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• das letzte: das letzte
„Ein Abend über den Schmerz eines Volkes, der für immer zu spüren bleibt, über Liebe und Körper, die wiederkehrenden und die zurückgewiesenen Umarmungen, über Gerechtigkeit und den Raum eines Jeden im Garten der Welt.
Aber auch ein Stück über die Kraft des Widerstandes und die Koexistenz unterschiedlicher Realitäten, die wir gleichzeitig als faszinierend und erschreckend erleben können.”1
„Ich habe diese Blume gerettet, bitte beschütze sie!”2
Das Tanztheaterstück „Kalte Jahreszeit” der Company des Leipziger Tanztheaters beginnt mit der Aufforderung an einzelne BesucherInnen eine ihnen in die Hand gedrückte Blume zu beschützen. Die aufgeforderten BesucherInnen wirken etwas ratlos, vielleicht auch ängstlich, weil die Blume in der Hand eine spätere Interaktion fordern könnte. Mit dem Verteilen der einzelnen Blumen im Zuschauerraum wird gleich zu Beginn des Stückes das Symbol, an welchem sich die Geschichte erzählen wird, eingeführt. Die Blume als natürlich gewachsene Pflanze mit Wurzeln und Ausstrahlung symbolisiert, in dem sie von Menschen als beschützenswert eingestuft wird, ein Wesen mit Seele und Verstand. Vielleicht auch nur einen Umstand der gerettet werden muss, eine kulturelle Besonderheit, eine persönliche Eigenschaft. In jedem Fall wird die Blume als Zeichen all dessen eingesetzt, was im Verlauf der Erzählung gerettet werden muss vor Veränderung, vor Misshandlung, vor zwanghafter Traditionsverpflichtung, vor Zerstörung und vor Unfreiheit.
Das Leipziger Tanztheater hat sich mit seinem Stück zur Aufgabe gemacht, sowohl die iranische Dichterin Forough Farrokhzad(3) in der Reproduktion und tänzerischen Umsetzung ihrer Gedichte zu würdigen als auch den arabischen Frühling 2009 als Geschichte darzustellen und schließlich beides miteinander zu verknüpfen. Der Titel „Kalte Jahreszeit” geht dabei auf den letzten Gedichtband der Dichterin zurück, bedeutet aber gleichzeitig in der Interpretation nicht die saisonale Aufeinanderfolge der Jahreszeiten sondern vielmehr eine „kulturell kalte Jahreszeit”, welche durch die Demonstrationen und den Aufruhr 2009 in Teheran beendet werden sollte. Die Verbindung zwischen einer iranischen Dichterin, die eben diese Umbrüche und begonnenen Veränderungen in ihrem Land um mehr als 50 Jahre verpasst hat und der aktuell politischen und gesellschaftlichen Situation im Iran zu schaffen und einleuchtend dem Zuschauer zu vermitteln, wirkt auf den ersten Blick schwer. Konnte Farrokhzad in den späten 60er Jahren doch nicht ahnen oder beschreiben, wie sich das iranische Volk 50 Jahre später verhalten würde. Der Choreograf Alessio Trevisani schafft die Verbindung jedoch nicht auf der direkten realistischen Umsetzung Farrokhzads Gedichten in Bezug auf den arabischen Frühling, sondern stellt die Poesie, die aufrührerischen Texte, den Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen und den Weg der Dichtung als starkes, schreiendes Ausdrucksmittel einer Frau, mit einer eigenen Bildsprache dar. Die Darstellung diese Bildfolge schafft es manchmal erfolgreich, manchmal weniger erfolgreich, die Zuschauer die Geschichte der Demonstrationen und aufbegehrenden Massen von 2009 darin wieder erkennen zu lassen. Konkret und erfolgreich vermitteln die TänzerInnen und ein sehr gutes Bühnenbild die zu erzählende Geschichte zum Beispiel zu Beginn, wo ein Tänzer und eine Tänzerin, maskiert als Vögel, in einer langsamen, zaghaften und ästhetischen Weise jeweils einen Blumenstrauß an den Zuschauerraum bringen, der sogleich wieder die Aufmerksamkeit der BesucherInnen auf sich zieht und weiter als Symbol im Gedächtnis bleibt. Gleichzeitig tanzt das Paar ein einfühlsames einer ersten Begegnung gleich kommendes Duett, was in der Verkleidung als Vögel und mit den niedergelegten Blumen verschiedene Assoziationen bei den Betrachtern auslöst. Genauso wie das Bühnenbild, welches seine Stärke sicherlich auch durch den gesamten, einfach gehaltenen und doch Charme versprühenden Raum der Schaubühne Lindenfels erhält. Ein Bühnenbild, das sich nicht zurückhält sondern vielmehr den entsprechenden Rahmen der Geschichtsvermittlung gibt. Der Großteil der Bühne wird von ca. zwei Meter großen Holzstäben, welche in bestimmten Abständen zueinander in einem Kreis angeordnet sind, eingenommen. Dieser Kreis wirkt obgleich groß genug für die tanzenden Aktionen der 14 TänzerInnen, beengend und wie ein Käfig. Genau diese Assoziation ist sicherlich gewollt, zeigt sich doch im Laufe des Stückes, dass eben dieser Kreis das Symbol für Zwänge, Unterdrückung und Unfreiheit darstellt. Die zwei tanzenden, sich auf einander einlassenden Vögel der ersten Szene werden in ihrer Freiheit und Ruhe jäh gestört, als mehrere Männer die Bühne betreten und mit Holzknüppeln gegen die Holzstäbe des Kreises schlagen, was die Tanzenden stört und gleichzeitig auseinander treibt. Das Geräusch der aufeinander schlagenden Hölzer wirkt bedrohlich und gibt den ZuschauerInnen einen ersten Eindruck von der Beklemmung und Angst, die von diesem geschlossenen System des Kreises ausgehen soll. Der Kreis soll hier ganz klar ein System darstellen, welches sich nach Außen verschließt und gleichzeitig niemanden herauslässt, einer Diktatur gleich kommend. Die Interpretation des Kreises als den Iran liegt nahe und zeigt in diesem Falle, dass sich die Menschen innerhalb scheinbar arrangiert haben und trotz der offensichtlichen Unfreiheit keinen Veränderungsdrang haben.
Das Tanzstück entwickelt sich ausgehend von einer geschlossenen Gruppe, die innerhalb dieses Kreises tanzt und zwar eingesperrt scheint, jedoch wirkt, als gäbe es keine Probleme in dieser Einengung. Zwischen den TänzerInnen entstehen und entwickeln sich Beziehungen, es scheint Harmonie zu herrschen. Bis eine Tänzerin versucht den aufgebauten Kreis zu verlassen und sich außerhalb dessen bewegen möchte. Daraufhin bricht Unruhe aus, die sich in verschiedenen Szenen widerspiegelt. Mal bricht eine weitere Tänzerin aus, mal wird der Versuch unternommen, die Tänzerin am
Rausgehen
zu hindern. In dem Moment aber, wo sie sich tatsächlich dazu entschieden hat, außerhalb des Kreises zu existieren, wird ihr der Zutritt oder das Zurückkommen verweigert. Die Unruhe und der Aufruhr bauen sich Schritt für Schritt auf, bis schließlich sehr eindrucksvolle, kräftige Tanzsequenzen die gesamte Gruppe als wiederum eine Masse jedoch diesmal außerhalb des Kreises darstellen. Die Assoziation des sich aufbegehrenden Volkes liegt hier nahe. In der Folge wechseln sich Aufstand und Unterdrückung in der tänzerischen Umsetzung ab. Eindrucksvoll und als starkes Bild im Gedächtnis geblieben, ist die Gegenüberstellung einer in Burka verhüllten Frau zu einer Tänzerin die nur in Unterhose die Bühne betritt und auf ihrem Körper
My Body is poetry
stehen hat. Genauso eindrucksvoll, aber eine andere Assoziation weckend ist die regelrecht bestialische Zerstörung der zu Beginn abgelegten Blumensträuße mit einem Hackbeil. Die Blume als anfangs eingeführtes Symbol wird zerstört und lediglich die sich bei den ZuschauerInnen befindenden, zum Beschützen raus gegeben, bleiben als ganze Blume erhalten. Farrokhzad schrieb einmal in einem Gedicht:
Mein Freund, mein Bruder, Blut von meinem Blut; Wenn du den Mond erreicht hast; Meißle dort das Datum des Blütengemetzels ein
. Die Blume gilt hier gleichermaßen als Symbol für den Frieden, für Hoffnung und Erneuerungen. Sie steht für Freiheit und Vielfältigkeit, welche in der Tanzszene bestialisch zerstört werden und somit der Unterdrückung und Zerschlagung der Demonstrationen und von den Menschen zum Beispiel im Iran geforderten staatlichen Veränderungen.
Das Stück endet mit der Zerlegung des Kreises. Die einzelnen Holzstäbe werden zu einer großen Scheiterhaufen ähnlichen Masse aufgebahrt und wirken als warteten sie nur noch auf ihr Anzünden. Gleichzeitig bleibt eine Unruhe und Ungewissheit als Stimmung zurück, vielleicht weil der geschlossene, immer da gewesene Kreis nun unwiderruflich zerstört ist.
Trevisani schafft es in seinem Stück auf poetische, einfühlsame und ästhetische Weise, die ZuschauerInnen mitzunehmen auf eine Reise in die Gedichte der Poetin Farrokhzad, mal auf Deutsch an die Wand projiziert, mal auf Persisch oder Deutsch eingesprochen, und in die Assoziationen zu den bekannten Bildern der Umbrüche in vielen arabischen Ländern seit 2009. Eine Reise zu Unterdrückung und Aufstand, Zwang und dem Versuch auszubrechen aus einem System, aus Vorgaben, aus Ungerechtigkeit. Das was Trevisani nicht schafft, ist über diese Assoziationen hinaus eine konkrete Aussage zu treffen oder einen Ausblick zu geben. Vielleicht ist der Anspruch zu hoch an eine künstlerische Auseinandersetzung
jedoch bleibt ein Fazit oder eine Gesamtstimmung teilweise auf der Strecke, was schade ist. Denn da, wo es die Kunst, in diesem Falle in Form von Tanztheater, schafft, Stellung zu beziehen und sich nicht auf der Tatsache ausruht, so frei zu sein, dass nichts getan werden muss, sondern vielmehr die Chance ergreift ihre Freiheit
die Freiheit der Kunst zu nutzen, um Standpunkte zu zeigen oder nicht nur Stimmungen sondern eine tatsächliche Geschichte zu erzählen, da wird Tanztheater auch für die interessant, die wenig mit der assoziativen Kraft von Bühnenbildern und Blumen als Symbolen anfangen können.
CharlOte