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Aktuelles Heft

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Roter Salon: Sozialrevolte oder Aufstand der Täterinnen?
Edo G & Reks
Phase 2 präsentiert: „Samstag ist der neue Montag“
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• politik: Amnesie im Raum.
• doku: Optimieren statt Überschreiten?
• doku: Wut & Bürger
• doku: Die Notwendigkeit einer kommunistischen Solidarität mit Israel
• doku: Mythos „Nakba“
• leserInnenbrief: Perfides Spektakel
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Wir dokumentieren an dieser Stelle aus Anlass des 65. Jahrestages der Staatsgründung Israels einen bereits fünf Jahre alten Text von Martin Dornis, ebenso nachfolgend ein Referat von Alex Feuerherdt.



Die Notwendigkeit einer kommunistischen Solidarität mit Israel

Folgender Text proklamiert, dass der Antisemitismus einschließlich seiner antizionistischen Variante nur in Verbindung mit einer radikalen Kritik an der Warengesellschaft wirksam bekämpft werden kann. Diese muss dazu aber etwas grundsätzlich anderes sein als gängiger „Antikapitalismus“, nämlich 1) ein Streiten für die Befreiung des Individuums, 2) ein Eintreten für gesellschaftliche Bedingungen unter denen sich Auschwitz nicht wiederholt und 3) ein Agieren für die Verteidigung Israels.

1. Problemaufriss

Im Jahre 2002 formulierte ich unter dem Titel „Für eine andere Israelsolidarität“ in der Zeitschrift „Incipito“ eine Kritik an dem, was ich damals als „Identitätsstiftung“ unter der israelischen Fahne bezeichnete(1). Dieser stellte ich damals entgegen: „Ein Fahnenappell war jedoch noch nie emanzipatorisch“. Damit sind wir beim ersten Problem kommunistischer Solidarität mit Israel: der Vorwurf der Identifikation (vgl. Punkt 6 dieses Textes). Folgender Text ist unter anderem auch als Absetzung von den damals vertretenen Positionen zu verstehen.
Im Kontext der aktuellen Debatten der Leipziger radikalen Linken zu den Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag Israels fragt Lilian in einem Leserbrief(2): „Ein bis auf die Zähne bewaffneter Staat hat bis heute die Auslöschung oder Vertreibung der dort lebenden Juden verhindern müssen – sind das Gründe zum Feiern?“ So banal gefragt, lässt sich nur banal antworten: Ja, dass es gelang diesen Staat zu gründen und ihn angesichts der sich gegen ihn richtenden Drohung „bis an die Zähne“ zu bewaffnen und damit „die Auslöschung oder Vertreibung der dort lebenden Juden“ zu verhindern, das sind tatsächlich „Gründe zum Feiern“ – was sonst? Der Leserbrief stellt in schlechter Abstraktheit Elend und Leiden in Israel in den Mittelpunkt der Argumentation – in Anlehnung an eine Position, die das Leiden schlechthin zum zentralen Widerstandsmoment macht, ohne dabei zu fragen, wer denn aus welchen Gründen leidet und wie dieses Leid begrifflich reflektiert wird. Die entscheidenden Fragen, um die sich eine solidarische Haltung zu Israel drehen muss, werden daher gar nicht erst gestellt: In welcher Konstellation steht besonderes Leid in Israel als besonderem kapitalistischen Land zum allgemeinen Leid in der kapitalistischen Welt? Wie ist das Leid auf seinen kritischen Begriff zu bringen? Diese Schwäche spitzt sich in der im Leserbrief formulierten Kritik an Aufklebern des Bündnis gegen Antisemitismus Leipzig (BGAL) zu. Einer von ihnen trug die Aufschrift: I love Herzl. Dies „bezeichnet und bemalt“ in den Augen der Autorin „förmlich das Desinteresse am Schutz der Juden im Kapitalismus“. Es hätte angeblich „wesentlich klügere und weitsichtigere Zionisten…“ als Herzl gegeben, lautet ihre Begründung. Diese Behauptung stößt uns auf eine zwingend notwendige Frage bei der Formulierung einer kommunistischen Solidarität mit Israel, die nach dem Wesen des Zionismus und der Besonderheit der Gründung des Staates Israel. In dieser Positionierung zu Herzl zeichnet sich ein fundamentales Missverständnis Israels ab. Letztlich steht zu befürchten, dass die Autorin Israel zu denken nicht in der Lage ist (vgl. Punkt 5).
Das trifft auf einen weiteren Beitrag in der aktuellen Debatte um Israel ausdrücklich nicht zu. Hannes Gießler(3) reklamiert auf einer Podiumsdiskussion für sich den von Hans Mayer geprägten Begriff des „Notzionismus“. „Ein solcher“ ist in den Worten des Referenten „[…] eine Parteinahme für Israel aufgrund von Antisemitismus und insbesondere Auschwitz“. Der Begriff des Notzionismus „schließt die Traurigkeit und Verbitterung darüber ein, in einer Welt leben zu müssen, in der Israel notwendig ist“. „Israel“, so der Referent weiter, wäre daher „kein Vorschein auf eine befreite Gesellschaft…, sondern das realpolitisch dringend erforderliche Eingeständnis ihres Scheiterns. Dieser Umstand muss dringend reflektiert werden, wenn der 60. Geburtstag Israels begangen wird“. Dass Israel überhaupt notwendig ist, gilt es nicht zu feiern, hierin ist dem Referenten zuzustimmen. Schließlich begründet sich diese Notwendigkeit dadurch, dass der Kapitalismus bisher nicht durch einen Verein freier Individuen abgelöst wurde, sondern in einigen Teilen der Welt in eine Vernichtungsgemeinschaft umgeschlagen ist. Dass es Israel angesichts der Zerstörungsgeschichte des Kapitals und der fehlenden Überwindung kapitalistischer Verhältnisse trotzdem gibt, ist dennoch ein Grund zum Feiern. Die Existenz Israels zu feiern, bedeutet nicht, die traurigen Umstände zu feiern, aufgrund deren Israel nötig ist, sondern nichts anderes, als zu feiern, dass es Israel gibt. Problematisch ist der Begriff des Notzionismus. Mit seiner Verwendung wird das Wesen des Zionismus verkannt. Dieser ist prinzipiell nur als Notwehr verstehbar, ein gesonderter Notzionismus daher nicht sinnvoll. Dem Referenten ist an diesem Punkt vorzuwerfen, das generelle Wesen des Zionismus nicht reflektiert zu haben. So verkennt er, dass der Zionismus gerade deshalb mit kommunistischer Kritik verbunden ist, weil er eine Notwehr gegen das Scheitern der Emanzipation ist. Israel verdeutlicht, 1) dass es die Gründe seiner Existenz noch gibt, nämlich die Unversöhntheit der Gesellschaft und 2), dass sich die zerstörerische Wucht nicht völlig durchgesetzt hat, es also noch Grund für Hoffnung auf eine Einlösung der Versöhnung gibt. Ein „Vorschein auf eine befreite Gesellschaft“ ist Israel nicht, weil dort irgendwas besonders menschlich eingerichtet wäre, sondern einfach weil dieses Land inmitten aller Unversöhnheit und gerade durch seinen selber in sich unversöhnten Charakter trotzdem existiert (vgl. Punkt 5).
Der Nahe Osten ist für Referenten des ehemaligen Bündnis gegen Rechts (BgR) auf bereits genannter Podiumsdiskussion als eine Projektionsfläche deutscher Schuld an Auschwitz zu betrachten(4). Weder über Israel noch über den Nahen Osten als solchen ließen sich daher korrekterweise relevante politische Aussagen treffen. Eine „radikale Linke“, auf die sich der Referent in seinem Vortrag bezog, müsse ausschließlich Deutschland, d.h. die deutschen Verbrechen thematisieren. Die Frage, ob und welche Projektionen zu Recht oder zu Unrecht erfolgen, ob es eine Wahrheit in der Projektion gibt und was als „deutsch“ gilt, bleibt leider aus. Daher muss unerkannt bleiben, dass das Modell deutsche Krisenlösung längst ein Exportschlager in aller Welt ist (vgl. Punkt 7).
Jule Nagel bezeichnet als Repräsentantin des Bundesarbeitskreises „Shalom“ in der Partei Die Linke ihr begrüßenswertes proisraelisches Engagement als ein Meeting zwischen „dunkelrot“ und „blau-weiß“(5). Bereits im Vortrag stellte sie berechtigterweise die Notwendigkeit heraus, sowohl gegen das Kapital als auch für Israel zu agieren. Dunkel bleibt allerdings, was sie unter Kapital versteht – aber genau darauf käme es an. Ausgelassen wird, dass Kapital nur mit Staat geht und dass Staat und Kapital in Deutschland im Nationalsozialismus samt Mob zur mordenden Gemeinschaft verschmolzen waren. Ein wirkliches Zusammentreffen von blau-weiß und dunkelrot müsste sich sowohl gegen den Staat (vgl. Punkt 3) als auch gegen das Kapital (vgl. Punkt 2) als auch gegen die deutsche Produktionsweise, also gegen das, was deutsch ist (vgl. Punkt 4), richten. Ein solches Zusammengehen könnte proisraelisches und kapitalismuskritisches Agieren nur als Einheit denken.
Folgende Punkte dienen mir im Folgenden als Leitfaden der Argumentation:

1. Trotz Ablehnung der Warengesellschaft ist im Falle Israels explizit die Verteidigung eines kapitalistischen Landes nötig (allgemeine Bemerkungen über Staatlichkeit und Nationalismus sind nur durch das Besondere des jeweiligen Staates, der jeweiligen Nation hindurch zu bekommen, pauschale Bekundungen à la „ich lehne jeden Nationalismus ab“ sind Ausweichmanöver vor den Herausforderungen kapitalistischer Vergesellschaftung im Zeichen ihres Umschlags in Vernichtung)
2. Kritischer Kommunismus kann und muss sich mit Israel trotz bzw. gerade aufgrund seines notwendig kritischen Verständnisses von Identität identifizieren. Eine prinzipielle Kritik am Identifizieren und die gleichzeitige Identifizierung mit dem Staat Israel stellen keinen logischen Widerspruch dar, gehören vielmehr untrennbar zusammen.
3. Auch bzw. gerade als in der Bundesrepublik Deutschland Lebender ist es nötig, trotz drohender „Projektion deutscher Schuld“ Grundlegendes über Israel aussagen und sich positionieren zu können.
4. Die Not, aus der heraus Israel gegründet wurde, ist anzuerkennen und trotzdem seine Existenz zu feiern.
5. Das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser, dass die israelische Staatsgründung mit sich brachte, ist nicht zu leugnen. Allerdings ist dieses Leid kein Grund, sich von der unbedingten Solidarität mit Israel auch nur einen Millimeter abbringen zu lassen.

2. Antisemitismus als potenzierter Fetischismus

Die kapitalistische Gesellschaft gründet auf dem Warentausch und der mit ihr verbundenen Art zu denken. Die Tauschenden glauben aufgrund ihres Agierens, ein Produkt habe natürlicherweise einen Wert. Das sich darin ein gesellschaftliches Verhältnis, nämlich das ihrer selbsterzeugten Unterwerfung ausdrückt, ist ihnen nicht bewusst. Der Wert spukt in den Köpfen als bewusstloses und dennoch gedachtes Ding herum. Er ist eine „objektive Gedankenform“ (MEW23 = Kapital Bd.1, S. 90), etwas, was nur in den Köpfen existiert, sich aber in den Köpfen notwendig als außer den Köpfen existierendes aufspreizt(6). Der Wert ist ein durch die Handlungen der Menschen im Kapitalismus erzeugter Schein. Aber dieser Schein bestimmt die Tauschenden in ihren Handlungen. Ihm kommt trotz seiner Scheinhaftigkeit Realität, d.h. Wirkmächtigkeit zu. Die kapitalistische Gesellschaft ist damit eine Gesellschaft des realen Scheins. Die Agierenden behandeln die Produkte wie Fetische, sie handeln so, als käme ihnen Wert zu. Damit bestätigen sie den realen Schein des Werts mit jeder Tauschhandlung und jedem Denkakt aufs Neue. Die Warengesellschaft formiert sich „hinter den Rücken und über den Köpfen“ der Produzenten, d.h. fetischistisch: die Menschen im Kapitalismus werden politisch und ökonomisch von einem Zusammenhang beherrscht, den sie selbst hervorbrachten.
Eine Warengesellschaft ist nur praktikabel, wenn es ein allgemeines Äquivalent als reale Allgemeinheit aller Waren gibt. Konstituiert sich ein gesellschaftlicher Zusammenhang über den Austausch von Waren, wie das im Kapitalismus der Fall ist, so setzt das notwendiger Weise Geld. Ohne etwas, womit sich alle Waren tauschen, gäbe es keinen realen Austausch. Jede Ware verdoppelt sich so in Ware und Geld, in dem sie ihren Wert ausdrückt. Dieselbe Sache erscheint dann zweimal: einmal konkret, als Gebrauchswert und einmal abstrakt, als Wert dieser jeweiligen Ware. Die Ware wird als Wesen mit doppeltem, sich streng widersprechenden Charakter begründet. Sie ist Einheit von materiellem Ding mit bestimmter Nützlichkeit, das aber gleichzeitig Träger von Wert und damit eines gesellschaftlichen Verhältnisses ist. Dieses ihr innewohnende widersprüchliche Wesen drückt sie im Tauschzusammenhang aus, indem sie ihre abstrakte Seite, ihr gesellschaftliches Wesen, an einer anderen Ware, ausdrückt. Damit deklariert sie sich scheinhaft zum reinen Gebrauchswert, die andere Ware hingegen ebenso scheinhaft zum puren Wertträger, zur dinglichen Erscheinung eines Verhältnisses. Damit erscheint dann der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang doppelt, einerseits konkret, als Gebrauchswerte in ihrer Nützlichkeit, andererseits abstrakt. Aber dieses Abstrakte drückt sich wiederum als etwas Konkretes aus, nämlich als Geld.
Als Geld wird das Äquivalent zum Ausdruck jedweder Gesellschaftlichkeit. Am Geld drückt sich als einem Ding der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang aus, den der Einzelne so in der Tasche mit sich umher tragen kann(7). Die über den Wert vermittelte Gesellschaft des realen Scheins drückt sich in gegensätzlicher Weise aus: einmal konkret und einmal abstrakt. Der gesellschaftliche Zusammenhang erscheint in diesen beiden Dimensionen. Diese Denk- und Wahrnehmungsweise legt sich als eine „Alltagsreligion“ (Detlev Claussen) über alle gesellschaftlichen Erscheinungen. Daraus resultiert die Tendenz, die geheimnisvolle Art der Warengesellschaft konkret zu machen. In der Warengesellschaft glauben die Menschen, dass die Juden hinter allem stehen, obwohl es der Wert ist, der sich universell an ihre Produkte heftet, sobald sie als Waren auftreten und ihnen Gesetze aufnötigt, die sie im Wesentlichen weder verstehen noch beeinflussen können(8).
Das in der Warengesellschaft entscheidende gesellschaftliche Verhältnis ist das Kapital.
Antisemitismus lässt sich daher nicht fassen, solange lediglich festgestellt wird, dass die Juden im Antisemitismus mit dem Geld in Verbindung gebracht werden. Der Wert ist nur wirklich als sich praktisch auf sich selbst beziehender, als Kapital. Als solches bezieht sich der Wert tatsächlich auf sich selbst, bezieht und vermehrt sich unter permanenter Einsaugung menschlicher Arbeitskraft. Es tritt den Produzenten als automatisches Subjekt, d.h. als sie anwendende und gleichwohl von ihnen erzeugte Maschinerie entgegen. Das ist die im Kapital erfolgende Zuspitzung fetischistischer Verkehrung, der Kapitalfetisch. Das Kapital setzt notwendig die tatsächliche Unterwerfung der Produzenten unter das von ihnen selbst zuwege gebrachte gesellschaftliche Verhältnis. Als variables Kapital werden die Produzenten als physische Träger der Ware Arbeitskraft ein Teil des Kapitals. Die Produzenten verwandeln sich unter der Regie des Kapitals in einen Teil dessen, was sie selbst erzeugten, in einen Teil des Verhältnisses, das nur zwischen ihnen besteht.
Weil das Kapital als rastlose Selbstbezüglichkeit des Geldes bestimmt ist, treibt es unentwegt zur Akkumulation, d.h. zum permanenten Anwachsen. Der bei der kapitalistischen Warenproduktion geschaffene Mehrwert hat seinen einzigen Zweck darin, erneut in die Produktion investiert zu werden. Die Akkumulation treibt die Einzelnen zu einer Dynamik, die sie mit fortschreitender Rationalisierung und Technisierung notwendig außer Kurs setzen muss. Sie werden also nicht nur paradoxerweise von ihrem eigenen Verhältnis zueinander beherrscht und sie werden nicht nur ein Anhängsel ihres eigenen Verhältnisses zueinander. Mehr noch: sie werden von dem Verhältnis, das zwischen ihnen besteht, entwertet, fortschreitend in überflüssiges Menschenmaterial verwandelt. Diese sich von den Produzenten verselbständigende Bewegung nehmen sie alltagsreligiös als etwas „abstraktes“, von ihnen Getrenntes wahr. Ihre eigene Arbeit erscheint ihnen als konkret, die gesellschaftliche Bewegung, die sie mit ihr erzeugen, hingegen als abstrakt. Diese abstrakte Seite des Kapitals wird vom eigenen Handeln losgelöst und Bonzen, Managern bzw. Juden angelastet. Das gesellschaftliche Verhältnis erscheint doppelt – konkret und abstrakt, wobei das Abstrakte wiederum konkretisiert wird.
Auf diese Weise erscheint auch das Kapital aufgeteilt in reales und zinstragendes. Stets bedarf es des Kredits als Treibsatz weiterer Produktivkraftentwicklung (MEW25 = Kapital Bd. 3, S. 457). So wird die reale Produktion zunehmend abhängig von einem als von dieser Produktion selbst unabhängig wahrgenommenen Bankapparat, der sich als zinstragendes Kapital scheinbar verselbständigt. Nun liegen im Wesen der kapitalistischen Produktion so genannte Absatzkrisen. Da sich die Produktion immer weiter ausdehnt, das Kapital einerseits seine Schranke stets nur an sich selbst findet, der Markt jedoch andererseits real durch die Kaufkraft der Bevölkerung beschränkt ist (ebd., S. 254f.), drängt das Kapital zu Investitionen nicht mehr in der realen Produktion sondern vielmehr im Finanzsektor, an den Börsen. Der Austragungsort der Krisen wird so auf die Finanzmärkte verschoben, die Börse wird zum Indikator kapitalistischer Entwicklung, jede Krise äußert sich zunächst als Finanzkrise. Die Börse als Marktplatz für Anteile an Unternehmen (Aktien) ist ein notwendiger Bestandteil des Kapitalismus, an dem diese Möglichkeiten finden, sich zu finanzieren bzw. ihre Gewinne spekulativ anlegen können. Gäbe es die Börse nicht, wäre die über Ware, Geld und Kapital vermittelte Gesellschaft längst zum Erliegen gekommen. Die Aktie wird an der Börse nach ihrem Kurs, dem Aktienkurs gehandelt. Dessen Höhe richtet sich danach, wie die betreffende Aktie an der Börse gehandelt wird, welchen Preis sie bei der Spekulation an der Börse erzielt. Ausschlaggebend ist nicht der reale Umsatz des betreffenden Unternehmens sondern die Einschätzung der Spekulanten. Im Aktienkurs löst sich das Kapital somit von der realen Produktion ab. Orientiert sich zwar der Aktienkurs lediglich indirekt an der realen Produktion, so richtet sich doch die reale Produktion am Aktienkurs aus. Steigt der Wert der Aktien eines Unternehmens auf dem Markt, so kurbelt das die reale Produktion kräftig an, sinkt der Wert der Aktie, so schlägt das auf die Produktion durch: fallende Aktien bedeutenden sinkendes Ansehen des Unternehmens, zunehmendes Misstrauen, Geschäftspartner springen ab usw. usf. Die Produktion orientiert sich also real am Börsengeschehen. Das bedeutet: Die reale Produktion kann scheinbar florieren, während an der Börse infolge von Geschehnissen, die sich den Produzenten entziehen, die Aktien in ihrem Wert fallen. Geschehnisse an der Börse können dann scheinbar zum Auslöser sozial-ökonomischer Katastrophen werden, die dort Tätigen erscheinen so als Verantwortliche. Die Produzenten nehmen die Börse nicht als den entscheidenden Grund wahr, warum sie überhaupt irgendetwas produzieren, sondern als etwas der Produktion Fremdes, ihr Aufgesetztes, als etwas Widernatürliches, von dem die ‚eigentliche‘ Produktion zu befreien wäre. Das eigene Verhältnis der Produzenten zueinander erscheint ihnen in der äußersten Zuspitzung des Kapitalfetischs im fiktiven Kapital, als von ihnen völlig getrenntes, rein zufälliges Geschehen an der Börse; als scheinbar irres und willkürliches Auf und Ab der Aktienkurse, dem sie willenlos ausgeliefert sind und dem sie sich zu fügen haben genau wie der jeweiligen Wetterlage, dem sie so ausgeliefert sind wie der Bauer, dem es die Ernte verhagelt.
Unter den Bedingungen des Kapitalfetischs tritt das Kapital den Einzelnen handgreiflich in doppelter Form entgegen. Der innere Zusammenhang des Kapitals entgeht ihrer Wahrnehmung. Es scheint einerseits nur produktiv und konkret (Arbeit, Industrie, Handwerk, Landwirtschaft) und andererseits nur unproduktiv und abstrakt (Börse, Aktien, internationale Finanzmärkte, global players, „Heuschrecken“) zu sein. Der Kapitalfetisch kommt im fiktiven Kapital zu seiner extremsten Zuspitzung. In der fetischistischen Alltagsreligion erscheint das Kapital schließlich seinen Betreibern als zwei völlig verschiedene Wesenheiten. Der Antisemitismus ist zu verstehen als Vergegenständlichung der abstrakten Seite des Kapitals in den Juden(9). Aus dem bisher entwickelten sind hier nur noch die Schlussfolgerungen zu ziehen: die fetischistische Wahrnehmung schreit danach, die Juden an die Stelle der Schuldigen zu setzen. Antisemitismus ist potenzierter Kapitalfetischismus. Diese Potenzierung des gesellschaftlich notwendigen und zugleich stets falschen Fetischismus zum Antisemitismus ist jedoch das Ergebnis eines bewussten Aktes, eines klaren Bekenntnisses des jeweiligen Individuums. Sie ergibt sich nicht zwangsläufig aus den Gesetzen des Kapitalismus.

3. Antizionismus als potenzierter Staatsfetischismus

Um dem Antizionismus auf die Spur zu kommen ist es nötig, die Rolle des Staates zu diskutieren. Allein der Begriff der Ware, die pure Existenz eines Produkts, dem Wert anhaftet, ist nicht ohne staatliche, im Ernstfall militante Garantie der Eigentumsverhältnisse denkbar. Ebenso ist zur Setzung der Geltung des Geldes unbedingt der Staat vonnöten. Der Warentausch erzwingt lediglich die Notwendigkeit eines allgemeinen Äquivalents. Die Geltung des wirklichen Geldes muss staatlich gesetzt werden. Das Geld ist wie die Ware immer gleichzeitig Ausdruck von Wert und Staat. Während „Zahl“ den Wert symbolisiert, drückt „Kopf“ den Staat aus(10) (vgl. Bruhn, Studentenfutter).
Ohne den Staat hätte es den Prozess der „sogenannten ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ (MEW23, S.741ff.), also die Entstehung des Kapitalismus, niemals gegeben. Ohne den Staat wäre seine unentwegte Dynamik überhaupt nicht ins Rollen gekommen. Heute erscheinen uns die kapitalistischen Verhältnisse als natürlich gegeben. Dass sie durch rohe Gewalt in die Welt gesetzt wurden entzieht sich der Kenntnis. Ebenso wird verschleiert, dass diese Gewalt, wenn die kapitalistische Gesellschaft gefährdet ist, jederzeit wieder abgerufen werden kann und abgerufen wird. Am Anfang der Akkumulation des Kapitals stand die gewaltvolle Trennung der Produzenten (der Bauern) von ihren Produktionsmitteln (Grund und Boden). Zu Scharen wurde sie von ihren Ländereien vertrieben, umgebracht, in Arbeitshäuser verschleppt, bisweilen als vierjährige Kinder entführt und in Fabriken gezwungen. Das Kapital ist, laut Marx, „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ (ebd., S. 788). Die Durchsetzung des Kapitalverhältnisses erfolgte auf Basis einer naturwüchsigen Gemeinschaft, durch die sich das Kapitalverhältnis erst hindurch fressen musste. Mit dieser naturwüchsigen Gemeinschaft sind die Territorien jener Länder samt ihren Bevölkerungen, der dort bestehenden Infrastruktur und der ganzen Art und Weise der gesellschaftlichen Reproduktion gemeint. Es mussten bereits vor der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse ein bestimmtes Territorium unter staatlicher Führung, eine geschlossene Bevölkerung, vormoderne Produktionsverhältnisse und eine funktionierende vormoderne Reproduktion existieren. Diese stellt das Substrat dar, auf dem bzw. durch das sich der Kapitalismus ausbreitete. Nach und nach wurde die gesamte mittelalterlich-ständische Gesellschaft nach den Konditionen der Produktion um der Produktion willen, nach ökonomischen Prinzipien umgestaltet. Dabei schmiedete das Kapital einen völlig neuen Menschen in einer „durch und durch synthetischen Gesellschaft“(11), die vollständig über Staat und Kapital integriert ist, an deren Konstitution keinerlei Naturstoff wesentlich beteiligt ist, die sich aber doch durch Abstraktion am Naturstoff vollzieht. Dieser Prozess, der den Kapitalismus mittels des Staates als Machtinstrument erst in die Wege leitete, ist bis heute im Bewusstsein der Individuen verdrängt. Der Staat erscheint notwendiger- und doch fälschlicherweise als ein mehr oder minder nützliches Hilfsmittel zur Gestaltung des alltäglichen Zusammenlebens. Auch dem Staat kommt ein Fetisch zu. Man hält ihn für ein Ergebnis sinnvoller Übereinkunft. Prinzipiell ist keine Warengesellschaft ohne Staat möglich. Die gesamte kapitalistische Ökonomie kann nur durch staatliche Garantie bestehen. Ihre tragenden Kategorien können nur durch staatliche Absicherung existieren und sind mit äußerster, allerdings nachträglich notwendig verschleierter Gewalt durchgesetzt wurden. Indem Marx dies aufdeckte, erwies er sich als radikaler Kritiker des Staates. Eine grundsätzliche Kritik des Staates muss reine Ökonomiekritik ergänzen. Kommunismus muss immer Anarcho-Kommunismus sein.
Die verschleierte Gewalt der eigenen Staatlichkeit tritt den Einzelnen erst an Israel sichtbar entgegen. Provoziert der Wert den Antisemitismus so der Staat den Antizionismus. So wie die Logik des Antisemitismus darin besteht, die Produktion organisch und den Finanzapparat abstrakt scheinen zu lassen – (man ruft „haltet den Dieb“ und zeigt auf den Juden, vgl. Horkheimer/ Adorno: Dialektik der Aufklärung) – so besteht die Logik des Antizionismus darin, den eigenen Staat als organisch gewachsen und Israel im Kontrast dazu als künstliches Gebilde aufzufassen. Israel wird im Antizionismus die Gewalt der eigenen Staatlichkeit zugeschrieben und den Juden im Antisemitismus die Gewalt der eigenen Ökonomie. In beiden Fällen werden selbsterzeugte einerseits „politische“, andererseits „ökonomische“ Gesetzmäßigkeiten, die sich von den Produzenten verselbständigen, einem „jüdischen Prinzip“ angelastet. Antisemitismus und Antizionismus sind innig verwoben: kein Wert ohne Staat und kein Antisemitismus ohne Antizionismus. Die schlimmsten Antisemiten waren zugleich Antizionisten: „Der ganze Zionistenstaat soll nichts werden als die letzte vollendete Hochschule ihrer (der Juden) ganzen Lumpereien und von dort aus soll alles dirigiert werden“(Hitler)(12). So wie der Antisemitismus als ein Kapitalfetischismus zu kennzeichnen, so ist der Antizionismus als potenzierter Staatsfetischismus zu begreifen. Die im Kapitalismus angelegte Fetischisierung des Staates spitzt sich im Antizionismus in den Köpfen der Beteiligten in bewusster Entscheidung zur irrationalen Reaktion zu.

4. Deutschland – Der Umschlag von Ökonomie in Vernichtung

Im deutschen Nationalsozialismus veränderte sich das Wesen des Staates grundlegend: hier bekam die Ideologie den zentralen Stellenwert. Sie leitet sich nicht mehr aus der Gesellschaft ab, sondern konstituiert jetzt selbst Gesellschaft. Die Deutschen begründeten im Nationalsozialismus den Versuch einer direkten Vergesellschaftung unter der Herrschaft eines „Produktionsverhältnisses des Todes“(ISF)(13). Unter staatlichem Diktat formierten sich die Deutschen unter Abgrenzung von den zur „Gegenrasse“ erklärten Juden zur Volksgemeinschaft. Im Angesicht und Bewusstsein der Krise, unter gemeinsamem Willen zur Stärkung von Nation und Staat, zusammengeschweißt durch das auszurottende jüdische Feindbild, formten sich die Deutschen zur mörderischen Gemeinschaft. Der Antisemitismus lässt sich nicht länger aus der Gesellschaft ableiten. Vielmehr muss umgekehrt die Gesellschaft aus dem Antisemitismus erklärt werden (vgl. Horkheimer : Der autoritäre Staat). Ohne letzteren kann sich diese Gesellschaft nicht mehr reproduzieren. Es ist einzig der mörderische Hass auf die Juden, der sie in der Krise noch zusammen hält. Dieser Zustand wurde in Deutschland nach 1945 nicht beendet, sondern modifiziert. Dafür stehen die beiden postfaschistischen Staaten DDR und BRD und das heute „wiedervereinigte“ Deutschland. Während sich die Deutschen im Nationalsozialismus durch Massenmord an den Juden zur Volksgemeinschaft formierten, so kollektivieren sie sich in D-Ost und D-West und heute in D-Gesamt darüber, dass angeblich niemand an diesem Massenmord die Schuld trug. Die Deutschen schmiedeten sich zur Volksgemeinschaft, indem sie gemeinsam das schrecklichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte begingen, diese Tat gemeinsam verdrängten und jetzt angeblich völlig zu Unrecht am Pranger der Weltöffentlichkeit stünden. Die Deutschen laben sich bis heute an den Früchten eines Massenmordes, den sie nicht begangen haben wollen. Daher ihr Hass auf alle, die sie auf ihre Verbrechen aufmerksam machen und sei es auch nur durch ihre bloße Existenz als Juden. Daher der Deutschen krampfhaft zur Schau gestelltes Bedürfnis eine normale Nation zu sein(14).
Ich weise an dieser Stelle auf einen entscheidenden Bruch zu früher von mir verfassten Texten hin. Veröffentlichungen wie „Für eine andere Israelsolidarität“ (Incipito Nr. 1) oder „Die Kreuzritter der Aufklärung“(15) waren vom einem Verständnis geprägt, in dem der Staat lediglich als ein Anhängsel der Ökonomie konzipiert wurde. Daher war es uns bzw. mir damals nicht möglich, den Umschlag der Rolle des Staates im Nationalsozialismus zu begreifen. Dessen Greuel wurden lediglich als Zuspitzung des Kapitalismus, nicht aber als dessen qualitativer Umschlag gedeutet. Daraus ergab sich unsere Fehleinschätzung des aktuellen Antisemitismus. In den „Kreuzrittern der Aufklärung“ wurde die Auffassung vertreten, dass sich kommunistische Wertkritik auf die Seite der damals agierenden Friedensbewegung zu stellen habe, deren Antisemitismus nur als „Hintergrundrauschen“ betrachtet wurde. Vor dem Hintergrund fortexistierender postfaschistischer Verhältnisse in Deutschland blamiert sich die damalige Einschätzung gründlich.
Es bleibt zusammenzufassen: Vom Staat im normalen Kapitalismus hebt sich der Staat unter Bedingungen faschistisch-deutscher Vergesellschaftung ab. Er ist gekennzeichnet durch den Umschlag von Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in Vernichtung von Menschen durch Menschen als Selbstzweck. Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus verlangt der kategorische Imperativ der Befreiung des Individuums von allen sie beherrschenden und unterdrückenden Verhältnissen den kategorischen Imperativ nach Auschwitz: die Wiederkehr eines derartigen Verbrechens zu verhindern, explizit: die Verhältnisse so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederholt und auch nichts Ähnliches geschieht.

5. Was heißt: Israel denken lernen? – Der Zionismus und die Konstitution des jüdischen Staates

Mit Theodor Herzl wurde der Zionismus tatsächliche Realität. Mit ihm wurden „Zionismus“ und „zionistisch“ die zentralen Begriffe der neuen politischen Bewegung für einen jüdischen Staat. Der Angelpunkt des Herzlschen Zionismus bestand darin, dass sich der jüdische Staat seiner Auffassung gemäß nur als groß angelegtes politisches Projekt verwirklichen lasse. Das erstrebte Gebiet müsse also vor der organisierten Masseneinwanderung zuerst rechtlich gesichert werden(16). Dem Zionismus ging es also um die Inrechtsetzung der Juden, damit sie als freie und gleiche Subjekte auftreten können. Unter dem Programm des Zionismus bilden die Juden in Reaktion auf die allgemeinen Territorialstaatsgründungen ihren eigenen Staat. Genau das macht die Besonderheit des jüdischen Staates aus. Er ist besondere Reaktion auf die allgemeinen Staatsgründungen und die von ihnen ausgehende Gewalt gegen Juden. Er ist Schutzmaßnahme in einer Welt der Nationalstaaten, in der es für die Juden keinen Platz mehr gab.
Bis zur tatsächlichen Gründung Israels war es zum Zeitpunkt der Gründung des Zionismus ein weiter Weg. Auch mit Auschwitz und den von den Nazis von Anfang öffentlich erklärten Bekundungen zum Massenmord an den Juden, änderte sich nichts Grundlegendes. Erst am 14.5.1948 verlas David Ben Gurion die Unabhängigkeitserklärung Israels. Sofort nach seiner Konstitution ließen die arabischen Nachbarstaaten ihre Armeen in Israel einmarschieren. Der folgende Unabhängigkeitskrieg endete im Januar 1949 dank Unterstützung durch die Tschechoslowakei und die USA mit dem militärischen Sieg Israels. Nach dem Unabhängigkeitskrieg mußten viele arabische Palästinenser aus ihren Wohngebieten fliehen. Dem Krieg folgten Angriffe militärischer Einheiten. Viele Ortschaften wurden daraufhin evakuiert. Daher ist nachdrücklich vor einem „proisraelischen Gutmenschentum“ zu warnen und die Frage zu stellen, worum es (Kommunisten) bei der Verteidigung Israels wirklich gehen muss. Es sollte deutlich werden, dass die Gründung Israels unter gegebenen Umständen nichts anderes als ein gewaltvoller Akt sein konnte. Solange Humanität nicht mit Gutmenschelei verwechselt wird, muss sich eine kritische Linke daher deutlich auf die Seite dieses Gewaltakts Israels gegen die arabisch-palästinensische Bevölkerung stellen und sich mit dieser Gewalt ausdrücklich solidarisieren. Es ist darauf zu reflektieren:

1. dass jede Staatsgründung auf diese Art ablief (eben mit Blut und Schmutz aus allen Poren), an Israel nur heute wahrgenommen und damit an den anderen Staaten verschleiert wird,
2. dass der israelische Staatsgründungsprozess eine Notwehreinrichtung gegen die antisemitischen Verfolgungen darstellt und
3. dass die Staatsgründung im Falle der Gründung Israels unter verschärften Bedingungen erfolgte. Die israelische Fahne steht tatsächlich auch, wie oft von Antizionisten vorgehalten, für Leid und Vertreibung der Palästinenser.

Was sind diese verschärften Bedingungen? Israel reagierte mit seiner Gründung auf die antisemitische Realität. Dass diese Reaktion überhaupt möglich war, ist dem politischen Scharfsinn der zionistischen Organisation zu verdanken, unter Kooperation mit immer wieder wechselnden Weltmächten einen eigenen Staat zustande zu bringen. Die Erreichung dieses Ziels hing immer wieder am seidenen Faden. Israel musste im Zuge seiner Gründung binnen kürzester Zeit unter extremer äußerer Bedrohung eine nachholende Akkumulation des Kapitals vorantreiben, ohne allerdings im Unterschied zu anderen Ländern die dafür nötige naturwüchsige Ausgangsbasis zu besitzen, auf die die anderen europäischen Staaten bei ihrer Nationsgründung bauen konnten. Israel verfügte über kein eigenes Territorium, an der es seine Formierung zum modernen kapitalistischen Staat durchexerzieren konnte. Israel hat keine naturwüchsige Ausgangsbasis vorzuweisen und musste sie sich erst mit der Staatskonstitution aneignen – genau das erscheint heute als Leid und Vertreibung der Palästinenser. Anstatt moralisierend diese Gewalt wegzulügen oder wegzuphantasieren, muss sie reflektiert werden. Die verschärften Ausgangsbedingungen bestehen darin, dass 1) Israel sofort bei seiner Gründung von sämtlichen Nachbarstaaten militärisch attackiert wurde, 2) Israel in kürzester Zeit seine Kapitalisierung vorantreiben musste und 3) Israel keinerlei naturwüchsige Bedingungen für sein Staatsprojekt hatte.
Zionismus ist somit grundsätzlich als Notzionismus zu begreifen. In allen seinen Varianten ist der Zionismus durchweg, auch gegen Eigenbekundungen, eine Reaktionsweise der Juden auf die Brutalität der europäischen Staatsgründungen und auf den Antisemitismus des bürgerlichen Subjekts. Ein Begriff wie Notzionismus nimmt eine Trennung zwischen verschiedenen „Zionismen“ vor, die praktisch nicht zu haben ist. Notzionisten waren sie alle, von den orthodox-jüdischen Rabbinern Alkalei und Kalischer bis zum liberalen assimilierten Theodor Herzl, vom marxistisch inspirierten Linksozialisten Leon Pinsker bis zum Nationalisten und Mussoliniverehrer Jabotinski.
Aus der Geschichte des Zionismus und des Staates Israel folgt die Notwendigkeit einer unbedingten Solidarität mit Israel – gerade auch angesichts seiner gewaltvollen Gründungsgeschichte und seines durchaus blutigen Existenzkampfes. Vor dem Hintergrund der Gründung Israels und seines Existenzkampfes muss Adornos kategorischer Imperativ nach Auschwitz zum zionistischen kategorischen Imperativ der unbedingten Solidarität mit Israel zugespitzt werden(17). Und zwar: Gerade weil man hier in Europa „sitzt“, „gemütlich“, wie einige Linke nicht müde werden hinzuzufügen, in „mittelständischer Langeweile“(18) sozusagen und sich dies (noch) leisten kann.

6. Identifizierung gegen die Identität – oder: Ist Solidarität mit Israel „identitär“?

Zu den typisch linken Vorwürfen gegen Solidarität mit dem Staat Israel gehört jener der Bildung einer „identitären Gemeinschaft“. Identifizierung ist zunächst als Prinzip in der Warengesellschaft angelegt. Das Subjekt als Charaktermaske des Warentauschs findet seine Identität, also das, was es selbst ist, nicht an sich selbst. Sein Wesen ist das Nichts der Absehung von aller Sinnlichkeit. Es muss die Abstraktion von der Sinnlichkeit der Waren im Tausch an sich selbst wiederholen, sich selbst zum identischen Subjekt des Warentauschs abstaktifizieren. Daher ist es getrieben von einer permanenten Angst vor dem Zerfall. Die Identität ist der Versuch der wahnhaften Stillstellung der Angst vor der eigenen Auflösung ins Nichts: man versucht als Deutscher, als Mann, als Frau, als Weißer mehr zu sein als simpler Träger des Warentauschs und der Akkumulation des Kapitals. Unter deutschen Bedingungen führte diese Sehnsucht nach Identität zum Zusammenschmieden der Angehörigen der deutschen Nation zur Volksgemeinschaft unter der Regie des totalen Staats und der Ideologie des eliminatorischen Antisemitismus. Die Deutschen formierten sich zur Identität, indem sie mörderisch zur Tat schritten.
Israel entstand gerade als Reaktion auf den durch die Identifizierung erzeugten Antisemitismus. Der Umschlag von Ökonomie in Vernichtung, die reale Zusammenballung der Individuen zur Volksgemeinschaft, zwang die Juden zur Gründung des eigenen Staates. Israel ist die angemessene Reaktion auf Identifizierung und Identität. Diese Reaktion musste zwangsläufig, um überhaupt auch nur eine geringste Aussicht auf Fortbestand zu haben, in identitären Formen ablaufen. Daran muss auch kommunistische Solidarität anknüpfen. Es handelt sich um nichts Geringeres als um eine Identifizierung gegen die Identität. Losgelöst davon zielt der Vorwurf des „identitären Verhaltens“ in die Anerkennung der bestehenden Identifikationen, auf die Affirmation der postfaschistischen deutschen Gesellschaft und des Kapitalismus. Die Identifizierung mit Israel geschieht um der Abschaffung jeglicher repressiver Harmonie wegen. Sie richtet sich auf die Solidarität mit den Opfern der Harmonisierung. Die äußerliche Ähnlichkeit mit nationaler Identifizierung ist weder zufällig noch Beweis dafür, dass kommunistische Solidarisierung mit Israel den Frieden mit den Verhältnissen machen würde, sondern im Gegenteil der Beweis ihrer gesellschaftskritischen Radikalität.
Vorsicht ist geboten, wenn Solidarität mit Israel zur plakativen Attitüde gerät. Einigen Antifas ist nicht vorzuwerfen, dass sie die Fahne Israels tragen, sondern sich auf das ewige Feindbild „Nazi“ eingeschworen haben. Dieses Feindbild, nicht die Solidarisierung mit Israel ist treibendes Motiv der Antifa. Jenen Antifagruppen geht es, soweit sie praktisch agieren, meist wenig oder gar nicht um Israel. Mag sein, dass ihnen die akute Bedrohung durch Nazis individuell näher geht als die Gefährdung Israels. Aber die Hauptgefahr ist nicht explizit „rechts“, sondern im Kern antizionistisch. Als solche kommt sie auch von links, aus der bürgerlich-liberalen Mitte und vor allem Dingen vom politischen Islam. Die Antifa müsste sich an die Neuformierung eines Antifaschismus heranwagen, der nicht primär von Neonazis ausgeht. Antifaschismus heute muss es im Kern um die Verteidigung Israels und um die Bekämpfung des Antizionismus gehen. Das müsste theoretische Klammer sein. Unter diesem Ausgangspunkt wäre dann immer noch sinnvoll, auch mal die Schließung von Tønsberg (ein Thor Steinar-Laden, für dessen Schließung eine Leipziger Initiative arbeitet) zu fordern.

7. Projizieren gegen die Projektion – oder: Projiziert eine solidarische Haltung zu Israel deutsche Schuld auf den Nahen Osten?

Nun zur „Projektion deutscher Schuld“. Deutsche würden sich vor dem Hintergrund ihrer eigenen historischen Schuld wahlweise mit den Israelis oder mit den arabischen Palästinensern identifizieren und die jeweils anderen als Nazis betrachten. Kommunistische Solidarität mit Israel, die die Verteidigung Israels als antifaschistischen Kampf lobt und herausstellt, dass sich der Iran und die Palästinenser an die Wiederholung von Auschwitz machen, sei also nur eine Ablehnung von deutscher Schuld, damit selbst relativierend und geschichtsrevisionistisch.
Was aber meint Projektion genau? Projiziert wird, wenn bei der Betrachtung Gedanken oder Gefühle in den Gegenstand der Betrachtung hineingelegt werden, die dort nicht vorhanden sein müssen. Merke: müssen, nicht können. Erkenntnis ist immer Projektion. Es kommt darauf an, ob zu Recht oder zu Unrecht projiziert, im Klartext: ob auf die angestellte Projektion reflektiert wird. Unterbleibt das, so ist von pathischer Projektion zu sprechen. Das bildet den Unterschied zwischen dem bürgerlichen Subjekt des liberalen Kapitalismus und dem wahnhaft agierenden unter den Bedingungen des Umschlags von Ökonomie in Vernichtung. Gab es vorher zumindest die Möglichkeit der Reflexion im Projizieren, so werden derartige rationale Inseln jetzt von der Sturmflut der pathischen Projektion überspült. Die Möglichkeit der Reflexion des Erkenntnissprozesses wird aufgegeben. Wird also von Projektion geredet, so ist immer auf die Unterscheidung zwischen reflektierter und pathischer Projektion zu drängen. Während die reflektierte trotz identifizierender Zurichtung der Welt, auch die Möglichkeiten einer Abschaffung jeder Art von Herrschaft und Ausbeutung denkbar macht, so besteht bei der pathischen die unreflektierte Zurichtung der Welt um der Zurichtung willen.
Angesichts des Umschlags vom rationalen ökonomischen Prinzip der Gewinnmaximierung und Aufwandminimierung ins irrationale Prinzip des Massenmords an Juden in den palästinensischen Gebieten und im Iran, handelt es sich gerade um eine richtige Projektion deutscher Verhältnisse in den Nahen Osten. Da im Iran und in den palästinensischen Autonomiegebieten tatsächlich die Staatsbürger der antisemitischen pathischen Projektion auf Israel unterliegen, lässt sich bei kommunistischer Solidarität mit Israel tatsächlich zugespitzt von einer Projizierung gegen die pathische Projektion sprechen. Tatsächlich setzte sich dieser Umschlag zum ersten Mal in Deutschland durch und gewann an deutscher Vergesellschaftung seinen Begriff. Es handelt sich um ein deutsches Produktionsverhältnis. Dieses Verhältnis wurde zum Erfolgsmodell in allen Krisenregionen der Erde.
Also: Ohne Projektion deutscher Verhältnisse auf den Nahen Osten und ohne Identifizierung mit Israel ist keine wirkliche Solidarität mit Israel, keine prinzipielle Kritik an Identifizierung und Projektion und keine kommunistische Kritik im Sinne einer Agitation für die Einheit des Vielen ohne Zwang zu haben.

8. Kommunismus als Einheit des Vielen ohne Zwang

Kommunismus ist vor dem Hintergrund des Umschlags von Ökonomie in Vernichtung nicht anders denn als „Einheit des Vielen ohne Zwang“ bestimmbar bzw. als eine Gesellschaft, in der man „ohne Angst verschieden“ sein kann (Adorno). Kommunismus kann vor dem Hintergrund bisheriger Ausbruchsversuche aus der Warengesellschaft, nichts anders denn in Abgrenzung zur repressiven Kollektivität begründet werden. Ohne Angst verschieden sein, heißt, dem Einzelnen stattzugegeben: Es muss um volle Entfaltung der Individualität gehen. Ein Kollektiv hat um des Einzelnen willen da zu sein. Ziel kommunistischer Kritik ist also die Entfaltung des Besonderen. Damit ist das Problem der Juden in der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft vor der Gründung Israels angesprochen. Sie wollten sich weder zwanghaft angleichen, noch aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit Angst vor Verfolgung und Mord erleiden müssen. Sie erfuhren, dass ihre Umgebung auf ihre Verschiedenheit mit Hass reagierte. Einige von ihnen gingen deshalb zur Angleichung ans Kollektiv, zur Assimilation, über. Aber das nützte ihnen bekanntlich nichts. Der Hass entlud sich weiter auf sie, die immer als besonders gegolten hatten. Die Gründung des Zionismus bezeichnet, dass es sich für die Juden als sowohl unmöglich erwies, ohne Angst verschieden zu sein, als auch wenigstens als Gleiche unter Gleichen zu leben. Die Gleichen formierten sich zur Identität, in dem sie den Hass an den Ungleichen ausagierten. Die bürgerliche Gesellschaft gab zu erkennen, dass sie nicht in der Lage ist, den sie durchziehenden Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem zu versöhnen. Daher gab es für die Juden nur die Möglichkeit der Staatsgründung, den der radikalen Trennung als Besondere vom falschen Allgemeinen und den Aufbau eines eigenständigen staatlichen Gemeinwesens. Israel hält mit seiner Existenz die Hoffnung auf Versöhnung zwischen Allgemeinem und Besonderem als Nichteingelöste fest. Darüber konstituiert sich kommunistische Solidarität mit Israel. Kommunistische Kritik hält die Utopie eines Vereins freier Individuen fest, in dem alle Menschen ohne Angst verschieden sein können. Eine Linke, die nicht mit Israel solidarisch ist, ist nicht links genug.


Martin Dornis

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Anmerkungen

(1) vgl. Incipito Nr. 1, Leipzig 2002
(2) www.conne-island.de/nf/155/21.html
(3) www.conne-island.de/nf/156/18.html
(4) Da (bisher) nicht veröffentlicht, sind auch keine Zitate möglich. Ich muss daher Gesagtes frei aus dem Kopf zitieren.
(5) www.conne-island.de/nf/157/23.html
(6) Vgl. hierzu: Robert Kurz: Abstrakte Arbeit und Sozialismus (vgl. www.exit-online.org/link.php?tabelle=autoren&posnr=8); Helmut Reichelt: Neue Marxlektüre (Hamburg 2008); Diethard Behrens: Der kritische Gehalt der Marxschen Wertformanalyse, in: ders. (Hrsg.): Gesellschaft und Erkenntnis (Freiburg 1993) ; Hans-Georg Backhaus: Über den Doppelsinn der Begriffe „Politische Ökonomie“ und „Kritik“ bei Marx und in der Frankfurter Schule, in: Stefan Dornuf / Reinhard Pitsch (Hg.), Wolfgang Harich zum Gedächtnis, Bd. 2 (München 2000)
(7) vgl. Karl Marx: Grundrisse (Berlin 1974), dort: S. 74
(8) Detlev Claussen: Judenhass und Antisemitismus; in ders.: Aspekte der Alltagsreligion – Ideologiekritik unter veränderten Verhältnissen (Frankfurt/Main 2000)
(9) vgl. Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus, http://interventionen.conne-island.de/05.html
(10) vgl. Joachim Bruhn: Studentenfutter, www.conne-island.de/nf/150/20.html
(11) vgl. Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit (Frankfurt 1973), dort: S. 67f.
(12) So Hitler 1920, zitiert nach: ISF: Furchtbare Antisemiten – ehrbare Antizionisten (Freiburg 2002), dort: S. 55
(13) vgl. ISF: Kritik der deutschen Ideologie; in: dies.: Flugschriften (Freiburg 2001), dort: S. 10
(14) vgl. dazu Stephan Grigat:Transformation der postfaschistischen Demokratie, in ders. (Hrsg.): Transformation des Postfaschismus (Freiburg 2003)
(15) vgl. www.exit-online.org/pdf/Kreuzritter.pdf
(16) vgl. Michael Krupp : Geschichte des Zionismus (Gütersloh 2001), dort: S. 39ff.
(17) vgl. Stephan Grigat: Befreite Gesellschaft und Israel, in ders.: Feindaufklärung und Reeducation (Freiburg 2006). Auch online unter: www.ca-ira.net/verlag/leseproben/grigat-feindaufklaerung.reeducation_lp.html
(18) So Lilian in dem bereits zitierten Leserbrief.

13.06.2013
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