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„Hin und her und hin und her gerissen/
zwischen verstehen wollen und handeln müssen“
(Blumfeld)
Anlass
In dem Text „Linke Leipziger Zustände“ aus dem CEE IEH #208(1) wurde uns und anderen, nicht genauer genannten, Leipziger Gruppen vorgeworfen die „Idee einer im Kapitalismus herrschenden Totalität von Tauschwert“ (Zitat Text von Daniel Palm) zu vertreten. Diese müsse letztlich zu einer Vorverurteilung aller Formen widerständiger Praxis als Teil des falschen Ganzen und zu einer Blockierung weiterer emanzipativer Erfahrungen führen. Diese Erfahrungen, in denen Herrschaftsformen durchbrochen und alternative Möglichkeiten der Vergesellschaftung vorstellbar werden, seien jedoch, so der Autor, in einem weiteren Schritt gerade der Ausgangspunkt für eine Überwindung der bestehenden Verhältnisse. Erworben würden sie durch die Politisierung des eigenen Lebens; d.h. eine spezifische „richtige Praxis“, die darauf ziele, „jene Werte und Umgangsformen, um welche es ganz subjektiv geht, jeden Tag konsequent aufs Neue vorzuleben und ohne Herrschaftsanspruch weitergeben zu suchen.“ Konkret geht es dabei um anzueignende Räume, insbesondere Hausprojekte, selbstverwaltete Strukturen etc., in denen die Konturen einer besseren Gesellschaft entworfen und umgesetzt werden können. Bis dahin gibt es in diesem Text wenig, dem wir widersprechen würden, außer eben, dass diese Kritik auf uns – und insbesondere auf den diskutierten Text „Aufruhr im Gemüsebeet“ – zuträfe. Denn in diesem Text ging es uns nicht darum, als kritische Kritiker eine unausweichliche und umfassende Verdinglichung zu behaupten, um davon ausgehend anderen Akteuren ihre notwendigen ideologischen Verblendungen nachzuweisen; vielmehr ging es gerade um das spezifische Problem, ob und wie eine konkrete Praxis, nämlich die Intervention in die Blockupy-Proteste in der Form, eine Erfahrung ermöglicht, in der wir nach unseren eigenen Grundsätzen kooperieren können.(2)
Uns stellt sich jedoch die Frage, ob das, was eine Politisierung des eigenen Lebens für uns heißen würde, mit den vorhin beschriebenen Praktiken schon zureichend erfasst ist und ob es tatsächlich möglich ist, ohne weiteres zu bestimmen, was eine „richtige Praxis“ kennzeichnet. In der Tat: „Was wären Linke eben ohne solche Räume, in denen schon praktiziert werden kann, was eine bessere Gesellschaft ausmacht?“ Sie sind der Ausdruck einer spezifischen Form der Selbstermächtigung, da in ihnen der Versuch unternommen wird, konkrete Herrschaftsformen zu überwinden und bestimmte Lebensbereiche nach eigenen Kriterien einzurichten. In diesem Sinne lassen sie sich als eine konkrete Form widerständiger Praxis verstehen. Wer eine solche widerständige Praxis jedoch allein als konsequente und umfassende Umsetzung der eigenen „Werte und Umgangsformen“ in den eigenen Handlungszusammenhängen versteht, läuft gleichwohl Gefahr sich zeitlich zu überfordern, alle eigenen Handlungen unter Rechtfertigungszwänge zu stellen und sich in den alternativen Biotopen einzurichten, in denen diese Überzeugungen allgemein geteilt werden. Darüber hinaus sind solche alternativen Räume ungewollt exklusiv, schließen sie doch beispielsweise Szenefremde, oder Menschen, die nicht genug zeitliche Kapazitäten haben, aus. Dies führt dann gerade nicht zu einer umfassenden Politisierung des eigenen Lebens, sondern zu einer erweiterten Form der Privatheit, in der maximal nichts falsch, aber auch nicht mehr als sie selbst richtig gemacht wird.
Im Gegensatz zu dieser privatisierten Form von Praxis, die allemal notwendig, aber keinesfalls hinreichend ist, möchten wir im Folgenden das Primat der gesellschaftlichen Praxis als erkenntnistheoretische Grundlage kritischer Theorie geltend machen. Kritische, widerständige oder revolutionäre praktische Erfahrung ist so als Dreh- und Angelpunkt kommunistischer Aktion und als Bedingung kritischer Reflexion überhaupt zu verstehen. Nicht zu Letzt soll damit auf den Vorwurf des Theoriechauvinismus oder Theorieidealismus – d. h. der Annahme, von einer kritischen Warte aus sich selbst nicht mehr als (widerständig-)tätiges Individuum zu begreifen, sondern quasi-objektiv die Verdinglichung der anderen zu konstatieren – eingegangen werde, der gegenüber unserer Gruppe geäußert wurde.(3)
Von der Möglichkeit der Erfahrung zur reflexiven Praxis
Wenn, um beim Beispiel der linken Freiräume zu bleiben, davon gesprochen werden kann, dass Menschen diese erkämpfen, verteidigen und ihren Alltag darin organisieren, weil sie dort tendenziell bessere Erfahrungen machen, als ihnen der sich stets wiederholende Horror menschlichen Zusammenlebens in der Restgesellschaft bietet, dann ist darin schon viel über die Stellung der Praxis gesagt. Denn offensichtlich sind Menschen, die dies tun, in der Lage eine praktische Erfahrung zu machen, an denen sie sich stören, die Unbehagen hervorruft und die tendenziell unerträglich wird.
Macht einem die Monotonie der Lohnarbeit oder das rassistische Ressentiment in der Nachbarschaft wütend, so kommt man dazu diese Zustände für falsch zu halten und zu versuchen, die Erfahrung davon, was falsch ist, zu reflektieren. Dann kommt man dazu, zu versuchen, die Wirklichkeit so zu verändern, dass man unter diesen Empfindungen derselben nicht mehr zu leiden hat und dass andere nicht mehr darunter leiden müssen. Politisierung heißt dabei also, von den eigenen konkreten Unrechtserfahrungen und Beschränkungen auszugehen, die wir erleiden.
Das es nun aber den besonderen Individuen möglich ist, dieser Erfahrung gewahr zu werden, verweist selbst auf eine basale Prämisse widerständiger Subjektivität und Kritik. Denn wer, wie uns von Daniel Palm im CEE IEH vorgeworfen wird, von einer alles determinierenden Totalität des Tauschwerts ausgeht, widerspricht sich im Vollzug dieser Aussage selbst. Denn wäre dem so, wie wäre dann Kritik an der warenförmigen Gesellschaft überhaupt noch möglich? Wenn die Menschen eben keine besonderen Individuen mehr wären, sondern völlig als variables Kapital verdinglicht würden, dass heißt in ihrer warenförmigen Subjektform komplett aufgegangen wären, dann gäbe es auch keine Erfahrung mehr, die den Individuen als widersprüchlich und leidvoll entgegenkommen würde. Vielmehr muss doch von einer widersprüchlichen Totalität ausgegangen werden, die in der Dualität von Gebrauchswert und Tauschwert schon in der Grundkategorie kapitalistischer Vergesellschaftung, der Ware, begründet liegt(4) und welche die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und Kritik erst konstituiert. Diese Dualität schlägt sich eben auch in den Individuen als Widerspruch zwischen besonderem Mensch und abstrakter, warenförmiger Subjektform nieder und ermöglicht so ein Bewusstwerden dieser widersprüchlichen Form; z.B. in der Tatsache, dass, wie vermittelt auch immer, noch für die (zahlungskräftigen) Bedürfnisse besonderer Menschen produziert wird und nicht einfach nur abstrakter Wert, diese Gebrauchswerte aber nicht unmittelbar dem Gebrauch der Menschen zukommen. Leidvolle Erfahrung ist also in sehr vermittelter Weise dadurch möglich, dass es eine konkrete Gebrauchswertdimension gibt, die in entäußerter und dem irrationalen Zweck der Kapitalakkumulation subsumierter Weise existiert und die es anzueignen gelte. Käme dieser objektiven Widersprüchlichkeit keine Wahrheit zu, so wäre auch Kritik nicht mehr objektiv und so wären auch die konkreten Leidenserfahrungen entweder nicht da oder subjektive Spinnereien. Kritische Kritiker*innen also, die von einer allumfassenden Totalität und kompletter Verdinglichung sprechen, müssten auf der Stelle aufhören zu sprechen – oder sich wie magisch außerhalb dieser Gesellschaft befinden.
Politisierung selbst wird also schon durch Erfahrung gedrängt, die sich durch Praxis konstituiert und die selber wieder zur Praxis drängt. Dass nun aber die Leidenserfahrung nicht nur als bloßes Unbehagen im Individuum verstockt, sondern Auswege aus ihr gesucht werden, bedeutet schon einen Stand von reflexiver Theorie. Die Wirklichkeit drängt zum Gedanken und diesem Gedanken kommt gegenständliche Wirklichkeit zu. Keine Theorie ohne Praxis.
Zuerst richtet sich also unser Kampf immer gegen etwas. Er stellt sich gegen eine erfahrene Verwertungslogik, er ist antifaschistisch, antirassistisch, antisexistisch und so weiter. Wir grenzen uns ab gegen Strukturen und Institutionen, welche für uns das Falsche verkörpern, daraus entstanden sind und es reproduzieren. So zentral doch aber der Erfahrungsgehalt einer konkreten Politisierung ist, so beschränkt bleibt er auch, soweit man selbst nur in reflexartiger Reaktion auf die Verhältnisse verharrt. Notwendigerweise ist es die Erscheinungsebene kapitalistischer Vergesellschaftung, an der man sich stößt. Diese wiederum lässt nun ihrerseits viel Raum für Projektion oder ein Einrichten im Falschen, da die Verhältnisse selbst zu einem verkehrten, verdinglichtem Bewusstsein drängen. Wer die Widerlichkeiten des Jobcenters erlebt und sich an ihnen stößt, muss deshalb noch nicht ihre gesellschaftliche Bedingtheit und schon gar nicht die in ihm vollzogene strukturelle Logik der Verwertung erkannt haben. Und wer sich einen Freiraum erkämpft, ist nicht davor gefeit, ihn selbst bald in ein Laboratorium für zukünftige Ausbeutungstechniken verwandelt zu sehen.
Hierin zeigt sich natürlich keine unaufhaltsame Verfallstendenz, sondern zum einen, dass die Politisierung des eigenen Lebens eben die Politisierung sämtlicher Bereiche einschließen muss, in denen wir dieses Leben führen, die Schule, die Universität, die Lohnarbeit, Arbeitslosigkeit und mehr. Unser Handeln sollte die Überwindung aller Zustände zum Ziel haben, in denen der Mensch eine ausgebeutetes, ein unfreies Leben führen muss. Aber auch alle Zustände, in denen der Mensch verblendet existiert, sich seiner selbst nicht mehr bewusst ist, was bedeutet, dass er keine wirklichen Erfahrungen mehr machen kann, Erfahrungen, die über das Bestehende hinausweisen.
Wenn also diese Erfahrungen nicht als bloß individuelle und zufällige, sondern alle Lebensbereiche betreffende und als gesellschaftlich erzeugte zu deuten sind, die deshalb auch durch ein gemeinsames Handeln und die Erzeugung anderer Formen der Vergesellschaftung überwunden werden können, die also in ihrer kritischen Reflexion auf eine bestimmte Form von Praxis, nämlich eine – wenn auch nur dem Anspruch nach – revolutionäre Praxis drängen sollen, dann macht sich spätestens hier die Notwendigkeit nach einer kritischen oder revolutionären Theorie geltend. Denn leider ist es nicht so einfach, unter dem Beton den Strand zu entdecken. Wir können nicht alles Falsche von der bürgerlichen Gesellschaft wegkratzen und was bleibt, ist die befreite Gesellschaft.
Theorie – Erfahrung, Formanalyse, Ideologiekritik
Unsere Theorie ist also zunächst eine kritische. Indem wir durch sie für uns begreifen, wo es uns schlecht geht, und wo wir unfrei sind, durchbrechen wir ein Stück der Verblendung. Mit unseren Erfahrungen und denen Anderer sollte vorsichtig umgegangen werden, denn sie sind flüchtig und leicht zu überwältigen. Solange man selbst in diesen verstrickt ist, ist es möglich, aus den objektiven Gegebenheiten, Konflikte und Widersprüche abzuleiten. Die Verblendung wird da durchbrochen, wo wir die Konflikte erleben. Mit den Leidenserfahrungen anderer sollte deshalb auch von abgeklärten Kritikern empathisch umgegangen werden. Denn sie bilden die Bedingung der Kritik vielmehr, als der mahnende, ideologiekritische Zeigefinger, der die verdinglichten Subjekte ihrer Verblendung vorführt.
Wenn wir nun aber von erfahrender Praxis sprechen, auf die eine Theorie reflektiert, dann muss es, wenn wir eine revolutionäre Praxis anstreben auch um eine revolutionäre Theorie gehen. Dass heißt eine Theorie, die auf die Bedingungen der kategorialen Umwälzung reflektiert, ihr historisches Scheitern in sich aufnimmt und sich immer in Bezug setzt auf ihr letztes Ziel, nämlich die befreite Gesellschaft der freien Individuen.
Dabei bedeutet revolutionäre oder kritische Theorie für uns nicht, ein isoliertes Konfliktszenario oder die gesellschaftliche Totalität möglichst vollständig zu durchleuchten und von theoretischen Prämissen heraus Gegenwart und Zukunft „abzuleiten“. Theorie selbst hat nur einen nachträglichen Charakter. Sie ist in der Lage Vergangenes zu reflektieren. Revolutionäre Theorie beleuchtet einerseits das Vergangene und macht es nutzbar für das Projekt einer befreiten Gesellschaft, in dem es historisches Scheitern und mögliche Regression als denkbare Konsequenzen des eigenen, gegenwärtigen Handelns zu Bewusstsein führt. Andererseits versucht sie die vorliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen, um nicht blind und in falscher Konkretion gegen sie anzurennen.
Dieser wichtigen Rolle kritischer Theorie – Formanalyse und Ideologiekritik – muss aber vehement ihr Platz zugewiesen werden, der eben nur in der Reflexion praktischer Vergangenheit liegt. Theorieidealismus, der erst die vollkommene Verblendung auflösen will, um praktisch tätig zu werden, damit den handelnden Menschen nicht „die Praxis um die Ohren fliegt“, beraubt sich selbst seiner eigenen Grundlage, nämlich dem erkenntnistheoretischen Primat der Praxis.
In diesem Sinne sind auch bestimmte Formen kritischer Theorie, die sich in der radikalen Linken vorfinden lassen und die uns selbst im Text von Daniel aus dem CEE IEH vorgeworfen werden, problematisch.
Einerseits eine fatalistische Strukturlogik, die alle widerständigen Bewegungen danach abqualifiziert, dass sie sich nur an den Oberflächenphänomenen der Gesellschaft abarbeiten würden und nicht zum Wesen des Kapitalismus an sich vorstoßen würden – woran, könnte man fragen, sollen sich die Leute denn sonst abarbeiten, als an den Erscheinungen der Gesellschaft? Schließlich sind diese es ja, die den Menschen als tendenziell Falsches entgegentreten und vielmehr liegt ja, wie schon erwähnt, genau in diesem Abarbeiten die Möglichkeit den Schein zu durchbrechen, liegt eben in dieser praktischen Tätigkeit die Möglichkeit auf kritische Reflexion. Das diese sich natürlich nicht von alleine einstellt, sondern eventuell auch der Intervention und Kritik bedarf, versteht sich von selbst. Diese Strukturlogik führt aber erstens dazu, dass jegliche Bewegung, die nicht unmittelbar den Stand der vermeintlich absoluten Kritik einnimmt, keine Chance zugestanden wird, aus der Logik der Gesellschaft auszubrechen. Und zweitens, dass linksradikale Praxis sich eben nicht mehr von den konkreten Leiden konkreter Menschen aus denkt, sondern von einem abstrakten Standpunkt vermeintlich kritischer Durchsicht. Damit wird tendenziell auch der Erfahrungsgehalt von Kritik ausgehöhlt und sie selbst wird zur leblosen Phrase. Dagegen müsste gerade auf das prozesshafte von Bewegungen insistiert werden, die –welch Wunder –natürlich zunächst dem „falschen Ganzen“ immanent sind, es jedoch je nach der ihnen gegebenen Richtung nicht bleiben müssen. Das ist jedoch nicht zu Letzt von den in ihr agierenden Individuen abhängig – eine Tatsache, die strukturalistische Dogmatiker*innen gerne vernachlässigen.
Andererseits ist eine Ideologiekritik abzulehnen, die aktuelle, sich noch im Prozess befindende widerständige Bewegungen auf ihre verdinglichten Momente abklopft und ihr daraufhin ein tendenzielles Abgleiten in die Barbarei konstatiert. In diesem Verständnis von Ideologiekritik drückt sich ein prinzipielles Missverhältnis von Theorie aus, die in diesem Modus Zukünftiges schon deduziert hat. Politische Bewegungen werden nicht mehr als im Prozess und damit offen und von handelnden Subjekten abhängig begriffen, sondern als im Vorfeld schon gescheitert. Weshalb sich diese Ideologiekritik auch darin gefällt, sich nur noch in Bezug auf gesellschaftliche Bewegungen zu setzen, um das „Schlimmste zu verhindern“. Dieser Form der Ideologiekritik liegt die oben beschriebene Prämisse der totalen Verdinglichung zu Grunde. Wenn es kein Nicht-Identisches mehr gibt, so die nicht-durchschaute eigene Logik, so birgt auch nichts, was sich gesellschaftlich bewegt, das Versprechen von Befreiung. Die notwendige Konsequenz aber ist, dass solche Ideologiekritik sich selbst nicht mehr in einer Gesellschaft verorten kann, weil sie einen quasi-objektiven, vermeintlich nicht-verdinglichten Standpunkt einnimmt, den es so nicht geben kann. In dem Versuch, Widersprüche auf eine höhere analytische Ebene zu heben, lässt sie sich selbst, auch sprachlich, aus dem zu Untersuchenden heraus. Die Sprache dieser Kritik ist dann nicht mehr als die Sprache konkreter Personen in einem sozialen Kampf zu erkennen. Sie lässt jegliche Anteilnahme am konkreten Leiden, das politische Bewegung evoziert, vermissen und entdeckt sich selbst nicht mehr in den Erfahrungen der Anderen.
Der von Daniel Palm attestierte Theoriechauvinismus hat seine Gründe auch in diesem Missverhältnis, in dem das Theorie-Praxis Verhältnis zur ersten Seite falsch aufgehoben wird.
Trotzdem ist unsere kritische Theorie auch Ideologiekritik. Wir versuchen zu erklären, warum wir nicht immer in der Lage sind, das falsche Ganze zu sehen, und nur Ausschnitte daraus begreifen und damit zu den falschen Ergebnissen kommen. Wir versuchen den Schein, der uns umgibt, zu durchbrechen. Aber um wohin zu kommen? Was ist hinter dem gesellschaftlich notwendig falschen Schein? Ideologiekritik als revolutionäre Theorie und Kritik verdinglichten Bewusstseins kann verstehen lassen wie die materiellen Verhältnisse selbst vermittelt im Bewusstsein der Menschen liegen. Somit bietet sie die Möglichkeit verkehrtes Bewusstsein aufzubrechen und seine Bedingungen anzugreifen. So können wir mit unserer kritischen Theorie auch das (in uns) angreifen, was einer unreflektierten Praxis verwehrt bliebe. Die Bedingung der Möglichkeit von Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und so fort. Ideologiekritik kann also Praxis, die durch ein verblendetes Bewusstsein determiniert ist, als solche entlarven.(5) Damit kann sie auch in Frontstellung zu einer bestimmten Form der Praxis geraten. Sie sollte dies aber nicht tun, um den Menschen ihre falschen Bedürfnisse vorzuführen, sondern um den widerständigen Individuen die Bedingungen einer revolutionären Praxis auszuloten. Damit muss sie sich aber selbst als Teil eines politischen Prozesses begreifen.
Die Aporie der verstellten Praxis
Es ist ein Eierlauf, unsere Praxis und unsere Theorie voneinander getrennt beschreiben zu wollen, und keine der beiden ist wirklich vollständig oder wahr, wenn keine Verbindung erfolgt. Denn unsere Praxis weiß niemals, ob sie die wirkliche Praxis, also Teil einer Bewegung ist, die, da revolutionär, eine gesellschaftliche Transformation ist, oder dieser den Weg bereitet. Unsere Theorie reflektiert auf historisch konkrete Praxis und überprüft diese, ob sie tatsächlich emanzipatorisch war bzw. ist, oder nur eine weitere Anpassung des Menschen (uns) an neue Bedürfnisse kapitalistischer Produktionsweise. Unsere Theorie ist immer Reflektion auf Praxis, sie ist damit, innerhalb unserer politischen Bewegung, niemals zeitlos, pocht aber auf universale Prinzipien, mit welchen sie überhaupt erst in der Lage ist, Praxis zu kritisieren. Das heißt auch, bei aller Selbst-Verstricktheit in die Verhältnisse, den Anspruch objektiver Wahrheit, deren Maßstab die einzulösende Freiheit ist, nicht in Relativismus aufgehen zu lassen.
Wir wissen, dass unser Anspruch, revolutionär zu sein, in Zeiten formuliert wird, welche offensichtlich keine revolutionären sind und in der die historischen Erfahrungen von vielen Bewegungen, die in Regression endeten, aufbewahrt sind. Trotzdem ist unser Handeln und Denken immer darauf zu überprüfen, ob es Zustände ermöglicht, die eine gesamtgesellschaftliche Transformation weiter voranschreiten lässt. Die Theorie kann dabei nicht in die Zukunft schauen, sehr wohl aber in die Vergangenheit, und sie kann zeigen, was die falsche Bewegung und die falsche Praxis war und ist. Durch unseren Anspruch auf revolutionäres Handeln können wir eine Hypothese aufstellen, wie unser Handeln aussehen muss, damit es, das Falsche abschaffend, zur richtigen Bewegung wird. Ob es die revolutionäre Bewegung sein wird, wissen wir erst, wenn sie sich als eine solche herausgestellt hat, aber dass es eine prärevolutionäre Bewegung ist, wissen wir schon dann, wenn mehr und mehr Menschen zu sich kommen, die Verblendung durchbrechen und darüber hinaus schauen können. Unsere Praxis entwickelt sich und so entwickelt sich auch unsere Theorie, beides korrigiert sich. Dies hört sich fast so an, als gäbe es ein Bewegungsgesetz der Geschichte. Dies gibt es aber nicht. Revolution muss gemacht werden, sie wird nicht automatisch zu uns kommen, wir müssen sie erkämpfen. Das heißt auch, dass wir Räume schaffen müssen, in denen die Menschen aus der Verblendung heraustreten können. Wir müssen die falschen Zustände aufbrechen, Risse erzeugen, aber wir dürfen dabei nicht vergessen, welche Mittel wir anwenden. Unsere Theorie kann dabei keine Zukunft formen, kann keine neuen Menschen erzeugen, keine neuen Bedürfnisse erschaffen, keine Blaupause zeichnen, in welche wir die Menschen einsetzen können, damit sie frei und glücklich sind. So eine Blaupause gibt es nicht und es kann keine positive Beschreibung all dessen, was gut ist, geben. Das kann nicht Aufgabe von Theorie sein und schon gar nicht von politischen Gruppen, sondern muss in einem kollektiven, praktischen Prozess von jedem selbst entwickelt werden.
Wenn wir von einem Theorie-Praxis Verhältnis sprechen, das sich nie statisch konstatieren lässt, sondern sich immer gegenseitig einholt, wenn also die Praxis erst die Reflexion ermöglicht und die Reflexion erst eine möglich-richtige Praxis, dann brauchen wir, um Kritik an dieser Gesellschaft üben und ihre Abschaffung abstecken zu können, eine dem Anspruch nach revolutionäre Praxis, auf die diese Theorie reflektieren kann. Es nützt also tatsächlich nur begrenzt etwas, sich stundenlang über das Theorie-Praxis Verhältnis und die Möglichkeit der Abschaffung aller Herrschaft den Kopf zu zerbrechen, denn diese theoretische Frage beschränkt sich notwendigerweise an der Praxis und ihrem Erkenntnisgehalt. Nur sie schafft neue Bedingungen, die einen möglichen Ausbruch aus der irrationalen Logik dieser Gesellschaft bietet. Wenn das Denken sich also in Aporien verliert, so kann dieses Problem nicht in ihm immanent gelöst werden, sondern es bedarf der Änderung der Bedingungen des Denkens – nämlich der Praxis.
Adornos Diktum von der verstellten Praxis, dass von vielen gescheiten Apologeten ja heute immer noch gern angeführt wird, um sich in Ruhe der Selbstzirkulation der Gedanken zu widmen, kann deshalb auch nicht außerhalb der Zeit betrachtet werden, in der es entstand.(6) Und ohne die Bedeutung seines Erfahrungsgehalts – Auschwitz und der Stalinismus – zu delegitimieren, muss es uns doch heute im Zeichen der alternativlosen Existenz des Kapitalismus darauf ankommen, dass die Katastrophe nicht darin besteht, dass die Gesellschaft – die nur noch eine Verfallsform der bürgerlichen ist – von ihrer negativen Aufhebung bedroht ist, sondern dass sich durch sie hindurch und ganz akut mörderische Tendenzen Geltung verschaffen und immer weitere Katastrophen möglich sind. Dass es zwar immer noch Schlimmeres als diese Gesellschaft gibt, dass aber auch nicht viel mehr Gutes an ihr ist, dass es zu verteidigen gäbe.
Wenn wir aber von der Notwendigkeit der Umwälzung ausgehen, so ist das Paradigma der verstellten Praxis eine „self-fullfilling-prophecy“ und eine Absage an jede Möglichkeit der revolutionären Kritik schlechthin, die ja ihren objektiven Maßstab und einzige Daseinsberechtigung nur in einem Versuch revolutionärer Praxis finden kann. Erst, wenn wir unsere eigenen Erfahrungen mit anderen in Austausch bringen, wenn wir unsere bornierten sozialen Standpunkte verlassen, wenn wir Möglichkeiten der selbstbestimmten Organisation schon im hier und jetzt ausprobieren und darauf reflektieren und wenn wir empathisch mit den Bedürfnissen von Menschen umgehen und sie nicht in instrumenteller Absicht als Objekt einer Politik oder Kritik betrachten, sondern als Bedürfnisse von Individuen auf Augenhöhe, können wir die Bedingungen der Umwälzung finden und erweitern.
Die Anteilnahme der Theorie an konkreter-kritischer Praxis lässt sie erst von einem erfahrungslosen Abstraktum zu einer historisch-konkreten Kritik werden. Theorie ohne akute Praxis ist ahistorisch.
Folgerungen für unsere Praxis ergeben sich daraus zur Genüge. Eine mögliche wäre, die Trennung zwischen der kommunistischen Kritik, die in abgegrenzten Zirkeln als Hobby betrieben wird von der Monotonie und Erniedrigung, die einem im eigenen Leben zukommt, aufzuheben und beides als gegenseitigen Ansporn wahrzunehmen. Verortet man sich selbst wieder als Individuum mit konkreten Bedürfnissen, die diese Gesellschaft einem verwehrt und entdeckt man die Verzahnung, die Menschen mit anderen Problemen und Bedürfnissen mit einem selbst verbindet, so nimmt man sich auch selbst nicht mehr als Kommunist*in, dessen*deren letzter Zweck die Kritik ist, wahr, sondern als Individuum, dessen letzter Zweck seine eigene Befreiung ist, die von der Befreiung der Anderen abhängt und damit der kommunistischen Kritik bedarf.
Was also zu fordern wäre, ist eine politische Praxis, in der eine linksradikale Bewegung sich in gesellschaftliche Prozesse einmischt, statt sich von ihnen abzugrenzen – ohne sich dabei selbst zu verlieren. Eine Bewegung im Raum des Politischen also, in der nicht von vorneherein gesagt werden kann, ob man sich auf der richtigen Seite befindet, ganz einfach weil dies selbst erst Resultat eines Prozesses ist. Ergo also eine Praxis, die sich selbst nicht blind und kopflos verhält, aber der Theorie die Stellung zuweist, die ihr zukommt: Nicht identitärer Selbstzweck zu sein und Maßstab fürs linksradikale Gewissen, sondern notwendiges Korrektiv auf dem Weg zur Selbstermächtigung.