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• das erste: Kommunismus ist was Bestimmtes – Eine Replik auf die Autodidaktische Initiative Leipzig
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• Buchvorstellung: Sascha Lange: "Meuten, Swings & Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus"
• Die neue notwendige Offensive der radikalen Linken
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• Taste of Anarchy Tour
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• doku: Erinnerung, Vergessen und das linke Geschichtsbewusstsein
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Lebe wohl für immer und behalte mich Unglückseligen nicht in schlechter Erinnerung.
Nikolai Bucharin an Stalin, 10. Dezember 1937
»Alles frühere ist historisch zu durchdringen.«(1) Liest man diesen Satz von Walter
Benjamin als Aufruf und nicht als Zustandsbeschreibung, formuliert er auch die Herausforderung, vor der eine kritische Beschäftigung der politischen Linken mit der Geschichte im Allgemeinen und der Geschichte der politischen Linken im Besonderen steht. In ganz grundlegendem Sinne gilt es, alles zu durchdringen, also beispielsweise auch zu verstehen, wieso Nikolai Bucharin während seines Prozesses, der am 13. März 1938 mit seiner Erschießung endete, an Stalin den berühmten Brief schrieb, aus dem das oben genannte Zitat stammt – und es gilt zu verstehen, warum er hoffte, dass Stalin ihn in guter Erinnerung behielt. Diese beiden Fragen werden hier nicht beantwortet werden können, sie sollen aber als Einstieg dienen für einige Überlegungen zu den politischen Phänomenen Erinnerung und Vergessen und zu ihrem Verhältnis zum Geschichtsbewusstsein der politischen Linken.
Es wird im Folgenden um die Geschichte des Kapitalismus gehen, um dessen tagtägliche Reproduktion und um die nationale Geschichte, die Vergangenheit in Tradition verwandelt und entsprechend präsentiert. Zuletzt will ich fragen, wie sich vor diesem Hintergrund ein emanzipatorischer Bezug auf die Geschichte formulieren lässt, der der Falle entgeht, sich ihre Fragmente im Moment des Entreissens aus den Händen des herrschenden »Konformismus«(2) instrumentell anzueignen und damit ein romantisierendes Verständnis von der Vergangenheit zu entwickeln. Denn dies wäre ein Verständnis, das Erkenntnis weder über die Vergangenheit noch über die Gegenwart ermöglicht. Die Überlegungen unter 3.) sind vage und unfertig, ein Angebot zur Diskussion.(3)
1. Die Erinnerung an die ursprüngliche Gewalt(4)
Erinnern und Vergessen sind als individuelle und kollektive Vorgänge in der Reproduktion des Kapitalismus stets präsent – und auch für eine Kritik des Kapitalismus, die an seiner Überwindung interessiert ist, spielen sie als Zustandsformen des (politischen) Bewusstseins eine wichtige Rolle. So kritisiert Karl Marx im ersten Band des Kapital den bürgerlichen Ursprungsmythos des Kapitalismus, demzufolge das unternehmerische Geschick eine »sogenannte ursprüngliche Akkumulation«
damit den Aufstieg des Bürgertums auslöste.(5) Marx stellt dagegen die Beschreibung der gewalttätigen Transformation der englischen Gesellschaft von einer feudalistischen zur kapitalistischen. Die herrschaftlich organisierte Gewaltaktion, die auf ökonomische Veränderungen reagierte und dafür Menschen brutal entrechtete und dem Kommando des Kapitals unterordnete, wird vergessen in der interessierten Erinnerung der ErbInnen der GewinnerInnen dieser Entwicklung zur Erfolgsgeschichte der sparsamen Elite und zur Mär von der selbstverschuldeten Armut der FaulenzerInnen.
Dieselbe Form des Vergessens der Gewalt findet sich im kolonialen Kontext. Marx beschrieb für seine Zeit, wie in der globalen Zirkulation von Kapital die Gewalt seiner Herstellung unsichtbar wurde: »Manch Kapital, das heute in den Vereinigten Staaten ohne Geburtsschein auftritt, ist erst gestern in England kapitalisiertes Kinderblut.«(6) Die Verwandlung von Gewalttat in Kapital spielte sich auch in entgegengesetzter transkontinentaler Richtung ab. Die brutale koloniale Gewalt, die in Mittel- und Südamerika den Massenmord mit der Ausbeutung von Rohstoffen verband, wird bis heute als glänzende Trophäe der genialen europäischen Entdecker erinnert. Sie hat ihre Symbole in Orten wie der Silbermine von Potosí im heutigen Bolivien, in der ab dem 16. Jahrhundert Millionen von Indigenen bei der Förderung des Silbers starben, das dann in das verschuldete Spanien verschifft wurde.
An Beispielen wie dem von Potosí wird deutlich, dass bereits im Begriff des Handels dieser Zeit zweierlei vergessen wird: Erstens, dass dieses Silber nicht »entdeckt«, sondern durch tödliche Zwangsarbeit der Erde entrissen wurde. Zweitens, dass es gerade dieses Silber als kapitalisiertes Blut war, das den Entwicklungsschub des europäischen Frühkapitalismus möglich machte.(7) Die (Nicht-)Erinnerung der genozidalen Rohstoffgewinnung ist hier nur ein Beispiel für eine grundlegende Struktur des Selbstbewusstseins im Kapitalismus: Im kapitalistischen Alltagsverfahren wie in der herrschenden Präsentation seiner Vergangenheit verschwindet die menschliche Gewalt und entsteht das Bild der kapitalistischen Gegenwart als Naturnotwendigkeit, in deren Rahmen Menschen selbstverantwortlich gut leben oder selbstverschuldet früh sterben.
Der Fetisch als Verdrängung der Erinnerung
Auf das Vergessen der geschichtlichen Gewalt des Kapitalismus folgt seitdem eine ständige doppelte Reproduktion: die Wiederherstellung des Kapitalismus und des Vergessens. »Vergessen« ist hier, ebenso wie »Erinnerung«, eine Metapher, die aus der Welt des Individuums stammt. Konkret ist damit zum Einen die strukturelle und reproduzierte Weltwahrnehmung (der Fetischcharakter) gemeint, zum Anderen das politische Unsichtbarmachen durch politische Fraktionen, abhängig von politischen Dynamiken. Gesellschaftliches Vergessen ist ein Vorgang, der meist nur das Licht löscht, nicht den Gegenstand selbst. »Erinnerung« und »Vergessen« sind in diesem Sinne nur verschiedene Namen für die Benennung desselben Dings: des Bilds, das sich die Gegenwart von der Vergangenheit macht. In diesem Bild ist das Eine unsichtbar, weil das Andere zu sehen ist: Vergessen ist »ein Produkt der Erinnerung.«(8)
Die Stars der glamourösen Welt der kapitalistischen Selbstrepräsentation: die Ware, das Geld, der Profit, sie alle unterdrücken »the memory of the labor and suffering that made capitalism possible«(9). Im Zentrum dieser Welt steht die Ware, die als natürliches Vehikel menschlicher Bedürfnisbefriedigung erscheint(10) und deren spezifischer Entstehungsprozess in der kapitalistischen Produktion nicht angeschaut wird: »[T]he forgetting of these social relations in the commodity is thus the origin of [...] reification.«(11) Es ist kein Orwell’sches Ministerium der Erinnerung, das das Vergessen organisiert, sondern die Subjektform der kapitalistischen Vergesellschaftung, die für alle Individuen ein Alltagsbewusstsein herstellt, das Erinnerung in den toten Winkel des Blicks auf die Welt verschiebt. Wir sind die Subjekte des Vergessens: »By forgetting that exchange value is »something purely social« [...], we forget that objects have their power of amortization and capitalization only if labor power is invested in them.«(12) Das Vergessen heute beruht also auf einer Denkform, die in den Subjekten des Vergessens liegt, und die selbst eine ständige Wiederherstellung des Vergessens ist. In Gestalt dieser Subjekte kommt das Vergessen des Kapitalismus und, wie wir gleich sehen werden, das nationale Vergessen zusammen.
Die Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse erfolgt, weil der historische Prozess ihrer Entstehung vergessen ist – in diesem Sinne ist die Verschleierung also ein Vorgang des Vergessens, sowohl der historischen Entstehung des Kapitalismus, als auch seiner tagtäglichen Reproduktion.(13) Der Fetisch als naturalisiertes Alltags-Bewusstsein übereignet seinen gewalttätigen Ursprung dem gesellschaftlichen Vergessen und verhindert dadurch ein Verständnis sowohl der historischen Entstehung des Kapitalismus als auch von dessen Gegenwart. Diese unverstandene, weil in diesem Verständnis vergessene Gegenwart ist auch unsere. (Die Rettung liegt folglich in der Erinnerung – dazu später mehr. Denn gleichzeitig liegt sie dort auch gerade nicht.)
Die Sicht auf die kapitalistischen Dinge, die diesen ihren realen Schein abkauft, etwa den, dass aus Kapital im Zins ohne Weiteres mehr Kapital werden kann, macht den Kapitalismus zur Natur, indem sie »die Erinnerung an seinen Ursprung«(14) auslöscht. Ohne diese Erinnerung an den Ursprung erscheint der Kapitalismus als frei getroffene und ewig währende vertragliche Übereinkunft zwischen ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn und nicht als endlos reproduziertes Ergebnis einer ursprünglichen brutalen Verwandlung von Bauern und Bäuerinnen in ArbeiterInnen. An diesem Punkt könnte der Blick zurück schon als ausreichende politische Antwort auf die Produktion des Vergessens im Kapitalismus erscheinen. Denn die Behauptung dieser Welt, sie sei natürlich und notwendig, sollte durch den Verweis auf ihre geschichtliche Entstehung und durch die Erinnerung an den alltäglichen gewalttätigen Prozess schon erschüttert sein. So einfach ist es aber leider nicht, wie unter anderem die Beschäftigung mit der nationalen Nutzbarmachung der Erinnerung zeigt.(15)
2. Vergessen im Kapitalismus und die Tradition der Nation
Das Vergessen im kapitalistischen Alltagsbewusstsein und in der Sicht der bürgerlichen Gesellschaft auf ihre Geschichte sind eng miteinander verwandt und darüberhinaus über ihre historische Entstehungsgeschichte verbunden. Dies bedeutet keine mystische Wesensgleichheit, sondern eine Strukturanalogie, die hermeneutisch und politisch aufgegriffen werden kann.(16)
Wie das Kapitalverhältnis die konkrete Arbeit und ihre konkreten Produkte im Warentausch gewaltsam gleichsetzt und damit in ihrer Besonderheit unsichtbar macht (es bleibt das Kapital als Ursprung seiner eigenen Vermehrung), beraubt auch die klassisch historistische Sicht auf die Geschichte den einzelnen Moment seiner Besonderheit und seiner Möglichkeiten und homogenisiert ihn in die leer voranschreitende Zeit seiner bürgerlichen Geschichtsvorstellung. Dies trifft ebenso zu auf die gegenwärtige Alltagssicht auf die Geschichte, in die der Historismus vulgarisiert eingesunken ist. Der Historismus hat seine Zeitvorstellung blind vom Kapitalverhältnis übernommen: So wie die vorgebliche Objektivität des historis-tischen Blicks auf die Vergangenheit die einzelnen Geschehnisse durch die Linearität einebnet und ihrer Möglichkeiten beraubt, zum gleichförmigen Ding auf der nationalstaatlichen Zeitleiste macht, so unterstellt die kapitalistische Produktion durch den Tausch das Leben der Menschen der verdinglichenden Warenproduktion – macht sie vergleichbar und die Entfaltung ihrer Unterschiedlichkeiten und Potenzen unmöglich.(17) Das Einschmelzen der Besonderheit des Gegenstands markiert die strukurelle und historische Verbindung von Kapitalverhältnis und nationalem Historismus: Unsichtbar ist der Prozess, der die Nation und die Ware in der Vergangenheit erst herstellte und unsichtbar ist die zukünftige Möglichkeit, dass alles anders wird.
Folglich erfordert eine Kritik des Kapitalismus und der Herrschaft in Gegenwart wie Vergangenheit die Erinnerung an die Gewalt, die die ursprüngliche Herstellung der kapitalistischen Welt bedeutet hat, ebenso wie die »Erinnerung« an den gesellschaftlichen Prozess, der als kapitalistisches Ding erscheint, »to remember the labor and the laborers invested in the product«(18). In diesem Sinne hat historische Erkenntnis das Potenzial, das gesellschaftliche »Gestrüpp [...] des Mythos«(19) zu lichten und so den historischen Gegenstand deutbar zu machen. Historische Erkenntnis als Erinnerung an die geschichtliche Entstehung des Kapitalismus und den kapitalistischen Prozess, der dem Resultat vorgängig ist, ist eine Bedingung der Befreiung in einer Welt, die das Wissen um ihren Entstehungsprozess dem Vergessen überlassen hat.
Es scheint, als säße der Gegenstand in der Ecke, unbeweglich weil bereits geschehen, kauernd, und wartend auf den Lichteinfall.(20) Wenn Vergessen das Unsichtbar-machen als Ablehnung des Gegenstands meint, muss sich Erinnerung also als ent-gegengerichtete Annahme verstehen. Es geht um das Drehen, Wenden und Deuten, das den Gegenstand, der bereits geschehen ist, politisch im Heute aufbewahrt und wirkmächtig macht in einer Gegenwart, die auch durch seine Wirkung Geschichte werden soll. Dabei ist klar, dass, auch wenn »[i]m Zeitalter der Industriekultur [...] das Bewusstsein in einem mythischen, einem Traumzustand [existiert], dem
durch die historische Erkenntnis als einzigem Gegenmittel abgeholfen werden kann«(21), die historische Erkenntnis die Zutat der theoretisch-systematischen Durchdringung benötigt. Keine Gegenwart erklärt sich nur durch die Beschreibung ihres Werden.
Die kritische Erinnerung ist das wichtigste Instrument, um der »geheimen Waffe des Kapitalismus – der Massenproduktion des Vergessens«(22) entgegenzuwirken. Sie
als Betrachtung der Geschichte notwendig, weil sie das Vergangene anschaut und damit das dem Resultat Vorgängige; was in der Selbstrepräsentation der kapitalistischen Gesellschaft und in der Geschichte der Nation ausgelöscht wird ist jeweils der Prozess, der den Zustand herstellte. Ist dieser Charakter der sozialen Konstruktion aber erkannt, ist ein wichtiger Schritt zur Auflösung von Fetisch und Mythos getan. Angebliche geschichtslose Natur kann nur dann als prozesshafte Kultur kritisiert werden, wenn sie als diese benannt wird. Gefragt ist im Sinne von verbundener Kritik von Gestern und Heute, von ursprünglicher Akkumulation und aktuellstem Produktionsprozess die Rekonstruktion des vergessenen Geschehens im Hier und Jetzt, also die Erinnerung der Gegenwart. Allerdings ist mit der Erinnerung als Aufheben des geschichtlichen Gegenstands noch längst nicht alles getan. Denn gerade die nationale Geschichte arbeitet nicht nur mit der Organisierung des Vergessens, sondern auch mit der Erinnerung als einem Vehikel der Nationalisierung.
Nationale Präsentation der Geschichte: Erinnern im Dienste des Vergessens
Eine einträgliche Sparte in der kapitalistischen Massenproduktion des Vergessens firmiert unter dem Namen Nation. Nationale Geschichte ist als ein- und ausschliessender Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Vergangenheit präsentiert wird, nicht nur zentral für die Art und Weise, wie Geschichte uns (als nationale) vorkommt, sondern in dieser Eigenschaft auch ein wichtiger Teil nationaler Tagespolitik. Die nationale Präsentation der Geschichte interpretiert das Vergangene unter den Vorzeichen von Vorgeschichte, Aufstieg, Fall und Wiedergeburt der Nation und sortiert nach diesen Maßgaben geschichtliche Ereignisse. Die Nation gilt als konstitutive Interpretationsgrundlage und Rahmen der sozialen Prozesse, die in der Gegenwart der jeweils aktuellen Nationalgeschichte ihr Ziel gefunden haben. Was in dieses Schema nicht passt oder in diesem nicht umdeutbar ist, fällt heraus oder wird zur Fußnote der Erzählung, die mit der »natural and total unity«(23) der Nation endet. Über das Schema der Katharsis können in diese Verwandlung der Vergangenheit in die nationale Tradition auch negative Episoden integriert werden: »the moment of rupture« gilt dann als »moment of national awakening«(24). Das, was als soziales Problem der Gegenwart des Kapitalismus beschrieben werden müsste, wird in die voranschreitende Zeitlichkeit der Nation verschoben, in der auch deren Lösung versprochen ist.
Diese Form der Ignoranz gegenüber der »nichtnationalen Vergangenheit« ist allerdings nur eine Variante nationalen Vergessens. Die sozialen Konflikte, die aus sich selbst heraus deutlich gegen das Heilsversprechen der Nation Einspruch erheben, werden nicht nur unter den Teppich gekehrt, sondern auch als Problem der Unvollständigkeit der Nation reformuliert. »National history cannot simply erase such nonnational aspects of the past«(25), weil diese in ihrer Wiederkehr die historische Zufälligkeit der Nation allzu grell herausstreichen, würden. Deswegen erfolgt die nationale Repräsentation des potenziell Widerständigen, eine diskursive Umarmung, die nationalisiert.(26)
So ist das Vergessen in der kapitalistischen Nation nicht nur eines der Abwesenheit.
Alternativ kann das jeweilige Ereignis in den Triumphzug der herrschenden Repräsentation der Vergangenheit eingebettet werden. Dieser Vorgang, darauf hat unter anderem Walter Benjamin hingewiesen, ist gefährlich: »Die Art, in der es
als ›Erbe‹ gewürdigt wird, ist unheilvoller als seine Verschollenheit es sein könnte.«(27) Unheilvoller ist die Würdigung, weil das Bestehende von der produktiven Indienstnahme einen zusätzlichen Nutzen hat, der außerdem der Kritik im Gegenstand, der gewürdigt wird, einen potentiellen Alliierten stiehlt. In der Form der Würdigung
»selbst das Vergangene [...] nicht mehr sicher vor der Gegenwart, die es nochmals dem Vergessen weiht, indem sie es erinnert.«(28) Das bedeutet: Der einzige Ausweg aus der Zwickmühle von totalem Vergessen und vergessender Würdigung ist das Aufheben des verschollenen Moments der Vergangenheit, das diesen gleichzeitig auf seine letzten Endes revolutionäre Bedeutung hin befragt, auf seine Möglichkeiten zur Sprengung des Kontinuums, die verhindern, dass er in das Museum der Nation integriert wird.(29) Das letzte Ziel sollte also nicht das Auffinden einer bis dahin übersehenen Quelle sein, das muss eine kritische Geschichtsauffassung sowieso, von Kindesbeinen an machen. Im Sinne von Walter Benjamins »Jetzt der Erkennbarkeit«(30) geht es vielmehr um die aufblitzende Bedeutung der Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart, die, sofern sie erhascht werden kann, dann der revolutionären Politik zugute kommt.(31)
3. Was tun – Erinnerung und Eingedenken
Hannah Arendt ruft in ihrem »Besuch in Deutschland« aus: »Aber das ist doch alles nicht wirklich – wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen, wirklich sind die Toten, die ihr vergessen habt.«(32)
Wirklich sind die Toten, die ihr vergessen habt: Dies gilt insbesondere vor dem oben beschriebenen Hintergrund einer fetischisierten Weltwahrnehmung, die den Schein kapitalistischer und nationaler Vergesellschaftung für wirklich hält und (deswegen) die Ruinen und die Toten vergisst – und zwar sowohl diejenigen, für die der Nationalsozialismus verantwortlich zeichnet und von denen Arendt spricht, als auch diejenigen, die sich vor Benjamins Engel der Geschichte auftürmen und die Ergebnis der »kontinuierlichen Katastrophe«(33) der kapitalistischen Moderne sind. Das Vergessen ist also der Vorgang, in dem der »landläufigen Darstellung« die Momente des Unvollendeten und damit die Momente der Möglichkeit des Anderen »entgehen«(34): Die »Vergesslichkeit« der Nationalgeschichte in einer Welt der Nationen.
Vielleicht bietet sich in Walter Benjamins Begriff des Eingedenkens eine Möglichkeit, eine Sicht auf die Vergangenheit, der nichts »entgeht«, weil sie aus der blinden Kontinuität ausbricht, zu verbinden mit einer politischen Praxis der Gegenwart, die von der Geschichte weiß, sie aber nicht instrumentalisiert. Eingedenken ist eine »die Gegenwart transformierende Erinnerung«(35), es komplettiert als politische Praxis die wissenschaftliche Forschung: was die letztere als Resultat der Untersuchung festhält, kann die erstere verändern.(36) Entscheidend ist allerdings auch hier, das noch nicht viel gewonnen ist, sollte es auch gelungen sein, einen zuvor verschütteten Aspekt der Vergangenheit gegen den Konformismus sichtbar zu machen. Es ist nach Benjamin nämlich gerade nicht »die Aufgabe des Historikers, das Vergangene zu ›vergegenwärtigen‹«(37), sondern, darüber hinaus gehend, aus der Verbindung des Gewesenen und des Aktuellen den Charakter der Herrschaft zu erkennen und damit auch die Möglichkeit auf gesellschaftliche Befreiung.(38) Eine kritische Geschichtsbetrachtung müsste also immer auf das Kontinuum selbst und die aktuelle Herrschaft verweisen, gegen die das Bruchstück ausgegraben werden musste. So wären im Eingedenken »die Befreiungsmöglichkeiten der Gegenwart mit denen der Vergangenheit«(39) zusammengebracht.
Es scheint, als müsse gegen einen Zustand der organisierten Bewusstlosigkeit die Erinnerung erst erobert werden. Sie ist als (nationaler) Mythos, der zwar herrschaftlich orchestriert, aber auch vielen aus der Zielgruppe willkommen ist, »Opium des Volkes«(40), aber potenziell – als Eingedenken der Unterdrückten – Munition im Arsenal der Befreiung. Weitere Probleme, die bei diesem Vorhaben anzutreffen sind, will ich im Folgenden skizzieren.
3.1. Erster Einwand: Gegen die »eigene Geschichte« der Linken
Die allgemeine linke Sicht der Geschichte lässt sich in etwa so beschreiben: Die Herrschenden schreiben die Geschichte in ihrem Interesse und wenden sie gegen die sozialen Kämpfe; zu diesem Zweck lassen sie bestimmte Geschehnisse der Vergangenheit aus, überbewerten andere und denunzieren das, was ihnen nicht passt. Dagegen müsse eine linke Geschichte ihre »eigene« Vergangenheit in den Blick nehmen und so die »verdrehte« Geschichte geraderücken. »Gegen das Vergessen« muss also die tatsächliche Geschichte hervorgeholt, erinnert werden.
Diese binäre Positionierung zeigt sich in der Sprache des linken Geschichtsbewusstseins: »Geschichte von unten« gegen die »Geschichte der Sieger«, »Remembering means fighting«, »A people’s history«, »Gegen das Vergessen«, »Gegen jeden Geschichtsrevisionismus«, und so weiter. Es geht stets darum, ein tatsächliches Bild der Geschichte der herrschenden Bildproduktion, »dem Konformismus abzugewinnen«(41), und sich damit die »eigene[...] Geschichte«(42) anzueignen. Allzu oft gestaltet sich diese Rückbesinnung als linke Geschichtsromantik, die sich strukturell nicht vom üblichen Vergangenheitskitsch unterscheidet: gegen die Kontinuität des Bestehenden wird schlicht eine eigene Kontinuität behauptet.
Es stellt sich nun die Frage, in welches Verhältnis man zur »eigenen« Geschichte tritt, sobald man sie der herrschenden Repräsentation abgerungen hat – und damit sich selbst angeeignet hat. Denn im Grunde tritt eine solche Geschichtsbetrachtung in das gleiche Gewaltverhältnis, das eine nationale Erzählung zur Vergangenheit hat: sie wird in die eigene Tradition verwandelt. Dazu kommt, dass sich derart die eigene Exklusivität derer reproduziert, die über die linke Geschichte sprechen, z.B. die einer männlichen, weißen Perspektive.(43)
Zwischen dem gegenwärtigen politischen Selbst und dem geschichtlichen Ereignis (den Revolutionen von 1918 oder 1936, dem 1. Mai 1987, Rosa Luxemburg, »Che« Guevara, Benno Ohnesorg, ...) wird eine geschichtliche Wesensgleichheit erkannt, die im Kern ein imperiales Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit begründet.(44) Die Gefahr lauert dort, wo eine historische Identität hergestellt wird. Dies ist der Fall, um ein Beispiel unter vielen herauszugreifen, wenn von der »ersten Jugendantifa« gesprochen wird, die zwischen 1930 und 1933 in Berlin aktiv gewesen sei, wenn Walter Neumann, der in dieser Zeit in Kreuzberg von der SA erschossen wurde, als »Silvio Meier der Weimarer Republik« bezeichnet wird und in Hans Hoffmann, einem SA-Mann, der 1931 an den Folgen einer Auseinandersetzung »mit der Antifa« starb, der 1992 zu Tode gekommene DLVH-Funktionär Gerhard Kaindl in der Vergangenheit wiederaufersteht.(45) Die geschichtliche Eigenständigkeit des Ereignisses wird vom politischen Ziel der Operation der Gegenwart gestutzt, um so in handlicher Form dienstbar zu sein. Das ist einerseits ein Gewaltverhältnis, und andererseits eines, das im Akt des Identisch-Machens die Analyse der Gegenwart vernachlässigt und sich auf die schlichte Macht der historischen Assoziation verlässt.(46) Der Kurzschluss mit der Geschichte, in der »was ging«, ist umso verlockender, wenn diejenige Vergangenheit, mit der die Gegenwart identifiziert wird, im Ruf steht, in bestimmten Aspekten aufregender, also mehr von Tat und Handlung gepräg gewesen zu sein; wenn es heißt, sie sei Geschichte gewesen, die gemacht wurde, ein geschichtlicher Moment, in dem es voran ging. (Entsprechend die jüngste Begeisterung von einigen antifaschistischen Gruppen in Berlin und Umgebung, sich mit der heroischen (und militärischen) Begleitmusik des historischen Slogans »Rotfront!« zu schmücken.)
Die Identifizierung von Silvio Meier und Walter Neumann bringt aber tatsächlich keine politische Erkenntnis, sondern schießt 60 Jahre historische Entwicklung aus dem Bild, entfernt sie aus dem Material, mit dem wir versuchen können, die Welt zu verstehen. Dazu kommt, dass es hier nicht heißt: »Silvio Meier – der Walter Neumann der Berliner Republik«, wodurch schlicht eine Kontinuität, eine fortschreitende Gleichheit behauptet würde. Es wird durch die umgekehrte Variante noch eine geschichtsverzerrende Schippe draufgelegt. Denn dadurch, dass Silvio Meier hier auf eine Zeitreise in die Vergangenheit zurückgeschickt wird, ist das Berlin von heute nicht nur im Wesentlichen eine verlängerte Version des Berlins der 1930er, sondern andersherum das Berlin der 1930er auch nur eine alte Version der Gegenwart – und entsprechend in gleicher Weise zu verstehen.
Es wurde schon oft festgestellt, dass die GegnerInnen des Bestehenden im Versuch, in den herrschaftlichen Prozess des »Geschichte-Machens« einzugreifen, seine Verfahren übernahmen und nur eine andere Version der katastrophalen Geschichte hervorbrachten. Dies gilt aber auch für das Feld des »Geschichte-Schreibens«(47). Es genügt nicht, den geschichtlichen Gegenstand aus der bürgerlichen Repräsentationsmaschine zu entnehmen und ihn dem Prokrustesbett »eigene Geschichte« zu überlassen. Der Zugriff erfolgt auf einen anderen Inhalt, die Form der Geschichtsaneignung bleibt aber die gleiche, nämlich eine, die die Gegenwart durch die behauptete Kontinuität an die Vergangenheit kettet. »Auch damals wurde gekämpft!« – schon die (Jugendantifa in der) Vergangenheit wollte, so heißt es dann, die andere Gegenwart, für die heute ungebrochen in der im Grunde gleich eingerichteten Welt weitergefochten wird. Auch die Gegen-Konstruktion der linken Sinnhaftigkeit der Geschichte(48) ist eine Aneignung der Geschichte – und im Wort »Aneignung« liegt hier schon die Gewalt, die von der Gegenwart ausgeht.
Vielleicht macht es Sinn, den instrumentellen Bezug auf die »eigene Geschichte« und ihre »Lehren« aufzugeben und sich eher zu beziehen auf die »Solidarität«, die nach Walter Benjamin zwischen der jeweiligen geschichtlichen Epoche und der Gegenwart der Zurückblickenden bestehen sollte.(49) Eine solche Solidarität wäre ein Verhältnis der Kooperation, kein gewaltsam hergestelltes; es beruhte auf der durch Eingedenken ermöglichten Verbindung zweier unterschiedlicher geschichtlicher Subjekte – dem »wahrgenommenen Gegenstand« und dem »wahrnehmenden Organ«(50). Unterschiedlichkeit statt Identität – Kooperation statt Aneignung – Distanz statt Nähe.
3.2. Zweiter Einwand: Geschichte ist immer die der Anderen
Was könnte es geben anstelle einer linken Aneignung der Geschichte, die der Linken vom Bestehenden scheinbar aufgezwungen ist? Ein Gedanke von Emmanuel Levinas könnte helfen, einen solidarischen Umgang mit der Vergangenheit zu formulieren. Die Kritik an der ontologischen Identifizierung der Welt mit dem westlichen »Ich« führte Levinas dazu, seine Ethik des »Anderen« auch in die Vergangenheit zu wenden. Als Instanz der Selbstreflexion ist der »Andere« nicht nur auch in der Vergangenheit präsent, sondern darüberhinaus ist Vergangenheit selbst niemals die eigene, sondern immer die des »Anderen«.(51)
Der Ursprung dieser Distanz, durch die Geschichte eine andere ist, liegt in der Spaltung, die der »geschichtlichen Tat«(52) im Moment ihrer sprachlichen Repräsentation widerfährt. Das Verhältnis von Ereignis und seiner Narration ist eines der Verbundenheit in der Verschiedenheit. Sie können zusammenkommen (z.B. in der bewussten Erinnerung), dies allerdings aus vollständig getrennten Sphären: dem Geschehen und der ständigen »Wiedergeburt« in Erinnerung und politischer Aktion. Diese Trennung ist sicherlich keine neue Erkenntnis, wichtig scheint mir aber ihre Übersetzung in die politische Aneignung der Geschichte.(53) Denn ihr entsprechen die getrennten Sphären der linken Geschichte und ihrer Gegenwart, die fatalerweise oftmals in der Überreaktion auf das herrschende Vergessen mit der Identifizierung des tatsächlich kategorial Unterschiedlichen überbrückt werden. Statt solcher Identifizierung könnte stattdessen das Konzept der historischen Solidarität Verbundenheit in der Verschiedenheit heißen; so würde die »Spaltung«, die auch zwischen (dem Ereignis) der »linken Geschichte« und der linken Rückerinnerung besteht, anerkannt. Ein Geschichtsbewusstsein, dass von dieser Verschiedenheit weiß, artikuliert das Vergangene im Versuch, es selbst sprechen zu lassen.(54)
Es geht also um eine linke Bezugnahme auf Geschichte, die von der Autonomie des geschichtlichen Ereignisses ausgeht, anstatt sich der vergessenen Geschichte zu bemächtigen, damit sie einen politischen Zweck erfüllt, »denn Herrschaft und Benutzung ist ein Begriff, hier wie überall.«(55) Sie sollte sich nicht nur nicht mit der Geschichte identifizieren, ihr gleich sein; sie kann auch keine Geschichte als die ihre beanspruchen. Geschichte wird immer eine andere sein und bleiben. Es sollte also heißen: »Keine Versöhnung mit der Geschichte!« – und das trifft auch auf die von der bürgerlichen Geschichtsschreibung ausgeschlossenen Ebenen der Vergangenheit zu. Die historische Solidarität als Kooperation mit der Vergangenheit ließe dagegen Vakanzen für die Weiterentwicklung linker Geschichte auch im Bewusstsein der eigenen Ausschlüsse des »linken Mainstreams«.
Anders als der Geschichtsnationalismus, der die geschichtlichen Fragmente zur kontemplativen Herstellung nationaler Kontinuität nutzt (negativ als »Mahnung« oder positiv als »Würdigung« inszeniert), müsste ein kritisches Geschichtsbewusstsein die kritisch erzählte Geschichte von sich selbst trennen und eine instrumentelle Eingemeindung vermeiden. Es ist gegen die politische-philosophische Praxis der Identifizierung auf die grundsätzliche Verschiedenheit zu verweisen: die Verschiedenheit der Individuen und ihrer Taten (die beide eben nicht auf eins zu bringen, austauschbar, kommensurabel sind), die Verschiedenheit von vergangenem und gegenwärtigen Moment, die Verschiedenheit des Selbstbewusstseins von »wahrgenommenem Gegenstand« und »wahrnehmenem Organ«.
In diesem Sinne mit der geschichtlichen Epoche »solidarisch« zu sein, bedeutet allerdings nicht, die Vergangenheit sich selbst zu überlassen, sie im Grunde ebenfalls zu vergessen. Die Solidarität muss intensiv sein, aber dabei vermeiden, der Geschichte Gewalt anzutun, um sie in Anschlag zu bringen. Denn dies wäre gleichzeitig ein Vorgang, der das Verständnis der Vergangenheit unmöglich macht, weil er sie nur verkürzt wahrnimmt; ein Vorgang, der die notwendige Distanz eben nicht hat, weil er einen historischen short cut festlegt – z.B. 1918 zu 2011 –, der das historische Fragment herauslöst und zum Heute in Verbindung bringt, ohne auch dessen Umgebung und die historische Entwicklung zwischen den beiden Daten zu betrachten. Dies wäre ein Benjamin’sches »Heraussprengen« der Geschichte der Unterdrückten aus dem bürgerlichen »Kontinuum« im schlechtesten Sinne. Das Herauslösen aus der herrschenden Erzählung kann selbst nur »Sinn machen«, wenn es auch die »Schichten«, die dabei »vorher zu durchstoßen waren«(56) angibt und damit das Andere, das zwischen Vergangenem und Aktuellem besteht.
Beschäftigung mit Geschichte ist immer das Nachzeichnen der verlustreichen Bahnen von ZeugInnenschaft zu Zeugnis, von verlorenem Moment zu Erinnerung. Mit Levinas’ Ethik, die eine der fundamentalen Unterschiedlichkeit ist, sowohl im Hinblick auf das Subjekt als auch auf die Geschichte, wird betont, dass »the individual’s engagement with other and the individual’s representation of those engagements (events and the memory of events) cannot be made commensurate, but that their relation produces a kind of void.«(57) Entsprechend und ins konkret Politische übertragen, steht zwischen der Linken und ihrer Geschichte, die ihr eine Andere sein muss, also immer die Leere, der Raum des Bruchs zwischen dem Geschehnis (und dessen Subjekten) und der Erzählung (und dessen Subjekten). Statt eine neue Herrschaft über die Geschichte zu etablieren sollte also versucht werden, mit ihr als solidarischem Subjekt kooperativ umzugehen. Zur Illustration dieser Überlegungen sei an dieser Stelle ein altbekanntes Zitat von Karl Marx in die Überlegungen eingebracht.
3.3. Dritter Einwand: Die Kritik der Nachfolge
Auch die linke Variante der Zurichtung der Vergangenheit läuft in ihrem geschichtlichen Abgleich also erstens Gefahr, die Vergangenheit sich anzueignen und damit politisch zu verzerren,(58) und zweitens, durch romantische Gleichsetzungen »Lehren« aus der Geschichte zu ziehen, die nichts als Unheil bringen. Im 18. Brumaire des Napoleon Bonaparte heißt es nun: »Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts [...] kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat.« Und weiter: »Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen.«(59)
Das Bild der Toten, die ihre Toten begraben, ist aus der christlichen Vorstellungswelt entnommen. Jesus begegnet an einer Stelle im Neuen Testament einem Mann, der ihm als Jünger folgen will, ihn aber bittet, zuvor seinen Vater begraben zu dürfen. Jesus antwortet: »Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes!« (Matthäus 8,22, Lukas 9,60) Marx scheint diese Figur aus der Bibel in besonderem Maße beschäftigt zu haben.(60) Sie steht für eine vollständige Trennung von Vergangenheit und weltlicher Normalität auf der einen und Zukunft und utopischem Reich auf der anderen Seite. Um das eine zu erreichen, muss das andere aufgegeben werden. Marx verbindet diese rücksichtslose Aktivität mit den Revolutionen seines Jahrhunderts – wo die bürgerlichen Revolutionen den vollständigen Bruch nicht machen konnten, muss die proletarische Revolution den »Aberglauben an die Vergangenheit« endgültig abstreifen, die Toten also ihr eigenes Begräbnis begehen lassen, um das ganz Neue errichten zu können: die proletarische Revolution als Agent der letzten historischen Aufgabe. Die erwähnte Bibelstelle ist überschrieben mit dem Titel »Preis der Nachfolge« – und diese Formulierung umreißt auch das Problem des linken Geschichtsbewusstseins.
Jesus und der Marx des 18. Brumaire geben ihren Jüngern den Befehl, die Brücken zu ihrer persönlichen, bzw. gesellschaftlichen Vergangenheit abzubrechen, weil sie Ballast darstellen, der den Weg in das Paradies (auf Erden) verhindert. Der Preis der Nachfolge in das Paradies ist es, mit der Vergangenheit aufzuräumen und auf ihrem Platz stattdessen die paradiesische Zukunft zu erfahren. Der Befehl Christi an seine Jünger entspricht dem Befehl der Linken an ihre eigene Geschichte, in deren Nachfolge sie sich sehen. Zwar unterscheiden sich diese beiden Befehle dahingehend, dass Jesus (und Marx an dieser Stelle) den Bruch mit der Vergangenheit und damit das Vergessen fordern, während die Linke der Geschichte den Befehl erteilt, ihr zu dienen und sich damit die Erinnerung nutzbar macht.
An diesem Punkt könnte jedoch eine Kritik der Nachfolge darauf hinweisen, dass der linke Befehl an die Geschichte, selbst dann, wenn er nicht das Vergessen als Opfer fordert, ein autoritärer ist. Es ist der Befehl an die Geschichte, als die »eigene« der jeweiligen Aktualität zu gelten. Dadurch wird die Gefahr heraufbeschworen, die scharfsinnige Analyse der Gegenwart gegen die unscharfe Assoziation mit vage ähnlichen Situationen in der Vergangenheit einzutauschen. Die linke Geschichtsromantik bindet sich so an die dramatisch heroischen oder katastrophalen Episoden der Geschichte und beraubt sich ihrer Urteilskraft in der Gegenwart. Es herrscht an diesem Punkt tatsächlich ein Zuviel an Geschichte: »Statt ›folge mir nach‹ müsste es [...] vielmehr heißen: ›Folge dir selbst nach‹«(61). Erinnerung, die auf ein politisches Ziel ausgerichtet ist, thematisiert vor allem dieses und weniger von dem eigentlich aufzubewahrenden Gegenstand. Dagegen sollte stehen: die »bestimmte Distanz«(62) der historischen Solidarität als Anerkennung des Unterschieds zwischen Gestern und Heute. Denn es sind unterschiedliche geschichtliche Bedingungen, in denen der gewalttätige Zugriff die eigene Tradition erkennt. Ohne die Herrschaft der linken Tradition bliebe eine kritische Durchforschung der Vergangenheit, die diese ordnet und deutet, ohne sie sich unterzuordnen, sich von ihr speisen lässt auf dem Weg in eine offene Zukunft. Es geht um das Verfolgen einer solchen Grundidee, die »sich selbst« (Hegel) folgt, nicht einem mehr oder weniger verzerrt hergestelltem Bild der Vergangenheit. Geschichte kann in diesem Sinn nur ›lehren‹, dass die Gegenwart anders hätte werden können – nicht, wie man sich verhalten kann.(63)
Die Aneignung der »eigenen Geschichte« ist gewalttätig, und sie verhindert Erkenntnis, weil sie ihre Hoffnung auf die pure Assoziation im Wiedererkennen der Gegenwart in der Vergangenheit legt, ohne weitere Analyse von Gegenwart (in ihrer Form als Gegenwart und als aktueller gewordener Zustand der Vergangenheit). Sie ist nicht nur ethisch als instrumentelle Gewalt der Vergangenheit gegenüber schädlich, sondern auch in der Gegenwart. Denn es wird schlicht der angenommenen revolutionären Kontinuität und ihren Höhepunkten nachgetrauert und die Gegenwart dadurch völlig verengt durch die Brille der revolutionären Höhepunkte angeschaut; sie ist eine linke Version der sonst bürgerlich üblichen »Verewigung von zeitlich Gültigem«(64). Der Blick auf die Gegenwart geht ins Leere. Geschichte sollte deswegen nicht aus der bürgerlichen Indienstnahme in die eigene überführt, sondern tatsächlich herausgesprengt, in die solidarische Zeitlosigkeit entlassen werden.(65)