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Der Begriff „ziviler Ungehorsam“ wurde erst im Jahre 1849 durch den US-Amerikaner Henry David Thoreau, in dessen Essay „Resistance to Civil Government“ geprägt. Doch lässt sich die Praxis dieser Form politischer Partizipation schon in frühen Dokumentationen der Entwicklung menschlicher Zivilisation finden. Ob nun die im 2. Buch Mose erwähnten Hebammen, die den geplanten Genozid des Pharaos nicht ausführen wollten, Ghandis Satyagraha oder BürgerInnen, die sich gegen Nazis oder Atomkraft zu Tausenden auf Strassen und Gleise setzen, alle haben eines gemein: bewusst stellen sich Menschen gegen geltendes Recht; zum einen in dem Wissen, für ihren Ungehorsam bestraft werden zu können, zum anderen im Vertrauen darauf, im Dienste einer höheren Instanz zu stehen, einer moralischen Idealvorstellung, die im Denken der Ungehorsamen nicht ausreichend durch bestehendes Recht gedeckt scheint.
Einige Aktionen zivilen Ungehorsams, die zwar nicht so populär wie Ghandis Widerstand oder Atomkraftproteste sind, aber deswegen nicht minder wichtig, sind die nun schon mehrere Jahre andauernden Versuche von Flüchtenden und MigrantInnen, auf ihre prekäre Lage und menschenverachtende Behandlung in Deutschland hinzuweisen, die ihnen von Bevölkerung und Politik entgegengebracht wird. So formierte sich 1998 die erste Karawane für Flüchtende und MigrantInnen unter dem Motto „Wir haben keine Wahl, aber eine Stimme“. Mit einem Protestzug durch mehrere Städte sollte auf die Widrigkeiten der menschenunwürdigen Asylpolitik und der rassistischen Behandlung durch Bevölkerung, Politik und Medien aufmerksam gemacht werden.
Jetzt, 14 Jahre später, scheint sich nicht viel an dieser Situation geändert zu haben. Noch immer leben die meisten Asylsuchenden zusammengepfercht auf engstem Raum in Behausungen, deren Zustand nur eine Betroffenheitswelle in der deutschen Bevölkerung hervorzurufen scheint, wenn ukrainische Politikerinnen Unterkünfte mit denselben Standards zwangsbewohnen.
Auch dieses Jahr ergriff wieder eine Gruppe von Asylsuchenden das Mittel des zivilen Ungehorsams und zog erneut in einem Protestmarsch durch die Bundesrepublik, mit dem Ziel auf ihre unverändert schlechte Situation aufmerksam zu machen. Unter dem Namen „Refugee Protest March“ (Protestmarsch der Flüchtenden/Geflüchteten) startete eine etwa 70 Personen umfassende Gruppe von Flüchtenden und UnterstützerInnen am 8. September diesen Jahres in Würzburg, um ihren Protest zu Fuß nach Berlin zu tragen. Eine weitere Gruppe startete auf einer anderen Route mit dem Bus in Richtung Hauptstadt. Der Startpunkt Würzburg erklärt sich durch den dortigen monatelangen Protest, der durch öffentliche Selbstkasteiungen wie Hungerstreiks und dem Zunähen von Mündern auf die unverändert widrige Lage von Flüchtenden aufmerksam machen wollte. Den Höhepunkt der Verzweiflung stellte der Selbstmord eines iranischen Asylsuchenden dar.
Das große Ziel Berlin beschreiben die Protestierenden als den „Ort, von dem alle unmenschlichen Gesetze und Regulierungen herkommen, wo sie geschrieben und umgesetzt werden“(1). Diese Karawane nach Berlin sollte durch neun Städte in vier Bundesländern führen und wurde immer wieder durch Solidaritätsaktionen wie z.B. dem Gutscheinboykott im Leipziger Land(2) und Demonstrationen während der Zwischenstationen begleitet. Ebenso stießen immer wieder neue Flüchtende zum Tross der Protestierenden.
In Leipzig kam diese Karawane am 24. September an und zog am Tag darauf in einer Demonstration einmal von West nach Ost durch die Stadt. Die Gruppe von etwa 50 Flüchtenden wurde dabei von ca. 400 SympathisantInnen begleitet. Rein äußerlich war es eine traditionelle AntiRa Demo. Neben viel Reggae, typischen „No Border! No Nation!“-Transparenten und dem klassischen Repertoire an Parolen wie „Kein Mensch ist illegal“ wurden (nach eigenen Angaben) tausende Flugblätter verteilt und mehrere Redebeiträge gehalten. Am Ende der Demonstration wurde in einer spontanen Aktion noch die Fläche vor dem Flüchtlingslager in der Torgauer Straße besetzt, deren Betreten im Vorfeld durch Sozial- und Ordnungsamt sowie Polizei untersagt worden war.
Dies alles wirkt wie eine etwas größer gefasste, aber dennoch „normale“ Protestaktion, jedoch ist den meisten Menschen weder bewusst, wie viel dieser Protest den Flüchtenden wirklich bedeutet, geschweige denn was diese damit riskieren.
Während ziviler Ungehorsam hierzulande darin besteht, dass der Mob seine Gewaltphantasien am Feindbild „Bankster“ abarbeitet und möglichst viele Banken blockiert, was nicht wirklich Kritik am Kapitalismus darstellt, genauso wie Sitzblockaden gegen Nazis immer mehr zu Volksfesten gegen personalisierte Feindbilder verkommen, anstatt wirklich Fortschritt im Kampf gegen Rassismus, Xenophobie, Antiziganismus und Antisemitismus zu erzielen, lockt das reale Schicksal derer, die tagtäglich davon betroffen sind, keine dieser WutbürgerInnen aus der heimischen Geborgenheit hervor.
Für die Flüchtenden jedoch ist Protest und ziviler Ungehorsam mehr als nur ein kleiner Wochenendausflug. Während die Gemeinschaft der WutbürgerInnen am Montag wieder ihrem geregelten Tagwerk nachgeht, ist die Zukunft der Flüchtenden so ungewiss wie eh und je.
Immer noch sind sie der Willkür deutscher Behörden ausgeliefert und immer wieder beweisen diese, dass sie nicht wirklich in der Lage sind zu begreifen, dass nicht die flüchtenden Menschen das Problem sind, sondern die Ursachen, die sie zur Flucht zwangen. So wurde unter anderem der Asylantrag der lesbischen Iranerin Samira Ghorbani Danesh von einem deutschen Gericht abgelehnt, mit der Begründung, bei einer diskreten Lebensführung hätte sie ja nichts zu befürchten, wodurch ein Antrag auf Asyl nicht vonnöten wäre. Dass damit de facto der 2. Artikel des Grundgesetzes, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, eines der höchsten Menschenrechte, einfach so pulverisiert wird, fiel dem Gericht nicht auf. Glücklicherweise bewies das betreffende Landratsamt etwas mehr Kompetenz als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und das Verwaltungsgericht Bayreuth und setzte die Abschiebung aus, um den Asylantrag erneut prüfen zu lassen.
Doch nicht nur Behörden und Politik demonstrieren immer wieder Unfähigkeit und rassistische Einstellungen. Auch aus der Bevölkerung kommen immer wieder Impulse, die zeigen, dass Nazis kein Monopol auf Rassismus und Xenophobie haben. In Leipzig äußerte sich das erst dieses Jahr wieder in Bürgerinitiativen, die sich gegen dezentrale Unterbringungen von Asylsuchenden stellen, mit seltsam anmutenden Begründungen wie „Da wird an kirchlichen Feiertagen orientalische Musik abgeleiert.“(3) Oder aber noch aktueller in Dettmannsdorf/Güstrow, wo Asylsuchende nun als Gefahr für den Status als Umweltstadt gesehen werden.
Es wirkt zwar als seien die Pogrome Anfang der 1990er Jahre nicht vergessen. Allerdings ist es nicht das Bewußtsein über jenen, den TäterInnen immanenten moralischen Verfall, sondern eher die Tatsache, dass die Politik unter dem Druck des deutschen Pöbels einknickte und als Konsequenz nicht die Rechte der Gejagten wahrte und stärkte, sondern die Meute in ihrem Tun legitimierte. Der Imperativ der Menschenrechte, die auch im deutschen Grundgesetz verankert sind, wurde so dem Willen des deutschen Mobs untergeordnet. Aus dem „Wir sind ein Volk“ als Parole der deutschen Einheit wurde eine düstere Realität, in der es keinen Platz für Menschen gibt, die von diesem Volk als ‚fremd‘ empfunden werden und dies auch immer wieder zu spüren bekommen.
In der Vergangenheit wiederholten sich Debatten um Asyl und Migration. Angestoßen durch Rassisten wie Thilo Sarrazin manifestierte sich immer wieder der Konsens der breiten Öffentlichkeit, das Hauptproblem sei die Integration – ob nun in Form der mangelnden Integrationsbereitschaft der einen oder des Mangels an Integrationsangeboten und Förderung durch die anderen. Dass Integrationsforderungen zum einen rassistisch aufgeladen sind, andererseits aufgrund bestehender Gesetze gar nicht wirklich umgesetzt werden können, wurde nicht wirklich wahrgenommen.
Für die Flüchtenden gibt es nicht wirklich viele Optionen. In ihre Herkunftsländer können sie nicht zurück, da ihnen dort Sanktionen drohen, die selbst die Widrigkeiten der hiesigen Behandlungen überschreiten. Auch die Chance auf ein neues Leben wird ihnen verwehrt, da ihnen hierzulande nur das Dahinvegetieren in streng abgegrenzten Verhältnissen gestattet wird.
Eine weitere Absurdität ist die Tatsache, dass Verletzungen der Residenzpflicht, die zumindest in der EU eine deutsche Einzigartigkeit darstellt, mit in die Kriminalitätsstatistik einfließen. Bei wiederholtem Ausbruch aus dieser gesetzlich verordneten Isolation kann es sogar zu einer Ausweisung kommen mit der Begründung, die betreffende Person stelle aufgrund der Gesetzesverstöße eine Gefahr für die Bundesrepublik dar.
Die Willkür deutschen Beamtentums liefert somit Argumente, die das Bild von ‚kriminellen Ausländern‘ verstärken und trägt einen nicht unerheblichen Teil an der Tatsache, dass immer mehr Asylsuchende an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.
Ziviler Ungehorsam birgt für die Protestierenden des Refugee March also nicht nur das Risiko eines Bußgeldbescheides, wie in etwa bei den Freizeit-Revolutionären bei ihren als Antikapitalismus getarnten Wochenendausflügen, sondern sie riskieren damit den letzten Rest ihrer Selbstbestimmung und vor allem ihr Leben.
Allgemein zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Aufarbeitung der Mordserie der NSU. Nicht die rassistischen Verbrechen oder das rassistische Weltbild der TäterInnen stellen den Kern öffentlicher Auseinandersetzungen dar, geschweige denn eine breite Solidarisierung mit den Opfern und ihren Angehörigen, sondern das Ausschlachten der Fehler staatlicher Instanzen. Es scheint, die Fehler der Verantwortlichen stehen stellvertretend für einen Verlust deutscher Tugenden wie Ordnung und Zuverlässigkeit. Um einem internationalen Gesichtsverlust entgegenzuwirken und die eigenen Tugenden zu rehabilitieren, müssen diese Fehler nun aufgearbeitet und die Verantwortlichen bestraft werden. Positiver Nebeneffekt dabei ist die Möglichkeit, von den eigenen Unzulänglichkeiten, wie z.B. Alltagsrassismus, abzulenken.
Solidarität mit Betroffenen scheint sich nur dann von öffentlicher Seite zu äußern, wenn es der eigenen medienwirksamen Positionierung dient. Doch wird nur selten der Rahmen öffentlicher Kondolenzbekundungen überschritten.
Doch auch die deutsche Linke scheint nicht wirklich fähig, sich dem Protest der Asylsuchenden anzuschließen. Zwar haben sich die diversen Asylverbände und AntiRa-Gruppen öffentlich für den Refugee Protest March positioniert und es gibt eine Gruppe von UnterstützerInnen, die den Protestmarsch begleitet, allerdings distanziert sich diese in der Form von den Protestierenden, dass sie sich nur für logistische Belange verantwortlich sieht, wie in einem Interview mit 3Sat erklärt wurde.
Am Beispiel der Demonstration in Leipzig zeigte sich so das skurrile Bild, dass vereinzelte Personen aus diesem UnterstützerInnen-Umfeld interessierten Menschen erklärten, dass sie sich von den Protestierenden abgrenzen wollten, da den Kampf nur die Betroffenen selbst führen könnten, während im Hintergrund „No Border! No Nation!“-Transparente präsentiert wurden. Zwar bezieht sich die Forderung nach der Abschaffung von Nation und Grenze primär auf Grenzen als territoriale Abgrenzung, ist aber dabei nur die praktische Umsetzung der Abgrenzungen, die Menschen in ihren Köpfen vornehmen. Dieses so entstandene, dem postmodernen Diskurs entsprungene Paradoxon hat mit Solidarität nicht wirklich viel gemein. Während nach außen die Abschaffung von Grenzen propagiert wird, generiert der Diskurs gleichzeitig immer neue Abgrenzungen. So wird in etwa im Rahmen radikaler „critical whiteness“-Debatten „weißen“ bzw. Menschen die Befähigung zum Kampf gegen Rassismus abgesprochen, da sie ja von Rassismus profitieren. Dass die damit verbundene Abwertung aber nichts weiter als eine Inversion der ursprünglichen Hierarchie darstellt, bei der das abweichende Gegenüber aufgrund divergierender Merkmale sich unterordnen muss und so ein Anschluss nicht nur an rassistische Theorien existiert, wird ignoriert oder mit einem Verweis auf Definitionsmacht egalisiert. George M. Fredrickson drückte es so aus: