• Titelbild
• Editorial
• das erste: Zum 75. Jahrestag des Elser-Attentats
• inside out: Feminist Street Art against Street Harassment
• Booze & Glory, Argy Bargy, The Fat Tonies
• Equal / Not Equal . Frauen in der elektronischen Musik
• Der eindimensionale Mensch wird 50
• Protest the Hero, The Faceless, The Contortionist, Destrage
• Filmriss Filmquiz
• Being as an Ocean, Vanna, My Iron Lung, Crooks
• Rocko Schamoni "Fünf Löcher im Himmel"
• Darkest Hour, Tenside
• Sinkane, Nicholas Krgovich
• AMP // R aka Hvrtmill, Felix Valentin, Toni Buletti, Absent Zein Auks
• Rex Feuchti
• Von Spar
• 10 years electric island
• halftime : Mala'Ka & Bearden
• Amity Affliction
• doku: Fat Acceptance – Was soll das ganze eigentlich?
• doku: Waffen für die Kurden
• doku: Biji Israel & Kurdistan!
• doku: Männliche Abstiegsangst
• doku: Die Tea-Party als Klassenprojekt – Neoliberale Religiosität in den USA
• review-corner event: Die Linke schläft, das Bündnis macht, das haben die Rechten gut bedacht!
• Anzeigen
• das letzte: Connewitzer Heimatliebe
»hatte ich ... den Entschluss gefasst, die Beseitigung
der Führung selbst vorzunehmen.«
»Hitler bedeutet Krieg«
»Wir gelobten uns aufs neue gegenseitige Treue mit dem gemeinsamen Wunsch: »Hitler möge recht bald verrecken««, schildert Josef Schnurr, ein Genosse aus der Zeit beim Roten Frontkämpferbund (RFB), das unverhoffte Wiedersehen mit dem Schreinergesellen Georg Elser beim Armaturenfabrikanten Waldenmaier 1937. Bald hören sie nach der Arbeit gemeinsam ausländische Rundfunksender. »Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen,« so Schnurr, »dass Elser noch radikaler im Kampf gegen den Hitler-Faschismus geworden war«. Was ihm verborgen bleibt: Der Freund arbeitet alsbald an einer radikalen Lösung des gemeinsamen Wunsches.
Während seiner Hilfstätigkeit als Gussputzer bei Waldenmaier beobachtete er den Transport von Rohpressteilen und erfuhr so von einer geheimen Sonderabteilung für Zündköpfe. Diese Kenntnis geheimer Aufrüstung nährt vor dem Hintergrund der Unterstützung Nazi-Deutschlands für die Putschisten im Spanischen Bürgerkrieg seit dem Sommer 1936 und der Annexion Österreichs im Frühjahr 1938 Elsers Zweifel an Hitlers fortwährenden Friedensbekundungen. Sie bestätigen, was die von Elser seit 1924 stets gewählte KPD im Wahlkampf um die Reichspräsidentschaft 1932 skandiert hatte: »[...] wer Hitler wählt, wählt den Krieg!«
»Mir kriegad in Deutschland koi bessera Zeit, hend koi bessera Zukunft«
Anders als die sog. Septemberverschwörer(1) und das deutsche Proletariat, unter welchem er aufgrund der mit der sog. Sudetenkrise verbundenen Kriegsgefahr eine »große Unruhe« festgestellt hatte, ist Elser auch nach dem Münchner Diktat(2) der Überzeugung, »dass es [da]bei [...] nicht bleibt,« sondern »Deutschland anderen Ländern gegenüber noch weitere Forderungen stellen und sich andere Länder einverleiben wird und dass deshalb ein Krieg unvermeidlich ist«. Hitler-Gegner war er spätestens seit seinem Beitritt zum RFB 1928/29 gewesen. Auch nach der Machtübergabe an die deutschen Faschisten verweigert er den Hitler-Gruß. Die Diskriminierung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden widert ihn an.(3) Seine Gegnerschaft verstärkt sich in jenem Maße, wie er bemerkt, dass unter der faschistischen Herrschaft »die Löhne gesenkt und die Abzüge größer wurden« und »die Arbeiterschaft [...] unter eine[n] gewissen Zwang« gesetzt wird.(4) Mit diesen Feststellungen ist er nicht allein: bei Gesprächen in »Betrieben [...], in Wirtschaften und während der Bahnfahrt« vergewissert er sich, »dass deswegen die Arbeiterschaft gegen die Regierung »eine Wut« hat.«
In Anbetracht dieser drückenden Verhältnisse und der westlichen Appeasement-Politik gegenüber der aggressiven deutschen Außenpolitik kommt Elser zu
dem Schluss, dass diese missliche Lage »nur durch eine Beseitigung der augenblick-
lichen Führung geändert werden könnte.« Nach der Beseitigung der obersten Führungsriege der Nazis würden, so hofft er, »andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, »die kein fremdes Land einbeziehen wollen« und die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden.« Dabei macht er sich keinerlei Illusionen: die faschistische Herrschaft ließ sich auf diesem Wege nicht beseitigen. Vielmehr ist er davon überzeugt, »dass der Nationalsozialismus die Macht in seinen Händen hatte und dass er diese nicht wieder hergeben werde.« Seine Hoffnungen aber liegen darin, »dass durch die Beseitigung [...] eine Mäßigung in der politischen Zielsetzung eintreten wird.«
»i mach des no, i du’s«
Während der sog. Sudetenkrise verfestigt sich der Gedanke einer Beseitigung der faschistischen Führung und läßt Elser »nicht mehr zur Ruhe kommen«. Als nach dem Münchner Diktat entgegen seiner Überzeugung »in der Arbeiterschaft wieder Ruhe ein[kehrt]«, fasst er den Entschluss, »die Beseitigung der Führung selbst vorzunehmen.« »Möglich sei« das nur, soviel ist klar, »wenn die Führung sich bei irgendeiner Kundgebung befindet.« Aus der Zeitung erfährt er, dass das nächste
öffentliche Zusammentreffen der Nazi-Führung zum alljährlichen Gedenken an den gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch(5) von 1923 stattfinden wird. Also meldet er sich krank, reist nach München und besucht den Bürgerbräukeller im Anschluss an die Gedenkveranstaltung.
Zurück in der Armaturenfabrik, beginnt er über mehrere Monate hinweg Zünder und Pulver aus der Versandabteilung zu entwenden. Währenddessen konkreti-sieren sich seine Anschlagspläne. Im März 1939 kündigt er nach einem Streit mit einem Meister bei Waldenmaier und fährt darauf erneut nach München, um den Bürgerbräukeller näher auszukundschaften. Aus München zurückgekehrt, sucht er sich gezielt eine Hilfsarbeit im Steinbruch und beginnt in der ersten Woche mit dem Diebstahl von Sprengstoff. Nach einem Arbeitsunfall im Mai, bei dem ihm ein losgelöster Stein den linken Fuß bricht, kündigt er beim Steinbruch und widmet seine Zeit fortan Skizzen, Modellsprengversuchen im elterlichen Obstgarten und Konstruktionszeichnungen. Anfang August zieht er nach München und beginnt nach wenigen Tagen mit der Vorbereitung des Attentats.
Dazu versteckt er sich mehr als dreißig Nächte in einem Abstellraum des Bürgerbräukellers, nachdem er dort zu Abend gegessen hat, um nach dessen Schließung die Säule hinter Hitlers Redepult auszuhöhlen. Tagsüber arbeitet er an der endgültigen Konstruktion und anschließend am Bau seiner »Höllenmaschine«. Die nächtlichen Aushöhlarbeiten belasten ihn körperlich so stark, dass sich seine Knie bald eitrig entzünden und er Anfang Oktober einige Tage bettlägrig ist. Diese Verzögerung führt dazu, dass die Installation der Bombe beim Auszug aus der Münchner Unterkunft noch nicht abgeschlossen ist. In der ersten Novemberwoche baut Elser die »Höllenmaschine« in die Säule ein. Um ganz sicher zu gehen, hat er zwei Uhrwerke eingebaut, die unabhängig voneinander die Sprengladung zünden sollten. Da sein Erspartes aufgebracht ist, übernachtet er im Freien oder dem Lager eines Schreiners.
a real inglourious basterd
Elser wählt eine Situation, wie sie Quentin Tarantino in Inglourious Basterds filmisch Wirklichkeit werden ließ: Sieht man von Göring ab, der mit dem Überfall auf Polen zu Hitlers Stellvertreter ernannt worden war, ist die gesamte NS-Führungsriege anwesend. Hitler steht am Pult vor der mit der »Höllenmaschine« gespickten Säule, um ihn herum sitzen dicht an dicht Goebbels, Himmler, Heydrich, Heß, Bormann, Frick, Ley, Rosenberg, Frank und Streicher. Elser hat die »Führer-Säule« bewusst gewählt, »weil die bei einer Explosion umherfliegenden Stücke die Leute am und um das Rednerpult treffen mussten« und außerdem »vielleicht die Decke einstürzen könnte.« So ist es denn auch. »Ich war etwa bis zur Mitte des Saales gekommen, als es einen ohrenbetäubenden Knall gab«, schilderte Max Schultz, einer der 63 Verletzten die Explosion von Elsers Bombe. »Ich wurde bis zum Saal-eingang zurückgeschleudert. Ich spürte, dass mir das Blut über das Gesicht lief. [...]
Fremdkörper [...] hatte die Backe durchschlagen und einige Zähne ausgerissen. [...] [I]ch sah, dass das Dach fehlte und die Sterne hereinleuchteten. [...] Im Krankenhaus [...] stellte man dann fest, dass ich nicht nur mehrere Kopfverletzungen hatte, sondern auch Splitterwunden am Oberschenkel, in der
und am Bauch.«
Allein, es trifft nicht die Richtigen. Hitler hatte mit seinen engsten Mitarbeitern den Saal dreizehn Minuten zuvor so hastig verlassen, dass sie die Zeche prellten. Die meisten Anwesenden merken seinen verfrühten Abgang zunächst gar nicht. Hitler will wegen der anlaufenden Kriegsvorbereitungen gegen Frankreich schnellstmöglich wieder in Berlin sein.(6) Da das schlechte Wetter den Rückflug unmöglich macht, wird für 21.35 Uhr ein Sonderzug bereitgestellt.
So kommt es, dass sich der Saal zum Zeitpunkt der Explosion schon halb gelehrt hat. An der »Führer-Säule«, deren Fahne, »steif vor Schmutz«, »immer wieder [...] Leute […] begeistert küssten«, sitzen nur noch Angehörige von SA und NSDAP, trinken und »rede[n] wie der Goebbels persönlich.« Die Explosion schleudert die Kellnerin Maria Strobl durch die Pendeltüren aus dem Saal. »Hinter mir war die schwere Saaldecke mit den fünf mächtigen Leuchtern herabgestürzt. Sie hatte die Männer [...] unter sich begraben.«(7) Neben den sieben Männern stirbt bei der Explosion auch die Aushilfskellnerin Maria Henle. 63 Personen werden verletzt, 16 von ihnen schwer.
Als Elsers Bombe explodiert, besteigt Hitler gerade den Zug nach Berlin. In Nürnberg wird er über den Vorfall informiert, will erst an eine Falschmeldung glauben, sieht sein frühes Verlassen dann aber als Bestätigung dafür, »dass die Vorsehung mich mein Ziel erreichen lassen will.«
Gefangennahme und Ermordung
20.45 Uhr, 35 Minuten vor der Detonation und 22 Minuten bevor die NS-Führung den Saal verlässt, wird Georg Elser wenige Meter vor der Schweizer Grenze vom deutschen Zollgrenzschutz festgenommen. Er macht sich verdächtig, da er neben einer abgelaufenen Grenzkarte eine Ansichtskarte des Bürgerbräukellers, ein Abzeichen des RFB, eine Beißzange und Teile eines Zünders bei sich trägt. Das Verhör in der Konstanzer Gestapo-Zentrale dauert bis in die frühen Morgenstunden. Das nur einseitige Verhörprotokoll endet mit der Einschätzung, es könne »nicht ausgeschloßen werden, daß Elser als Täter in Betracht kommt.« Am darauffolgenden Tag wird der »zähe Bursche« nach München gebracht und dort »verhört«: »Unter wüsten Beschimpfungen trat Himmler den gefesselten Elser schwer mit den Stiefeln in den Leib, dann ließ er ihn von einem [...] Gestapo-Mann in den angrenzenden Waschraum [...] zerren, wo er von diesem mit einer [...] Peitsche [..] traktiert wurde, so dass er vor Schmerzen aufbrüllte, dann wurde er wieder im Geschwindschritt vor Himmler gebracht, der ihn abermals trat und beschimpfte«, schilderte Alfred Böhme, Chef der Münchner Kriminalpolizei, die sich fortlaufend wiederholenden Misshandlungen. Im Steinbruch des KZ Buchenwald werden zugleich 21 Juden »aus Rache« ermordet und allen anderen Jüdinnen und Juden des Lagers für drei Tage die Nahrung entzogen. In der Nacht vom 13. auf den 14. November gesteht Elser erschöpft die Tat. Es folgt die Verlegung nach Berlin. Anfang 1941 wird er als »Sonderhäftling des Führers« ins KZ Sachsenhausen, Anfang 1945 ins KZ Dachau verlegt. Am 5. April befiehlt Gestapo-Chef Müller im Auftrag Hitlers, Elser beim nächsten alliierten Luftangriff auf München oder die Umgebung von Dachau »in absolut unauffälliger Weise […] zu liquidieren.« Der Befehl trifft am 9. April in Dachau ein und wird noch am gleichen Abend vollstreckt. Gegen 23 Uhr wird Johann Georg Elser von dem auf »derartige Morde« spezialisierten SS-Oberscharführer Theodor Bongartz per Genickschuss ermordet und seine Leiche am darauffolgenden Tag im Krematorium verbrannt. Oberscharführer Fritz geht anschließend zu Elsers Zelle, um sich dessen selbstgebastelte Zither zu holen. »Als Fritz über den Gang ging,« erinnert sich der Wachsoldat Franz Lechner, »streifte er mit dem Daumen über die Saiten. Ein schauriger Akkord klang auf. Es war wie ein Schrei, der die offenstehenden Zellen füllte.« In der Woche darauf beginnen mit der sog. Evakuierung des KZs die Todesmärsche. Bongartz wird, als Wehrmachtssoldat getarnt, von amerikanischen Soldaten gefangen genommen und verstirbt eine Woche darauf aufgrund einer Krankheit im Kriegsgefangenenlager.
Kontroverses Gedenken
Die Erinnerung an Georg Elser und sein Attentat hat im Laufe der Geschichte viele Wandlungen durchgemacht. Seine Heimatgemeinde Königsbronn wurde im Volksmund nur noch »Attentathausen« genannt. Alle Personen mit Kontakt zu Elser wurden verhört, manche wochenlang, einige wurden sogar inhaftiert oder saßen im KZ.(8) Elsers Freunde bekamen von den Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu hören, man brauche keine Freunde, »die einen an den Galgen bringen können!«
Nach dem Krieg wurden verschiedene Gerüchte verbreitet. Elser sei SA- oder SS-Angehöriger gewesen und habe das Attentat auf verschiedene Befehle hin inszeniert oder er habe das Attentat im Auftrag verschiedener ausländischer Geheimdienste oder inländischer Untergrundorganisationen ausgeführt. Bereits die NS-Propaganda hatte das Attentat dem in der Schweiz lebenden Otto Strasser und dem britischen Secret Service angelastet. Nach dem gewonnenen Krieg sollte Elser zum Nachweis dieser Verbindungen ein Schauprozess im eroberten London gemacht werden. Seine Mutter kämpft bis zum ihrem Tod gegen diese Verleumdungen ihres Sohnes an.
Anders verhielt sich der Steinbruch-Besitzer und NSDAP-Ortsgruppenleiter Georg Vollmer. Er hatte wegen des fahrlässigen Umgangs mit Sprengstoff bis 1941 im KZ Welzheim gesessen. Als er nach dem Krieg eine Wiedergutmachung für seine KZ-Haft verlangte, erklärte er sich selbst zum Mitwisser und Sprengstofflieferanten Elsers. 1959 kam Günter Peis, einer der Pioniere des investigativen Journalismus, durch die systematische Befragung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu dem Schluss, dass Elser ein Einzeltäter gewesen sei.(9) Fünf Jahre darauf entdeckte der Historiker Lothar Gruchmann die vollständigen Gestapo-Verhörprotokolle und veröffentlichte sie 1970 unter dem Titel Autobiographie (sic!) eines Attentäters. Damit ließ sich die Alleintäterschaft Elsers endgültig beweisen.
In der offiziellen Gedenkpolitik der Bundesrepublik wie auch der DDR spielte das Elser-Attentat lange Zeit keine Rolle. Vielmehr strengte der CSU-Bezirksverband Oberfranken 1950 eine gerichtliche Ermittlung gegen ihren politischen Konkurrenten Alfred Loritz (WAV) an, welcher sich u.a. im Spiegel und der Süddeutschen Zeitung als »Leiter des Attentats« profiliert hatte, da dieser sich in jenem Fall einer »strafbaren Handlung schuldig gemacht habe«. Der konservative Historiker Joachim C. Fest handelte 1973 in seiner 1438-seitigen Hitler-Biographie Elsers Attentat mit nur einem Satz ab, ohne dessen Namen überhaupt zu erwähnen. Es blieb somit dem französischen Professor André Bogaert und dem amerikanischen Historiker John Toland vorbehalten, die beiden ersten Biographien über Elser zu veröffentlichen. 1987 findet die Ausstellung Das Attentat am Ort des ehemaligen Bürgerbräukellers statt, im Jahr darauf gründet sich ein Georg-Elser-Arbeitskreis. Mit der Sonderausstellung Ich habe den Krieg verhindern wollen der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die im Folgejahr zur Grundlage der Georg-Elser-Gedenkstätte in
önigsbronn wurde, wurde das Gedenken an Elsers Tat ab 1997 zum Bestandteil der offiziellen deutschen Gedenkpolitik. Die Reaktion rechtskonservativer Kräfte ließ nicht lange auf sich warten.
Der Vorwurf des »moralischen Versagens«
Am 8. November 1999, dem 60. Jahrestag des Attentats, veröffentlicht der Lehrbeauftragte am Institut für Politikwissenschaft der TU Chemnitz, Lothar Fritze, einen auf seiner Antrittsvorlesung basierenden Artikel über Elser in der Frankfurter Rundschau. Darin will er dessen Tat moralisch bewerten, um »auf die gänzlich unkritische Verehrung Elsers hinzuweisen, die sich in den Jahren davor einge-bürgert hatte.« Warum ausgerechnet Elser? »Das war reiner Zufall«, winkt Fritze ab, und erklärt anschließend, weshalb es vielleicht doch nicht so rein zufällig war: »Ich hatte gerade meine Habilitationsschrift Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus abgeschlossen, in der es ganz wesentlich um die Frage geht, inwieweit es erlaubt ist, schlechte Mittel zur Erreichung guter Ziele einzusetzen. In dieser Zeit stieß ich auf einen Artikel von Peter Steinbach zum Elser-Attentat auf Hitler.« Vom »menschliche[n] Versagen im diktatorischen Sozialismus« zum Attentat auf die NS-Führung? Ist das nicht etwas weit gesprungen?
Nein, ist es nicht. Zumindest, wenn man die ideologische Heimat Fritzes berücksichtigt. Der studierte Betriebswirt ist seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT), das seit über zwanzig Jahren vorwiegend die Erforschung der DDR unter der Prämisse der Vergleichsetzung der »beiden Diktaturen in Deutschland« betreibt.(10) Dessen neuer stellvertretender Direktor, der zu diesem Zeitpunkt gerade frischgebackene Dresdner Politikwissenschaftsprofessor Uwe Backes,(11) bestärkt Fritze in der Veröffentlichung seiner Bewertung Elsers in der Frankfurter Rundschau.
Darin gibt sich Fritze zunächst großzügig. Er »unterstell[t]«, dass ein Tyrannenmord »nicht grundsätzlich abzulehnen ist« und damit durchaus »zustimmungsfähig sein kann«. Allerdings stellen sich für ihn auch bei der »Verfolgung eines (so hatten wir unterstellt) akzeptablen Ziels« gewisse »Ansprüche an die Qualität der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Attentäters«. Denn immerhin musste man bei dem Attentat im Bürgerbräukeller damit rechnen, dass auch das »Lebens- und Unversehrtheitsinteresse« Unschuldiger - »tatsächlich hatten in der Nähe der Rednerkanzel auch Angehörige der Opfer [sic!] des Hitler-Putsches von 1923 Platz genommen« - verletzt werden könnte.(12) Doch auch wenn Elser nicht den Tod von acht Menschen »schuldhaft verursacht« hätte, bliebe für Fritze »das Urteil dasselbe«.(13)
Warum? Fritze meint, auch nur »eventuell betroffene« »Unbeteiligte« würden für ihre Zustimmung »gewisse Anforderungen an die Kenntnisse, die geistige Verfassung und den charakterlichen Zuschnitt eines potentiellen Attentäters stellen.« Und da kann Elser in seinen Augen nicht mithalten. Denn wie konnte schon ein »Durchschnittsbürger«(14) - der seit 1936 von der geheimen Rüstungsproduktion in einer Armaturenfabrik wusste - »nach dem Münchner Abkommen« - sowie der Zerschlagung der Rest-Tschechosloswakei und des Überfalls auf Polen - »begründet mutmaßen, daß ein Krieg, für den Hitler verantwortlich sein wird, »unvermeidlich« sei?«(15) Es erscheint Fritze zumindest im Falle Elsers als »durchaus fraglich«, weil es sich bei diesem seiner Auffassung nach »um jemanden handelt, der […] wenig Ahnung von der nationalsozialistischen Ideologie hatte, der sich offenbar niemals mit einschlägigen Büchern oder Zeitschriften beschäftigte und sich mit politischen Fragen nie eingehend befaßt hat.«(16)
Von »diese[n] Sachverhalte[n]« zieht Fritze nun »Rückschlüsse auf die Qualität seiner Überzeugungs- und Willensbildung« und begründet »den Verdacht, daß der Täter seine politische Beurteilungskompetenz überschritten hat.« Wenn aber die Entscheidung zum Attentat nach Auffassung Fritzes nicht als »Resultat einer kenntnisreichen, sachorientierten und nüchternen politisch-moralischen Kalkulation zu begreifen« sei, bleibt - man sorgt sich schließlich um die »Qualität der Willensbildung und Entscheidungsfindung« - eine »erhebliche Unsicherheit, welches der Elserschen Motive für die Tat letztlich ausschlaggebend war.« Denn eines darf man nicht vergessen: Elsers »gegnerische Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus datierte […] schon von vor 1933 und speiste sich maßgeblich aus der Auffassung [sic! s.o.], die Verhältnisse für die Arbeiterschaft hätten sich nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verschlechtert.«
Ist ein sich selbst als »Kunsttischler« bezeichnender schwäbischer Schreinergeselle und Hilfsarbeiter, der nur sieben Jahre die Schule besucht hatte und zudem noch mit den Kommunisten sympathisierte ein ehrbarer Attentäter?(17) Nicht für Fritze. Dieser stellt vielmehr fest, »daß wohl kaum einer von uns bereit wäre, einer Person von der Kompetenz Elsers die Berechtigung zuzubilligen, Gefahren die sie sieht, auf eine Weise abzuwehren, die uns notfalls in den Tod schickt.«
Nimmt man alle von Fritze angeführten Kriterien ernst, ist eigentlich nur ein Attentäter wie aus der Widerstands-Aristokratie des 20. Juli 1944(18) akzeptabel. »Nur Persönlichkeiten [!] in verantwortlichen Positionen, also Amtsträger,« ist er überzeugt, »könnten die nötige Kenntnis der Sachlage überhaupt haben«. Attentäter also, die selbst zum engeren Kreis der politischen oder militärischen Führung gehörten oder schon länger in die NS-Politik involviert waren. Eine gegenläufige Einschätzung Elsers nahm übrigens genau ein solcher ein: Hans Bernd Gisevius (DNVP/NSDAP/Gestapo/Abwehr), einer der sog. Septemberverschwörer und Mitwisser des Attentats vom 20. Juli 1944,(19) will seinem Freund und mutmaßlichen Mitverschwörer Arthur Nebe(20) gegenüber auf der Flucht über Elser geäußert haben: »Das ist der einzige unter uns [sic!], der es erfasst hatte und demgemäß handelte. […] Gerade deswegen werden die feinen Leute nichts von ihm wissen wollen, auch nicht hinterher … Sie haben übrigens ganz recht damit, sie handeln völlig instinktsicher.«
Die öffentlichen Reaktionen auf Fritzes Beitrag zum 60. Jahrestags des Attentats sind überwiegend durch eine scharf ablehnende Kritik geprägt. Dieser gibt sich ob der »Anfeindungen« überrascht und wähnt sich - das ist begrifflich im Rahmen der NS-Forschung besonders hervorzuheben - einem »Frontalangriff« der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ausgesetzt, der »die Vernichtung« seiner wissenschaftlichen Existenz zum Ziel habe. Fritze erscheint das alles »umso unverständlicher«, als er zur Bewertung eines Attentats auf die politische Führung im Faschismus doch »ausschließlich […] Maßstäbe zugrunde gelegt hatte, die in unserer Gesellschaft allgemein akzeptiert sind.« Das ist auch dem wissenschaftlichen Beirat des HAIT aufgefallen, der in einer Krisensitzung(21) sein »scharf ablehnendes Votum« - bei einer Gegenstimme (Eckhard Jesse) - auf das Argument stützt, »moralische Universalien« verlören ihre Geltung unter den Bedingungen totalitärer Herrschaft. Diese Einschätzung untergräbt aber Fritzes Beurteilungsgrundlage, weshalb jener die »Objektivität« seiner Kolleginnen und Kollegen instinktiv als »verräterisch« geißelt.
Zweierlei Volkspädagogik
Hinter Fritzes Kritik der Gedenkstätten-Volkspädagogik steckt wie so oft selbst eine eigene. »Indem man ein Handeln in der Öffentlichkeit oder in Gedenkstätten als beispielhaft würdigt, wird es allen, die sich in einer relevant ähnlichen Situation befinden, zur Nachahmung empfohlen«, kündet der Verlagsprospekt. Eine relevant ähnliche Situation? Als Fritze seine Antrittsvorlesung hält, führt Deutschland seit drei Wochen wieder einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Jugoslawien. Da Fritze »nicht der diktatorische Zwangscharakter des NS-Regimes«, sondern »die aggressive Außenpolitik Hitlers« als hauptsächliches Tatmotiv des »KPD-Wähler[s] Elser« gilt, hegt er die Befürchtung, dass diesem Vorbild nun »Unberufene [sic!] [...] allzu gern nacheifern« könnten.
Es zeigte sich rasch, dass diese Angst unbegründet war. Doch 2009, zum 70. Jahrestag, macht Fritze eine neue Gefahr aus. Vor dem Hintergrund der seit zwei Jahren andauernden Weltfinanzkrise und der sich abzeichnenden Euro-Krise entdeckt er, »dass es Elser nicht nur um Gefahrenabwehr ging. Er war - wohl im Unterschied zur Bevölkerungsmehrheit – mit der sozialen Entwicklung nach 1933 unzufrieden und glaubte, durch die Beseitigung der aktuellen Führung auch eine Verbesserung der Lage der Arbeiter herbeiführen zu können.« An eine Ehrung Elsers heftet sich nun die neue Furcht: »Jeder also, der auf der Grundlage eines relevant ähnlichen Motivkomplexes glaubte, die Staatsführung beseitigen zu müssen, wäre demnach zu einem Vorgehen der Elserschen Art berechtigt.«
Der verfassungskonforme Attentäter
Fritzes klassistischer Antikommunismus bleibt ein Stachel in der Einbindungspraxis der offiziellen Geschichtspolitik. Jutta Limbach, emeritierte Jura-Professorin und ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, bemüht sich in ihrem Eröffnungsvortrag der Georg-Elser-Woche in Bremen 2003 um eine verfassungskonforme Beurteilung Elsers »im Lichte des legalisierten Widerstandsrechts«. Als Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble 2008 die Elser-Büste am Eingang des von ihm geleiteten Ministeriums einweiht, gehört Elsers Attentat bereits »zu den Voraussetzungen für eine zweite Chance Deutschlands.« Zwar haben »wir Deutschen [...] uns mit dem Widerstand schwer getan«, doch heute darf Elser »zu denen [gehören], die es uns leichter machen, auf die Geschichte unseres Landes zurück und hoffnungsvoll nach vorne zu blicken.«
Den vorerst weitgehendsten Schritt der Einbindung Elsers vollzieht im März diesen Jahres der CDU-Bundestagsabgeordnete und Präsident des Reservistenverbandes der Bundeswehr, Roderich Kiesewetter. Als dieser zur »Antwort des ländlichen Raums auf die Münchner Sicherheitsgespräche«, den dritten Königsbronner Gesprächen für
Außen- und Sicherheitspolitk, läd, will er mit der Veranstaltung auch »das Wirken des Königsbronners Georg Elser würdigen«. Denn Elser, so meint der als Jahrgangsbester mit dem General-Heusinger-Preis(22) der Führungsakademie der Bundeswehr Ausgezeichnete, habe sich, »auf sich allein gestellt, zum Kampf gegen ein verbrecherisches System entschlossen.« Sein Handeln sei eine Mahnung an die heutige Außen- und Sicherheitspolitik, sich immer (nicht weiter definierten) »Werten ver-
[zu] fühlen«. Elsers Versuch, aus einem pazifistischen Motiv die NS-Führung hochzujagen, wird bei Kiesewetter zu »Zivilcourage«, die wir »auch heute brauchen«.
Im 75. Jahr nach dem Attentat redet so der Präsident vom Reservistenverband
jener militärischen Organisation, welche im Jahr zuvor erst einen der ihren vom Oberst zum General befördert hatte, nachdem dieser mit der Anweisung »Vernichten« den Tod von 142 Personen, die überwiegende Mehrheit Zivilisten, im afghanischen Kunduz - Fritzes Jargon nach - »schuldhaft verursacht« hat, an dessen »Qualität der Willensbildung und Entscheidungsfindung«(23) aber kein deutsches Gericht etwas Kritikwürdiges fand.
Der einsame Attentäter
Sucht man nach Anhaltspunkten, die eine Charakterisierung Elsers als couragierten Zivilbürger zuließen, fiele jedoch am ehesten die direkte Zeit vor und nach der Machtübergabe an die deutschen Faschisten darunter. Der eingangs erwähnte KPD-Parteileiter von Schnaitheim, Josef Schurr, schrieb nach dem Krieg, er und Elser hätten »noch manche Kleinaktion gegen die Nazis unternommen, ohne dass sie uns auf die Spur gekommen sind.« Es wären zwar »nur Einzelaktionen« gewesen, »hätte aber jeder Nicht-Nazi das Gleiche getan und das wäre bestimmt im Jahre 1932 und 1933 noch möglich gewesen - dann wäre vieles anders gekommen.« Auch das Heidenheimer VVN-BdA-Mitglied Josef Walzel erinnerte sich, dass Elser bei den »Schnaitheimer Kommunisten auch weiterhin ein- und ausging, dort selbst Anti-Hitler-Flugblätter und Plakate mitnahm und zu nächtlicher Stunde verteilte und anklebte«.
Die offizielle Gedenkpolitik steht hier jedoch vor dem Problem, dass genau diese im weiten Sinn noch zivilgesellschaftliche Praxis nicht vom »Durchschnittsbürger«, sondern vorwiegend von KommunistInnen, SozialistInnen, AnarchistInnen und linken GewerkschafterInnen ausgeübt wurde. Von Personengruppen also, deren weitere politische Zielsetzungen sich unter dem Postulat der sog. wehrhaften Demokratie nicht ohne Weiteres legalisieren lassen und die deshalb heute wie damals mindestens unter staatlicher Beobachtung stehen.
Im offiziellen Gedenken an Georg Elser bleibt dessen RFB-Mitgliedschaft deshalb oft ebenso unthematisiert wie seine Sympathie für die KPD. Bereitwillig werden die Gestapo-Verhörprotokolle als Autobiographie behandelt, wonach es sich bei Elser um einen einfachen und naiven Hilfsarbeiter gehandelt habe, dem die eher sozialdemokratischen Forderungen der KPD nach höheren Löhnen und besseren Wohnungen genügt hätten, »[s]ich kommunistisch zu orientieren.« Im hegemonialen neoliberalen Diskurs entwickelt diese Vorbildsetzung Elsers jedoch noch andere ideologische Qualitäten, indem sie seinen vereinzelten Widerstand, den Bedingungen faschistischer Herrschaft durchaus entsprechend, als (Selbst-)Organisationsmodell für heute preist und zugleich die Sicht auf kollektive Widerstandsformen versperrt.
Die Geschichtsschreibung und Gedenkpolitik der DDR ignorierte Elser aus verwandten Beweggründen. Für sie wäre er der verhasste Prototyp eines kleinbürgerlichen Anarchisten gewesen. Zudem hätte die Ehrung eines Tyrannenmords vor dem Hintergrund der Stalin- und auch der Folgezeit durchaus unerwünschte herrschaftsgefährdende Effekte nach sich ziehen können.
Teilt man Walter Benjamins Überlegung, dass Revolutionen nicht wie von Karl Marx postuliert »die Lokomotiven der Weltgeschichte« sind, sondern vielmehr den »Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse« darstellen, wurde im Falle Elsers einer, der dem von Marx und Engels als revolutionäres Subjekt bestimmten Proletariat entstammte, selbst zum revolutionären Subjekt. Als proletarisches Subjekt bleibt Elser in seinem Deutungs- und Handlungshorizont dennoch klassengebunden. Zur Abwendung der ausgemachten Gefahr »glaubte er«, so Walzel, »bei den Kommunisten als d[er] revolutionärste[n] Vorhut und [den] schärfsten Gegner[n] der Nazis Unterstützung zu finden.« Da er, wie Schurr feststellte, in viel stärkerem Maße als diese »an einer Gewaltaktion gegen Hitler und seine Trabanten« interessiert war, wurde er schließlich zum Einzelattentäter.
Der britische Germanist Joseph Peter Stern orientierte sich zwar ebenfalls stark an den Gestapo-Verhörprotokollen, gelangte darüber jedoch zu dem vermutlich zutreffendsten Schluss, Georg Elser sei als »ein Mann ohne Ideologie« »Hitlers wahrer Antagonist« gewesen.