontation, die nicht beidseitig als Austausch gewünscht wird, als Angriff und potentielles Fehlverhalten erscheint. Wer anderen eine politische Debatte über ihre Ästhetik aufnötigt, wird innerhalb der Szene mindestens mit Verachtung oder gar einem inneren Ausschluss aus der Gemeinschaft gestraft. Nicht zuletzt hier hat auch das Klischee des arroganten Goth seine Wurzeln, wo die Umwendung des Antiintellektualismus, die Affirmation der eigenen Bildung, sich mit einem abwehrend-ignorierenden Umgang mit konfrontativer Kritik verbindet.
Zugleich behält Goth zentrale Elemente des Punk bei, nicht nur in den dem Punk auch optisch nahen Genres des Death-Rock oder Batcave. Die Distanz zur Mehrheitsgesellschaft und die Kritik der in ihr auffindbaren Phänomene von Entindividualisierung und Entfremdung bilden ein zentrales Merkmal des Goth. Motive, die die Schwarze Szene zugleich – auf der musikalisch elektronisch-experimentellen Seite der Subkultur – mit dem Industrial verbinden. Die kritische Auseinandersetzung mit der Moderne, etwa durch Überaffirmation und Verschiebung, wird aus dem Industrial übernommen und zu einem Grundbestandteil der Ästhetik des Goth.
Diese kritische Auseinandersetzung ist aber – ebenso wie oft im Punk, letztendlich aber auch in der Mehrheitsgesellschaft – durch undifferenzierte Negation der gesellschaftlichen Bedingungen, und damit einem undifferenzierten Konzept der (kapitalistischen) Gesellschaft selbst, dominiert. Die Moderne als Ganze wird als Problem identifiziert und die Mehrheitsgesellschaft wird (zugespitzt formuliert) als Ansammlung von gehirngewaschenen, zwangsoptimistischen Mitläufer*innen verstanden. Gegen die sehr bunte Repräsentation der Wirklichkeit in den Medien der 80er und 90er setzt Goth daher eine Ästhetik der Negativität, von Pessimismus, Nachdenklichkeit und Dunkelheit, als Ausdruck der eigenen Individualität und der intellektuellen und emotionalen Autonomie. Während der Punk auf die emotionale Verflachung und Anpassung der Individuen, auf Subjekt und Herrschaft, fokussiert, steht im Industrial die Kulturindustrie als Industrie im Zentrum. Dadurch wird – und das übernimmt der Goth – die Verschleierung der alltäglichen gesellschaftlichen Gewalt, die gesellschaftliche Verdrängung von Triebregungen und die intellektuelle Verflachung als Komplex zum Gegenstand der Kritik. Wird dieser Komplex im frühen Industrial ausschließlich negativ kritisiert, indem er sicht- und spürbar gemacht wird, findet im Goth eine positive Wendung dieser negatorischen Kritik statt: Die Autonomie des Individuums gegen diese gesellschaftlichen Verhältnisse wird als möglich dargestellt. Anders als im Punk, wo diese Autonomie als aktive, aggressive Abwehr der Welt entworfen wird, zeigt das Bild der Individualität im Goth dabei den Versuch, im Rückzug von der Welt die eigene intellektuelle und emotionale Unabhängigkeit durch die positive, wenn nicht bemüht konstruktive Etablierung der eigenen Außenseiterposition und Identität zu erhalten. Motive und Themen für diese Rückzugsbewegung liefert hierbei die Romantik, an deren Modernekritik vielfach angeschlossen wird.
Für den Westen galt damit, dass Goth sich gegen Punk und Mehrheitsgesellschaft gleichermaßen stellte, da aus der Tradition des Punk heraus eben auch der Punk zu kritisieren war: Punkoptik und -sound vereinheitlichten sich mit der Etablierung des Genres zunehmend und präsentierten neben der Aggressivität zugleich eine uniforme Oberfläche, die ebenso berechenbar wie die Ästhetik der Mehrheitsgesellschaft wurde und so deren Identitätszwang bloß noch spiegelte.
Im besten Sinne kann diese Kritik als Affirmation der Vielfältigkeit des oppositionellen Ausdrucks verstanden werden; einer Vielfalt, die eben nicht über ihre Mittel, sondern über ihre Kritik verbunden wäre. Individualität, die zugleich auf gemeinsamen Voraussetzungen, wie der Aufwertung von Originalität und Toleranz, beruht, ist damit ein verbindendes Moment der Schwarzen Szene und erklärt wesentlich ihre komplexe ästhetische Subdifferenzierung und Kompatibilität für neue und andere Ästhetiken.
Wichtige positive Verbindung zwischen den Unterformen des Goth ist dabei, dass die Farbe Schwarz, die als Thema die Betonung des Tiefen, Ernsten, Anti-Oberflächlichen und Abgründigen, als klassische Gegenstück zum ‚pseudo-bunten‘ und fröhlichen Medienwelt dient. Dabei kann auch durchaus Farbe am*an dem*der Einzelnen zu finden sein, „schwarz“ ist ein ideelles Konzept, dass innerhalb der Szene über Farbigkeit hinausgeht.
Neben der Ablehnung von Aggressivität bildet somit auch die Affirmation von individueller Vielfältigkeit ein Motiv zur Ablehnung der aggressiven Durchsetzung der eigenen Ästhetik oder der eigenen Ideale. Ausdruck anzuerkennen und zu schützen wird eben zum verbindenden Element der „Ausgestoßenen“. Damit erweitert sich das Toleranzideal im Goth von der Idee der gewaltfreien Koexistenz hin zu einem Ideal des Schutzes des Unvereinnahmten, Kreativen und Eigenständigen des Individuums. Die Abweichung vom Gegenwärtigen bekommt somit in der Szene einen Eigenwert.
Doch durch die positive Umwendung der unbestimmten Negation der Moderne erscheint die Abweichung nicht als Produkt eben dieser Moderne, als Form der bestimmten Negation, die selbst noch die Beschädigungen der Moderne mitträgt, sondern als bloßes Anderes der Moderne. Dieses Andere wird im Goth als Identität affirmiert und kann zu einer wesenhaften Andersartigkeit verklärt werden. Die Formen der Negation, die verdrängten Inhalte der Moderne selbst, werden damit zum affimierten, guten Gegenteil der Moderne und sind so einer spezifischen (Selbst-)Kritik entzogen.
Die Motivwahl ist aufgrund des negativen Ausgangspunkts dabei relativ offen. Ob es sich um eine Begeisterung für Esoterik, Mystik und Hexerei, um die Thematisierung und Auseinandersetzung mit Sterben und Tod oder um deviante Formen von Sexualität handelt, ist weitgehend unerheblich. Wichtig ist dabei, dass der Inhalt durch die Person als gesellschaftlich verdrängt, also als Grundlage für die eigene Entfremdung und Fremdheit oder als tabuisiert, identifiziert wird.
Dabei führt die Modernekritik als negative und zugleich nicht differenzierte Positionierung zu einer sehr pluralen Möglichkeit sich auf das (imaginierte) Nicht-Heute zu beziehen. Die historischen Phasen, die ästhetisch in Subgenres der Schwarzen Szene einfließen, vereinen so wieder Steampunk-Nerdism und Ikonographie der Romantik, Mittelalterhippies und das Plastik des Cyberpunk.
In der Umwendung der eigenen Negativität sind die vielschichtigen Interpretationsmöglichkeiten strukturell bedingt, nicht nur in der Frage nach den negativen Bildern des eigenen Ausdrucks. Die Kritik am Punk und das Toleranzideal idealisieren dabei ein Individuum, das sich Bildung, Wissen und eine leidenschaftliche, nicht-pragmatische Vertiefung in Themenfelder, also eine spezifische Form des Nerdism, zueigen gemacht hat. Der Inhalt ist gegenüber der ernsthaften Auseinandersetzung selbst zweitrangig, solang er als oppositionell zur dominanten Moderne gelesen werden kann. Expertise für und Vertiefung in Edgar Allen Poe, die SA oder BDSM können gleichermaßen Gegenstand werden.


III.

Die Grundlagen des Goth, die sich bis heute erhielten, waren hier in ihrer westlichen Variante erläutert. Ende der 80er, Anfang der 90er nimmt die Bedeutung der Subkultur im Westen insgesamt ab, doch die Entwicklung der Subkultur in der DDR und ihr Einfluss auf die westdeutsche Szene verändert die Szene nach 1989 deutlich.
Viele wesentliche Inhalte des Goths waren in ihrer ästhetischen Formation des Schwarzromantischen, Morbiden und Befindlichen ebenso in der DDR wie im Westen aufzufinden. Eine bürgerliche, weiche und zugleich zerstörte Ästhetik, Konzepte von Anti-Aggressivität, Anti-Moderne und dem Individualitäts- und Toleranzideal, dass sich gegen eine nivellierende Mehrheitsgesellschaft richtete, waren gleichermaßen Ausdruck der Opposition zur Mehrheitsgesellschaft im West- wie im Ostgoth.
Doch formierten sich diese Ideale im Osten unter anderen gesellschaftspolitischen Vorzeichen. Unter der Perspektive eines öffentlichen Lebens, das umfassend politisch geprägt und beeinflusst wurde, eines – anders als im Westen – immer noch ungebrochenen Fortschrittsglaubens und einer optischen und lebensweltlichen Vereinheitlichung, und dies alles staatlich-autoritär und nicht unmittelbar ökonomisch bedingt, präsentierte sich den Jugendlichen der DDR eine andere Moderne.
Antimoderne bedeutete entsprechend nicht zentral die Kritik von Massenmedien und Konsumismus, die auf Entfremdung verwies, sondern war stärker von eindeutiger Kritik an staatlicher Politik geprägt. Die eigene Modernekritik führte zudem durch den staatlichen öffentlichen Druck auch in Schulen und Universitäten in höherem Maße zu Ausschlusserfahrungen und wurde so zentraler Bestandteil der (negativen) Identität der Szenemitglieder. Verknüpfungen zur Ökobewegung, die eine der wenigen oppositionellen Bewegungen der DDR darstellte, beförderten einen positiven Naturbezug, der sich etwa auch in der Romantik finden ließ; er blieb nach der Wende Anschlusspunkt für hippiesque Mittelalter- und Folklore-Zitationen, die im Goth der 80er noch keinen Sichtbarkeit hatte, aber ab den 90ern zu einem Bestandteil der Szene wurde.
Durch die Politisierung und Repression durch staatliche Organe, unter denen Goths ebenso wie Punks zu leiden hatten, ergab sich in der DDR keine distinkte Abgrenzung zum Punk als uniform oder konform, sondern lediglich in der Kritik des Aggressiven und Offensiven. Damit verblieb, gewissermaßen erzwungen, die Punktästhetik und DIY-Kultur länger Bestandteil des Goth der DDR, aber auch unmittelbar politische, antistaatliche und antiautoritäre Positionen waren ein Effekt der Politisierung durch Repression. Unter den Goths der ehemaligen DDR fanden sich dann durchaus auch Hausbesetzer*innen.
In Folge der politischen Repression war auch die Betonung des Privaten und der Individualität von größerer Dringlichkeit für die Mitglieder der Subkultur. Sie machte Goth in der DDR zu einer zugleich politischeren als auch anti-politischen Bewegung, die sich gegen den staatlichen Zwang zum Politischen und die damit einhergehende Begrenzung auf konforme bzw. unfreie Pseudo-Politik gleichermaßen negativ bezog. Der Rückzug ins Private als Ort der Freiheit blieb durch die eigene abweichende Optik immer unerfüllt und zugleich eine geteilte Alltagserfahrung. Die eigene Ästhetik als Privates zu verteidigen und vor spezifisch politischem Zugriff zu schützen, stellte hier eine sinnvolle Forderung dar. Durch die Identifikation von Gewalt und Uniformität mit Staatsorganen bedeutet eine antipolitische Haltung nicht nur eine stärkere Betonung der individuellen Freiheit, sondern eben auch eine deutlich anti-polizeiliche Haltung. Diese anti-polizeiliche Haltung intensiviert das herausgearbeitete Toleranzideal. Kritik an und in der Szene wird in ihr mit dem abgelehnten Autoritarismus identifiziert, sie erscheint als ästhetische oder politische Szenepolizei und wird als solche abgelehnt.
Mit der Wende trifft so eine schwächelnde Westszene auf eine Szene von Goths, die nicht nur eine notwendige langjährige Erfahrung mit DIY hat, sondern auch den Willen und Wunsch, nun endlich den eigenen Lebensstil aktiv und sichtbar zu entfalten. Mit der Wende entstehen eine ganz neue Welle Magazingründungen, Parties, Festivals, oft beeinflusst von Erfahrungen und Interessen eines Klientels, für das es völlig naheliegend war, auch in Kulturzentren wie dem Conne Island zusammen mit Punks und Hausbesetzer*innen zu feiern. Die bürgerliche Prägung, die in der BRD eine relevante Bedeutung für die Distanz zwischen Goths und Punks hatte, war in der DDR Teil des privaten Fundus und damit weniger bedeutsam für die identitäre Selbstverortung.
Zugleich veränderte sich die Schwarze Szene der „neuen Bundesländer“ selbst durch den Systemwechsel gravierend. Ein wichtiges Phänomen, das in seiner Komplexität hier nur schwer zu erklären sein wird und einen eigene, ausführliche Bearbeitung bedarf, ist das Auftreten von nationalsozialistischen Symbolen und den NS affimierenden Ästhetiken in der Schwarzen Szene, die nicht mehr im Spiel mit Fetisch, Punk und Rock'n'Roll gebrochen, sondern oft auch intellektuell nachvollzogen wurde. Dieses Auftreten verblüfft zunächst, Goths waren ebenso wie Punks von der Gewalt durch Naziskins betroffen, die die polizeiliche Repression teilweise nur zu ergänzen oder Gewalterfahrungen zu verschlimmern schienen. Aspekte, die hierfür zu berücksichtigen wären, sind die Fragen, ob vorhandene rechte Gesinnung nun zum Ausdruck kommen konnte, wo die Naziskins nicht mehr Goths, sondern Ausländer jagten, ob die Symbolwelt des NS zum Ausdruck der radikalen Ablehnung des Systems genutzt wurde, die mit den alten Formen der Ablehnung durch Bekleidung und Frisur in der BRD nicht hinreichend mehr möglich war, und wie die Rolle der akzeptierenden Jugendarbeit in den staatlichen Jugendeinrichtungen nach der Wende zu bewerten ist. Staatliche Jugendarbeit öffnete den Goths erstmals institutionelle Räume, in denen sie ihre Subkultur ausleben konnten, und brachte sie dort zum Teil mit rechten Jugendkulturen zusammen, die sich frei entfalten konnten. Zugleich bietet der moderne, nicht mehr bloß bürgerliche Anti-Modernismus, das idealistische Konzept von Identität selbst und die Affirmation des Irrationalen als ent-entfremdeten Anderen der Moderne als auch die hohe Gewichtung des Ästhetischem in der Selbst- und Weltgestaltung unleugbare Anschlusspunkte des Goths zu regressivem Gedankengut.
Zugleich steht der Toleranzanspruch und Individualität im Goth zwar gegen die Ideologie des NS, erlaubt aber auch jeglichen Import von Symbolen und Gedankengut in die Szene durch das Vehikel des sich selbst ausdrückenden Subjekts. Die Symbolik des Nationalsozialismus und die seiner Ideologie und Ästhetik nahestehenden Genres wie Neofolk und EBM, Bands wie Sonne Hagal, Funker Vogt und Nachtmahr erhielten einen eigenen, heute selten umstrittenen Platz in der Szene, unbesehen, ob die Bildsprache gebrochen, überspitzt oder doch ernst genommen wurde.


IV.

Es ist der ästhetische Selbstausdruck, der sich eben nicht als politische Provokation versteht, jedoch aufgrund der eigenen Fremdheit zur Welt potentiell provoziert, der die Goth-Ästhetiken wesentlich mitprägt. Damit steht dieser Selbstausdruck unter dem Schutz des gemeinsamen Anspruches an eine subkulturelle Welt, in der das eigene Anderssein ohne Angst geschehen kann. Die Aggression, die als solche diesem Anspruch entgegensteht, wird unmittelbar als Vernichtungsversuch und damit als problematisch identifiziert. Aggression und politischer Gestus mit gesellschaftlichem Anspruch werden im modernen, von DDR-Tradierung geprägten, Goth oft negativer bewertet als die anti-systemische Positionierung für sich.
Die hier sehr undifferenziert werdende anti-polizeiliche Haltung als Verhaltenskodex führt im Kontakt mit Konflikten zu einem Verhalten des Ausweichens, soweit keine eigene Betroffenheit identifiziert wird. Man ist lediglich ästhetisch oder politisch abgestoßen. Als austragbarer Konflikt gilt nur jener, der letztendlich keine Konsequenz in sozialen Beziehungen oder eigener Lebensweise einfordert. Mit diesem Ideal der friedlichen Koexistenz zugunsten der eigenen Nicht-Reflexion wird eine konfliktäre Situation zu Ungunsten jener vorstrukturiert, die eben sensibel auf Situationen und Symbole reagieren und nicht in der Lage oder Willens sind, diese stoisch hinzunehmen.
Die Hegemonie und Sichtbarkeit des Regressiven resultiert aus seiner offensiven Ausdeutung als Authentizität, die gegen den scheinbaren Angriff der inhaltlichen Kritik mit dem Argument der verteidigenswerten Vielfalt – die ungeachtet ihrer Inhalte einen Eigenwert hat – immunisiert. Offen politische Positionen mit einem gesellschaftlichen Anspruch bleiben dabei marginalisiert. Hinterrücks zieht so das Recht des Stärkeren ein und negiert einen wichtigen Moment des „ohne Angst Verschieden-seins“.
Goth repräsentiert also zugleich bürgerliche Ideale wie Bildung, Privatheit und Individualität und antibürgerliche Ideen wie Rationalitätskritik und eine Betonung der Befindlichkeit sowie eine antipolitische Haltung. Dabei stehen sich diese beiden Pole in einem romantischen Sinne in Form einer bürgerlichen Antibürgerlichkeit gegenüber, in der zugleich Selbstbeherrschung und Emotionalität, Bewusstes und Unbewusstes einander bedingen. Individualität und Schutz des Privaten sind dabei aufhebenswerte Momente und dieses Zugleich findet seinen konkreten Ausdruck im Goth als einer Szene, in der sich auf Konzerten Schwule neben Nazis küssen können und Frauen in Unterwäsche sich nicht einmal sorgen müssen, auf Parties ungebeten angetanzt zu werden. Gleichzeitig bedingt dieses Gleichgewicht das Potential zum Regress: Es schlägt zugunsten des antibürgerlichen Moments um und die Verantwortung und gesellschaftliche Perspektive auf das eigene Handeln wird in identitärer Harmonie ertränkt, in der die Kritik an Nazibands – und nicht diese Bands selbst – abgewehrt werden. Das Spannungsfeld, das durch das Toleranzideal getragen wird, verliert so die aufhebenswerte Möglichkeit, für einen Moment eben doch angstlos verschieden sein zu können.

von M & P

Anmerkungen

(1) Explizit handelt es sich um die Obsorgekarten also die Zeltplatzkarten des Festivals. Auf der blau-schwarz gehaltenen Karte ist ein (vermutlich menschliches) Auge zu erkennen, dessen Iris Form und Muster einer schwarzen Sonne beinhaltet.

(2) Zwölf in Ringform gefasste, gespiegelte Siegrunen. U.a. durch die SS in die Wewelsburg als Ornament eingebracht. Seit den 1950er als nicht-verbotenes Symbol bei rechten Esoteriker*innen und in der rechtsextremen Szene verwendet, es gab Popularitätsschübe in den 1970ern und 90ern.

(3) Der Protest entwickelt sich nicht zuletzt im zivilgesellschaftlichen Rahmen und dem Versuch Öffentlichkeit zu schaffen. https://www.facebook.com/GruftisgegenRechts

19.04.2016
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