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von der Straße
Was ist nötig, um zum Ehrenbürger Halles ernannt zu werden? Richtig:
Es ist (1.) von Vorteil, in Halle oder Umgebung geboren worden zu sein wie
Louis Jentzsch, Gustav Hertzberg und Carl Dryander. Die Saalestadt hat es sich
in ihrer Provinzialität gemütlich eingerichtet und will dort auch
nicht so schnell heraus. Darüber hinaus ist es (2.) von Vorteil, der
Staatsräson alle anderen Dinge unterordnen zu wollen, wie der
Erstweltkriegsgeneral und spätere Rechtsaußen-Reichspräsident
Paul von Hindenburg, der 1933 zum Ehrenbürger Halles ernannt wurde. Und es
ist (3.) von Vorteil NSDAP-Mitglied gewesen zu sein wie Adolf Hitler und
Hermann Göring, denen 1933 und 1934 die hallische
Ehrenbürgerwürde verliehen wurde.
Von der NSDAP zur FDP
Wer alle drei Punkte erfüllt, ist klar im Vorteil so wie Hans
Dietrich Genscher, dessen 85. Geburtstag mit einer Großveranstaltung der
Bundeswehr-Bigband in der hallischen Händelhalle begangen wird: Genscher
wurde in Reideburg, das inzwischen von Halle eingemeindet wurde, geboren, er
ist die personifizierte Staatsräson, und er war Mitglied der NSDAP. Dieser
Parteibeitritt war laut Genscher zwar eine Art Versehen. (Sicher ähnlich
wie bei Hitler und Göring, die eigentlich einem Taubenzüchterverein
beitreten wollten und nach einigen Jahren verwundert feststellten, dass es in
ihrem Klub um ganz andere Rassen ging als um Zwergkröpfer,
Dragooner oder Nönnchen-Tümmler.) Er selbst sei ohne sein Wissen in
die Partei aufgenommen worden, so Genscher. Wer solche Erklärungen allzu
unkritisch übernimmt, übersieht allerdings eilfertig, dass Genschers
Parteiaufnahme nicht, wie gern behauptet, 1945 stattfand, als solche Verfahren
teilweise üblich waren, sondern schon 1944, in einer Zeit, in der
Sammelanträge weitaus unüblicher waren als im darauf folgenden Jahr.
Wie dem auch sei: Nach 1945 trat Genscher in der SBZ zielstrebig ausgerechnet
jener Partei bei, die als die sowjetkritischste der gesamten Zone galt: der
LDPD. Selbstverständlich war die Sowjetunion nie ein Hort der Freiheit und
des Glücks. Im Gegenteil. Wenn eine Partei jedoch nur kurz nachdem die
Sowjetunion im Verbund mit den anderen Alliierten das Dritte Reich
niedergerungen hat, wenn sie nur wenige Monate nach der Befreiung von Auschwitz
durch die Rote Armee ein strikt sowjetkritisches Programm entwirft, dann
entsteht der Verdacht, dass der nationalsozialistische Antibolschewismus hier
nur in veränderter Form fortgesetzt wird. Insbesondere dann, wenn sie sich
recht bald auch für ehemalige Nazis öffnet. Auch die FDP, der
Genscher nach seiner Flucht aus der DDR beitrat, war in den ersten Jahren der
Bundesrepublik nicht zuletzt ein Sammelbecken für ehemalige
NSDAP-Mitglieder. Liberalismus bedeutete in der Bundesrepublik dieser Jahre vor
allem eine Laisser-faire-Haltung gegenüber ehemaligen kleinen, mittleren
und ganz großen Nazis.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Selbstverständlich
ist Genscher kein Nazi. Sowohl an seiner Biographie als auch an seiner Politik
lässt sich allerdings exemplarisch zeigen, was Theodor W. Adorno meinte,
als er vom Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie sprach.
Liberale Traditionen
Ähnlich wie viele andere deutsche Parteien hatten auch die Liberalen in
der Weimarer Republik einen entscheidenden Anteil daran, den mentalen Boden
für den Nationalsozialismus zu bereiten. Bereits in den Weimarer Jahren
herrschte in Deutschland jene verkehrte Welt, die hierzulande noch immer
existiert: Die Linken vertraten Positionen, die zum Repertoire der Rechten
gehören; die Konservativen erhoben Forderungen, die weniger mit dem
traditionellen Programm des Konservativismus als mit den
nationalrevolutionären Vorstellungen der Nazis gemein hatten; und die
Liberalen der Deutschen Volkspartei (DVP) traten nicht wie ihre
angelsächsischen Glaubensgenossen für eine Zurückdrängung
des Staates, für ein Mehr an Bürgerrechten und die Rechte des
Einzelnen ein, sondern für das Gegenteil. Die DVP, so schrieb Fritz
Bieligk, in den 1940er Jahren Mitglied der antideutschen
Fight-For-Freedom-Gruppe, vor vielen Jahren, war zwischen 1918 und 1933
Exponent des aggressiven Nationalismus und hielt den Geist der Rache
aufrecht. Ihre Politik zielte durchweg auf die moralische, politische und
ökonomische Restauration des deutschen Militarismus, der deutschen
militärischen Macht und proklamierte die Einheit des deutschen Volkes von
der Linken` bis zur Rechten` im Kampf für Deutschlands
Freiheit`. Für Stresemann und die Deutsche Volkspartei war die
Deutsche Freiheit` ein Synonym dafür, dass Deutschland sich von
seinen feierlichen Zusicherungen, zur Reparation der Kriegsschäden
beizutragen, auf die Wiederherstellung seiner militärischen Macht zu
verzichten und die neue Regelung in Europa und die Souveränität aller
europäischen Nationen zu respektieren, zurückzieht. Dieser so
genannte Kampf für die Freiheit Deutschlands` unter der Führung
Stresemanns war daher seit 1923 ein kontinuierlicher Angriff auf den Frieden in
Europa, auch wenn Stresemann ihn als Politik der Verständigung`
deklarierte. Stresemanns größter Erfolg war der Vertrag von Locarno.
Durch diesen Vertrag wurde Deutschland wieder eine Weltmacht, und Deutschlands
Staatsmänner zögerten nicht, diesen Wandel der Position Deutschlands
einige der kleineren Staaten in der Welt sofort spüren zu lassen. Unter
dem Deckmantel des Vertrages von Locarno konnten die Vorbereitungen der
Aggressionen schneller vorangebracht werden. Heute wissen wir, dass das Tempo
der heimlichen militärischen und ökonomischen Wiederaufrüstung
Deutschlands in den Jahren 1924 bis 1929 nur noch unter von Papen und Hitler
übertroffen wurde. [...] Die Deutsche Volkspartei pflasterte den Weg zur
Diktatur in Deutschland. Sie trägt die volle Verantwortung für die
Zerstörung des wahren Liberalismus, der Freiheit, Gerechtigkeit und der
Würde des Menschen.(1)
Liberale Traditionspflege
Die entsprechenden Tendenzen bestanden unter veränderten
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach 1945 fort. Ebenso wie der
Nationalsozialismus die Differenzen zwischen den verschiedenen Klassen und
Schichten durch die Verschweißung zum großen Mordkollektiv zum
Verschwinden gebracht hatte, verschwanden nach 1945 auch die letzten
nennenswerten Unterschiede zwischen den politischen Parteien. Noch weitaus
stärker als in der Weimarer Republik und deutlich stärker als
in Ländern mit einer großen liberalen Tradition bildete sich
in der Bundesrepublik das heraus, was Johannes Agnoli als plurale Variante
einer Einheitspartei bezeichnete(2): Die Unterschiede zwischen den Parteien
reduzieren sich auf einige Differenzen in Detail-, Verfahrens- und
Kleidungsfragen; einmal vorhandene (durchaus begrüßenswerte)
Klientelpolitik die Arbeiterparteien vertreten die Interessen der
Arbeiterschaft, der Liberalismus das weltoffene Bürgertum usw.
verschwand zugunsten eines Eintretens für ein vermeintlich Großes
und Ganzes: für Deutschland respektive den Staat. Nicht nur die
Sozialdemokratie, von der aufgrund ihres traditionellen Staatsfetischismus` und
ihrer Obrigkeitshörigkeit ohnehin nichts anderes zu erwarten war, und der
Konservativismus, der stets nur konservieren kann, was einmal da war, kehrten
nach 1945 ihre miesesten, opportunistischsten und autoritärsten Potentiale
hervor, sondern auch der Liberalismus. Von der Vorstellung des Einzelnen, der
mit genügend Fleiß und Geschick zu seines Glückes Schmied
werden kann, blieb bei der liberalen Agitation gegen die Ökonomie des
Etatismus nur noch das Lob des blinden Schicksals.(3) In der Regel und mit
Ausnahme einiger Wirtschaftsfragen verwandelten sich die einstigen
Freunde des Nachtwächterstaates sogar in Propagandisten der
Staatsräson. Die unsichtbare Hand des Marktes wurde in der Vorstellung der
deutschen Liberalen durch die sichtbare und harte Hand des Staates ersetzt. Das
wurde nicht nur in Genschers Zeit als Bundesinnenminister deutlich, als der
Überwachungsstaat deutlich ausgebaut wurde und die Befugnisse der Polizei,
insbesondere des Bundeskriminalamtes, erweitert wurden. Die liberale
Staatsvergottung in anderen Ländern ein Paradox fand ihren
Ausdruck auch in einer der bekanntesten Initiativen Genschers vor der UNO: Auf
Initiative des inzwischen zum Außenminister der sozialliberalen Koalition
Ernannten nahm die UNO-Vollversammlung im Dezember 1976 eine
Anti-Terrorismus-Konvention an, in der festgeschrieben wurde, dass auf die
Forderungen von Geiselnehmern von staatlicher Seite auf keinen Fall einzugehen
ist. Warum nicht mit ihnen verhandelt werden sollte, daran ließen
Genscher und sein damaliger Vorgesetzter, Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD),
keinen Zweifel: Der Staat dürfe sich nicht erpressen lassen. Während
z.B. Israel selbst mit den widerwärtigsten Terroristen verhandelt, wenn
dadurch das Leben Einzelner gerettet werden kann, opferte die Bundesregierung
Menschenleben um der Staatsräson willen.(4) Ausgerechnet Genscher, ein
vermeintlicher Anhänger des Liberalismus, jener politischen Strömung,
die sich einmal Staatsferne, die freie Entfaltung des Einzelnen, seine
Selbstbestimmung und die Absicherung seiner Rechte auf ihre Fahnen geschrieben
hatte, war es, der das deutsche Vorgehen bei der Botschaftsbesetzung der RAF in
Stockholm nachträglich rechtfertigte. Dort starben die
Botschaftsangestellten Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaard nicht allein
aufgrund der Skrupellosigkeit der RAF. Sondern sie starben auch, weil das
Bundeskabinett jede Verhandlung mit den Terroristen verweigerte und Art. 1,
Abs. 1 des Grundgesetzes (Die Würde des Menschen ist unantastbar)
in schlechter alter Tradition in Die Würde des Staates ist
unantastbar verwandelte. Genscher war es, der mit seiner Initiative vor der
UNO einen Vorgeschmack auf das Handeln der Bundesregierung während des
Deutschen Herbstes gab, als die Bundesregierung ihren Kumpan Schleyer und den
Lufthansapiloten Jürgen Schumann der Staatsräson opferte und
dieses Vorgehen zum Maßstab der internationalen Politik machen wollte. Am
deutschen Wesen sollte wieder die Welt genesen.
Deutsch-Arabische Freundschaft
Obwohl Genschers Tätigkeit im Außenministerium aufgrund ihrer
Orientierung an internationalen Organisationen gelegentlich als Bruch mit den
bisherigen Prämissen der deutschen Außenpolitik gilt, brachen in ihr
in kodierter Form altbekannte Politikmuster durch. In keiner deutschen Partei
wurde und wird die traditionelle Verbundenheit zur islamischen Welt so intensiv
gepflegt wie in der FDP: Unter dem Personal der einschlägigen Vereine wie
der Deutsch-Arabischen Gesellschaft oder des noch von den Nazis
gegründeten Nah- und Mittelost-Vereins finden sich
überdurchschnittlich häufig Mitglieder der Freien Liberalen. Auch mit
der traditionellen Feindschaft gegenüber den Juden wurde unter blau-gelb
nicht gebrochen. Man richtete sich nun vielmehr in aktualisierter Form gegen
den jüdischen Staat. So entsandte etwa Genscher 1979 seinen Adlatus
Jürgen Möllemann zu Gesprächen mit dem damals noch international
isolierten Terroristen Jassir Arafat in den Libanon, was in Israel mit
erheblicher Verstimmung registriert wurde. Genscher, der 1972 als Innenminister
den Einsatz einer israelischen Spezialeinheit zur Befreiung der Geiseln in
München ablehnte, zögerte nach einer Flugzeugentführung wenige
Wochen später keine Sekunde, die drei festgenommenen
palästinensischen Terroristen freizulassen. Im Sommer 1984 war es dann
wiederum Genscher, der als erster westlicher Politiker seit der Islamischen
Revolution den Mullahs im Iran seine Aufwartung machte, was das Auswärtige
Amt ebenso wenig wie das FDP-geführte Wirtschaftsministerium daran
hinderte, Waffen und Giftgas im Wert vieler Millionen D-Mark an Saddam Husseins
Irak zu liefern.
Der Geist Joachim von Ribbentrops
Auch in anderer Hinsicht finden sich in Genschers Außenpolitik deutliche
Kontinuitäten zum einstmaligen Vorgehen der Wilhelmstraße.(5) Als nach
1989 innerhalb der jugoslawischen Föderation Konflikte ausbrachen,
knüpfte das deutsche Außenministerium an die Politik von Stresemann
bis Ribbentrop an und setzte auf dem Balkan auf eine ethnisch grundierte
nationale Selbstbestimmung. Gegen den Willen Amerikas, Großbritanniens,
Frankreichs und der Mehrheit der EG-Länder unterstützte Genscher die
Separationspläne der jugoslawischen Bundesstaaten. Während sich der
amerikanische Botschafter in Jugoslawien monatelang darum bemühte,
Kroatien und Slowenien von ihren Separationsplänen abzuhalten,
drängte die deutsche Regierung hinter den Kulissen in die entgegen
gesetzte Richtung. Sie ermutigte Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina,
die Föderation zu verlassen. Im Frühjahr 1991 hatten etwa zwischen
kroatischen und serbischen Milizen wilde Feuergefechte stattgefunden, bei denen
freilich niemand verletzt wurde, weil beide Seiten nur wütend und
verzweifelt in die Luft feuerten. Die Hemmungen gingen erst verloren, als
Deutschland der kroatischen Seite Verständnis für ihre Forderungen
signalisierte und für den Ernstfall völkerrechtliche Anerkennung,
militärischen Beistand, EG-Mitgliedschaft und D-Mark-Kredite versprach.
Durch das deutsche Vorpreschen bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens
wurde sowohl der Zerfall Jugoslawiens als auch der mörderische
Bürgerkrieg auf dem Balkan forciert, den die anderen EG-Staaten und
Amerika durch ihre Kritik der slowenischen, kroatischen und bosnischen
Separationsbestrebungen zu verhindern versuchten. Vor allem aber rückten
in Genschers Balkanoffensive der Jahre 1991/92, wie von der unsichtbaren Hand
Joachim von Ribbentrops geführt, auch die alten Zwillingsgeschwister
Deutschland und Österreich wieder gegen Serbien, den alten gemeinsamen
Feind aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, zusammen. Als Bündnispartner
fungierten, als wäre die Uhr um 50 Jahre zurückgedreht worden, erneut
die alten Waffenbrüder, Verbündeten und Hilfsvölker aus dem
Balkanfeldzug der Jahre 1941 ff.: Kroatien und Bosnien.
Genscher und Kermit
Wenn die Gäste der großen Genscher-Gala in der Händelhalle das
alles weder zur Empörung noch zur Rechtfertigung treibt, dann kann
vermutet werden, dass sie bei dieser Veranstaltung weder aus großen
Sympathien für Hans Dietrich Genscher noch wegen besonderer Zuneigung zur
FDP erschienen sind. Sondern sie dürften einfach nur an diesem Event
teilnehmen, weil endlich einmal jemand in Halle gefeiert wird, der nicht nur
(wie z.B. Genschers Ehrenmitbürger Peter Sodann) im Sendegebiet des MDR
bekannt ist. Sie würden in ihrer großen Mehrheit vermutlich auch zu
Kermit dem Frosch und Miss Piggy gehen. Damit stehen sie nicht nur für die
traditionelle Provinzialität dieser Stadt, sondern sie bestätigen
zugleich das alte Sprichwort: In Halle werden die Dummen nicht alle.
AG no tears for krauts Halle, März 2012