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Aktuelles Heft

INHALT #231

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Editorial
• das erste: Theorien im kritischen Dialog
Schwarze Deutsche im Nationalsozialismus
SPACE BINGO
Madball
Klub: Electric Island / Dixon
Sick of it all
Baroness
Wurzellose Kosmopoliten. Von Luftmenschen, Golems und jüdischer Subkultur.
WORD! cypher / End Of The Weak Leipzig (Open-Mic-Freestyle-Session).
Dabei Geblieben – Aktivist_innen erzählen vom Älterwerden und Weiterkämpfen
Vorsicht Volk!
Die Neuordnung der deutschen Geschichte – Bundesrepublikanische Geschichts- und Gedenkstättenpolitik seit 1990
Hawaiianischer Schnee Tour (Teil 2)
Easter Ska Jam
Record Release Party zur Hannah (EP) von Duktus
TOCOTRONIC - »Pädagogisch Wertlos Tour 2016«
• review-corner event: Sleep In-Review
• position: Antifaschistischer Selbstschutz und die Gewaltfrage
• doku: Jetzt kommt die Nagelprobe
• doku: Sächsische Zustände
• das letzte: Das Letzte
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Theorien im kritischen Dialog

Rezension zu Gaststeiger, Ludwig / Grimm, Marc / Umrath, Barbara (Hg.): Theorie und Kritik – Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen, Bielefeld 2015.

Die linke Debatte wird nicht unbedingt durch den Umstand erschwert, dass es allgemein zu wenig oder zu wenig aufschlussreiche Theorieproduktion gäbe. Problematisch ist zweierlei: Zum einen werden durchaus vorhandene Gräben zwischen Denkschulen von Apologet*innen dieser Schulen durch identitäre Abgrenzung nochmal verstärkt (ein prominentes Beispiel ist die Auseinandersetzung zwischen Post-Strukturalismus und Kritischer Theorie), zum anderen werden existierende Differenzen nicht genügend beachtet. So sind linke Textproduktionen oft bunt zusammengewürfelt bzw. eklektizistisch. Hier werden mal die Methoden der Ideologiekritik der Frankfurter Schule angewendet, dort (oder in einem Atemzug) argumentiert man aus postkolonialer Perspektive – beide sind ja kritisch gegenüber der europäischen Aufklärung.

Derartige Probleme der linken Debatte stehen dabei auch im Zusammenhang der gesamtgesellschaftlichen Theorieproduktion, die vor allem in der Geisteswissenschaft auf den Universitätsbetrieb konzentriert ist. Der »Geist« der Universität wird vor allem deswegen reproduziert, weil die meisten Aktivist*innen Studierende sind und die Nicht-Studierenden in das Akademische hineinziehen. Universitäre Arbeitsweisen, Texte aus Seminaren und die Erkenntnisse der Forschungstätigkeit beeinflussen die politische Arbeit. Es ist daher wichtig diese Voraussetzungen der eigenen Theoriearbeit zu reflektieren.

Der von Ludwig Gasteiger, Marc Grimm und Barbara Umrath herausgegebene Sammelband Theorie und Kritik – Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen setzt sich aus akademischer Perspektive kritisch mit Wissenschaft unter kapitalistischen Voraussetzungen auseinander – vor allem mit der Verständigung zwischen Theorien. Einerseits wird versucht zwischen Theorien zu vermitteln, andererseits Differenzen auszumachen. Dabei werden sie in den gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Gleichzeitig wird in dem Sammelband für die Bedingungen von Wissenschaft im politischen, sozialen oder ökonomischen Kontext sensibilisiert. Auf einer abstrakteren Ebene werden Methoden und Ansatzpunkte herausgearbeitet, verschiedene Denkansätze überhaupt vergleichbar zu machen. Das klingt nach einem weiten Feld und das ist es auch.

Diese Verständigung ist vor allem dann wichtig, wenn es um die Herstellung einer vielseitigen und kohärenten Gesellschaftsanalyse bzw. einer Rekonstruktion gesellschaftlicher Kategorien wie Staat, Geschlecht oder Kapital (letzteres findet in dem Sammelband eher weniger statt) geht, wobei eine Perspektive, die über den Tellerrand einer Schule hinausgeht - mindestens als Abgrenzungspunkt - hilfreich ist. Die meisten Aufsätze in diesem Band behandeln Theorien, die sich gerade in linken Debatten großer Beliebtheit erfreuen und öfters beim Verfassen von Texten herangezogen werden, weswegen es sich lohnt in den Sammelband einen Blick zu werfen. Im Folgenden werde ich allerdings nur eine Auswahl der insgesamt elf Sammelbandbeiträge (inklusive des umfangreichen Vorworts(1)) vorstellen. Ich werde mich auf die beschränken, die ich am spannendsten fand.

In seinem lesenswerten Aufsatz Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik - Zur Tradition und Aktualität der Form- und Fetischkritik unternimmt Alexander Neupert-Doppler einen für heutige Debatten wichtigen Vermittlungsversuch zwischen einer marxistischen Denktradition, die die Marxsche Fetischkritik rezipiert und einer anderen, der es darum geht linke Handlungsoptionen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation auszuloten. Es geht um das Verhältnis zwischen »Formzwang und Gestaltungsspielraum«. Hierbei will der Autor Grenzen, aber auch Möglichkeiten der Fetischanalyse ausweisen. Dafür rekonstruiert er die Debatte um den Staatsfetisch ausgehend vom sowjetischen Theoretiker Eugen Paschukanis, um dann heutige Positionen gegeneinandertzustellen wie die Joachim Hirschs, der ein politisches Handeln innerhalb des Staates für unabdingbar hält, und Robert Kurz', der in seiner Antipolitik-Konzeption den Formzwängen entkommen will. Schließlich gelangt er zu dem Resultat, dass aus der Fetischkritik eine negative Utopie einer anderen Gesellschaft möglich wäre, weil sie die gesellschaftliche Durchdringung unseres Handeln erst offensichtlich macht. Diese Einsicht bietet zumindest eine vorsichtige Perspektive für eine befreiende Praxis.

Mit dem alten Problem der Differenz und Kohärenz zwischen den verschieden Generationen der Frankfurter Schule beschäftigen sich Marc Grimm und Martin Proißl in dem Beitrag Von der Kritik der Totalität zum fragmentierten Bewusstsein. Ideologiekritik bei Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas. Dabei untersuchen die Autoren in eindeutig kritischer Absicht Habermas' Abkehr von der Ideologiekritik hinzu einer Theorie, die als Legitimation herrschender Ideologie dienen kann. Die Autoren arbeiten dabei sehr nachvollziehbar heraus, wie sich der Ideologiebegriff von seinen frühen Werken, wo noch die Nähe zur Kritischen Theorie spürbar ist, und er instrumentelles Denken in der kapitalistischen Gesellschaft analysiert, bis zur Theorie des kommunikativen Handelns, wo Ideologie als eine Funktionsstörung der gesellschaftlichen Kommunikation verstanden wird, wandelt. Der Aufsatz sensibilisiert für die entscheidenden Brüche in der »kritischen Theorie« nach Adorno/Horkheimer und führt aus deren Perspektive zu dem Denken Habermas'.

Einen Versuch zwei sonst sehr konträr erscheinende Ansätze (insbesondere linker) politischer Theorie zusammenzubringen unternimmt Marco Walter in dem Beitrag Partizipation oder Dezision? Zur Konkurrenz zweier Paradigmen des Politischen, in dem er Hannah Arendt und Carl Schmitt zusammenbringen will. Während erstere für eine Konzeption des Politischen als kollektive Verständigung über das Gemeinsame steht (Partizipation), steht letzterer für ein Paradigma des Politischen, in dem es um die Bedingungen der Möglichkeit geht politisch wirksame Entscheidungen zu treffen (Dezision). Ausgangspunkt dafür ist die Frage nach dem Politischen. In seiner Gegenüberstellung geht der Autor methodisch sehr interessant vor. Einerseits begreift er die Werke der beiden innerhalb des historischen Rahmens, in dem sie entstanden sind: Bei Schmitt der zwar omnipräsente, aber gegenüber gesellschaftlichen Interessengruppen schwache Staat der Weimarer Republik, bei Arendt der totale NS-Staat. Andererseits setzt er sie in den Kontext des Schwinden des Politischen unter der Einflussnahme der Ökonomie und der Globalisierung. Ob das Zusammendenken, bei dem der Autor Schmitts Feindbestimmung als notwendigen Bestandteil der Außenpolitik einer sonst partizipativen Gemeinschaft sieht, funktioniert bzw. ob es sich dabei um eine Verkürzung von Schmitts Gedanken handelt, wäre hingegen zu diskutieren. Vor allem Feindbestimmungen nach innen stabilisieren für ihn ja politische Gemeinschaften, was den Unterschied zu liberalen Konzepten des Politischen ausmacht.

Der Aufsatz Entpolitisierung feministischer Wissenschaft? Zum Selbst- und Kritikverständnis in der feministischen Diskussion von Tina Jung stellt den Feminismus als eine gesellschaftskritische Bewegung dar. Dementsprechend wollte sich feministische Wissenschaft von der Normalwissenschaft mit deren männlichen Perspektive abgrenzen. Diesem Selbstverständnis widerspricht jedoch die (partielle) Aufnahme feministischer Theorie in den universitären Kanon bzw. ihre Etablierung im neoliberalen Wissenschaftsbetrieb in den letzten Jahrzehnten – zumindest stellt es die Theorie vor ein Problem, wenn sie selbst Teil des Kritisierten wird. Diese Ambivalenz im Wandel der feministischen Wissenschaft untersucht die Autorin, indem sie die in den letzten Jahrzehnten darüber geführten Debatten des Feminismus vor allem in Deutschland rekonstruiert. Vor allem zeigt sich die Problematik in den Fragen, ob feministische Wissenschaft im Wissenschaftsbetrieb mehr sein kann als die »Benachteiligungforschung« für Frauen und wie es möglich ist, trotz Akademisierung gesellschaftskritisch zu bleiben. Die Übersicht über die Debatten liefert eine gute Einführung in die Entwicklung der Disziplin und stellt implizit auch dar, was grundsätzlich Probleme und Möglichkeiten für eine akademisch betriebene Gesellschaftskritik sind, wenn sie sich zu einer Normalwissenschaft entwickelt.

Der spannende Beitrag Ein säkularer Irrtum? Zur Stellung des Individuums in den Menschenrechtsdebatten nach 1945 von Anne Rethmann am Ende des Sammelbands beschäftigt sich mit einer prekären Verschiebung in den Debatten. Waren die Menschenrechte einst nach der Erfahrung des Holocaust explizit als Rechte des Individuums unabhängig von seiner (zugeschriebenen) Gemeinschaftszugehörigkeit oder gerade gegen diese Kategorien konzipiert und galten (der Idee nach) damit ausdrücklich für Menschen die keiner Gemeinschaft wie dem Staat angehörten, wurden Gemeinschaftssubjekte wie Völker verstärkt zu Adressaten des internationalen Rechts. Die Stärkung von identitären Gemeinschaften wiederum führt dazu, dass Menschen gezwungen werden sich zu Kollektiven zusammenzuschließen und solchen Logiken zu unterwerfen, um rechtlich anerkannt zu werden. Denn nur Zugehörigkeit ermöglicht dann Rechtsanspruch. Rethmann zeichnet in ihrem Beitrag nach, wie es zu dieser Entwicklung kam und geht in ihrer Verteidigung des Individuums auf Arendt (Das Recht, Rechte zu haben) und die Kritische Theorie ein, indem sie unter Bezug auf diese nachweist, dass gerade im auf das Individuum bezogenen Menschenrecht gesellschaftliche Widersprüche offensichtlich werden. Über diesen Beitrag hinaus kann dies auch als eine Kritik an solchen Positionen in linken Debatten verstanden werden, die in Selbstbestimmtungsrechten für Völker und ähnlichem ein emanzipatorisches Moment sehen.

Des Weiteren finden sich dem Sammelband folgende Aufsätze:

- Cornelia Möser: Die feministischen Gender-Debatten in Frankreich und Deutschland - Ein Paradigmenwechsel in der feministischen Theorie?

- Katarina Froebus: Kritische Wendungen – Verortungen der Kritik in der Pädagogik

- Ludwig Gasteiger: Interdisziplinäre Sozialisationsforschung, Globalisierung von Bildungspolitik und das Dispositiv der Regierung von Sozialisation Eine Forschungsperspektive im Anschluss an Michel Foucaults Analytik der Macht.

- Eva Seidlmayer: „Ich kenne nichts Abgeschmackteres und Absurderes als dies!“ Die Debatte zwischen Stoikern und Skeptikern als paradigmatische Diskurskonstellation

- Sebastian Huhnholz: Bielefeld, Paris & Cambridge Wissenschaftsgeschichtliche Ursprünge und theoriepolitische Konvergenzen der diskurshistoriographischen Methodologien Reinhart Kosellecks, Michel Foucaults und Quentin Skinners

Kritisch ließe sich nur anmerken, dass die Themenvielfalt durch die vielen Denktraditionen, die hier in den Dialog gebracht werden, zu umfangreich ist und daher die einzelnen Texte unzusammenhängend wirken. Gleichzeitig ermöglicht die Vielfalt aber einen allgemeinen Überblick über die akademischen Debatten, die zum Großteil auch über den akademischen Betrieb hinaus ausstrahlen, und lädt zu einer weiteren Beschäftigung mit einzelnen Fragen ein. Weiterhin werden viele Methoden aufgezeigt an (noch unvermittelte) Theorien heranzutreten, die auch für die eigene Wissensaneignung nützlich sein kann. So stellt das Buch für alle eine Bereicherung dar, die über den Tellerrand ihrer Lieblingsdenker*in hinausgehen und ihren Blick für Theoriegeschichte schärfen wollen.

von Hans Stephan

Anmerkungen

(1) Eine Leseprobe, die das umfangreiche Vorwort von Gaststeiger, Grimm und Umrath beinhaltet, das einerseits in den Sammelband einleitet und andererseits soziale und ökonomische Ausgangsbedingungen von universitärer Arbeit kritisch reflektiert, findet sich unter: http://www.transcript-verlag.de/media/pdf/de196bd6a15bf0551b1ce9650849a97f.pdf

06.03.2016
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